Fototermin

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Rebecca Ramon

Das Fest neigte sich dem Ende zu; die meisten Gäste waren schon gegangen. Aus dem Garten des großen Bauernhauses, das er mit drei Freunden bewohnte, drang noch Gelächter ins Haus. Die Tanzfläche in der ehemaligen Tenne war verwaist; irgend jemand hatte Jazz aufgelegt. Oscar Petersons Klavierspiel perlte durch die Räume, die noch immer von der Sommerhitze glühten. Es war schon seit zehn Tagen so heiß, dass Fenster und Türen Tag und Nacht geöffnet waren.
Schon von der Diele sah er Agnes in seinem Zimmer. Sie studierte Pädagogik mit einem seiner Mitbewohner. Er kannte sie nur flüchtig - sie waren sich ein paar Mal im Café der nahe gelegenen Kleinstadt und am Baggersee begegnet - aber er hatte sie gleich an ihren dunkelbraunen Locken erkannt.
Sie stand mit dem Rücken zur Tür und betrachtete die Aktfotos, die an der Wand hingen. Er hatte die Serie im Jahr zuvor aufgenommen, als er mit Schwarz-Weiß-Fotografie experimentierte. Er blieb im Türrahmen stehen und sah ihr eine Weile zu, wie sie die Bilder studierte.
Schließlich bemerkte sie ihn. Die meisten Frauen fühlten sich ertappt, wenn man sie beim Betrachten von Aktfotos erwischte. Agnes jedoch nicht. "Deine Fotos gefallen mir," sagte sie ganz selbstverständlich. "Ist das Deine Freundin?"
"Nein, ein Modell." Er überhörte das Kompliment. "Mein Galerist hat sie mir vermittelt. Die Bilder gehören zu einer Serie. Willst Du auch die anderen sehen?"
Sie hatte sich wieder den Fotos zugewandt und nickte.
"Sie liegen in der Mappe dort auf dem kleinen Tisch." Sie trat an den Tisch und schlug die Mappe auf. Von der Tür her konnte er ihr Profil sehen. Ihre Stupsnase und viele Sommersprossen gaben ihrem Gesicht einen etwas kessen Ausdruck, der aber verschwand, wenn sie sich auf etwas konzentrierte.
Er betrachtete ihre Figur, die in dem fließenden, dünnen Sommerkleid gut zur Geltung kam. Sie hatte lange Beine, von denen allerdings nur die festen und goldbraunen Unterschenkel zu sehen waren. Komisch, dass er Agnes bislang kaum beachtet hatte.

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