Es war still in Karls Elternhaus. Jeden Sommer kam er an die Stätte seiner Kindheit zurück, verbrachte hier ganze drei Wochen mit seinem Vater und seiner jüngeren Schwester Liesel. Karl war 25 Jahre alt, Medizinstudent in Leipzig, und freute sich nun über etwaige Zerstreuung auf dem Anwesen des Vaters, fernab des faden Universitätsalltags. Das Wetter war herrlich an jenem Tag. Der 12 Juli 1895 zeigte sich von seiner besten Seite – mit warmer Luft und einem wolkenlosen Himmel. Karls alter Herr war in der Stadt, um Besorgungen zu erledigen und außer Karl selbst waren nur seine 18 jährige Schwester, sowie deren Gouvernante zuhause. Fräulein Luise war eine hübsche Frau, Anfang der Dreißig, die der Vater erst vor kurzem zum Zwecke der Erziehung der Tochter eingestellt hatte. Die Mutter der Geschwister lebte nicht mehr, war schon vor Jahren der Schwindsucht zum Opfer gefallen. Seither kümmerten sich verschiedene Damen um Liesel, die aber alle nach kurzer Zeit das Handtuch warfen. Seine liebreizende Schwester war mit einer besonderen Sturheit gesegnet, gegen die kein Kraut gewachsen schien. Karl legte das Fachbuch zur Seite und beschloss nach Liesel zu sehen. Ihm war fad. Vielleicht konnte er sie überreden, mit ihm durch den nahe gelegenen, kleinen Wald zu schlendern. Als er an ihrer Zimmertüre angelangt war, hörte er aufgeregtes Stimmgewirr. Neugierig, welchen Disput Liesel und das Fräulein wohl ausfochten, schob er eine Gardine, die als Sichtschutz diente beiseite, um so einen Blick in das Zimmer werfen zu können. Nun konnte er das aufgeregte Treiben im Innern des Zimmers genau studieren. Die Szene, die sich ihm nun bot, brannte sich in sein Gedächtnis ein.
Er sah seine Schwester mit rosigen Wangen, die Augen gen Boden gerichtet. Ihr gegenüber stehend die Gouvernante, deren Gesicht zorngerötet war. Ihr entschlossener Blick ruhte fest auf Liesel.
„Ich habe jetzt wirklich genug von Deinen Ausreden! Du hast wieder nicht getan, was ich Dir aufgetragen habe und weißt genau, was nun auf Dich zu kommt. Ich habe Dich lange genug gewarnt, aber Du willst ja nicht auf mich hören. Jetzt bekommst Du die Quittung für Dein Verhalten!“
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