Fußballfieber

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Fußballfieber

Fußballfieber

Yupag Chinasky

Er liebte Fußball, von ganzem Herzen und aus ganzer Seele. Nicht, dass er selber spielen würde, nein, das hatte er noch nie gemacht oder dass er in ein Stadion oder auf einen Fußballplatz gehen würde, das war viel zu aufwändig. Ihm reichte ein Premiere- und ein Kickerabo, um seiner Leidenschaft nachzugehen. Die Übertragungen von Bundesliga, UEFA-Pokal oder Championsleague waren heilig und am allerheiligsten waren Welt- und Europameisterschaften. Er setze sich in seinen bequemen Sessel, vor sich den großen Flachbildschirm und neben sich eine Batterie Bierdosen, billige Sorten von Aldi, irgendwo musste ja gespart werden. Bier war wichtig, um Tore und Siege zu feiern und Niederlagen zu betrauern, da kamen dann pro Tag schon einige Dosen zusammen. Er war Experte, einsam und Spitze. Er kannte die Aufstellung der Nationalmannschaft von Färöer genauso wie den aktuellen Tabellenplatz von Kleinkleckersdorf in der C-Klasse oder die aktuelle Form von, sagen wir mal Poldi und Schweini. Wenn keine direkten Übertragungen stattfanden, griff er auf sein wohl sortiertes Viedeoarchiv unvergesslicher Spiele zurück oder las in den gesammelten Ausgaben des Kickers. Er war auch ohne Geldverdienarbeit voll beschäftigt, er liebte dieses Leben, ihm war nie langweilig.

Das konnte man von ihr nicht sagen. Sie hatte keine Ahnung von Fußball und keine Lust, die Ahnung zu verbessern. Sie kannten sich zwar schon länger, aber sie war erst kürzlich zu ihm gezogen, weil sie ihre Stelle verloren hatte und ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte. Sie mochte ihn ganz gern, er konnte charmant und nett sein, wenn ihn nicht sein Fußballfimmel beherrschte. Aber wehe sie störte ihn „bei seiner Arbeit“, dann wurde er verbiestert und grantig. Wenn sie versuchte, ihn durch Worte und Werke abzulenken, wurde er ungehalten und fuchsteufelswild. Wenn sie Anlehnung suchte, reagierte er ablehnend und wenn ihr, wie so oft, nach schmusen oder kuscheln zu Mute war, wollte er in Ruhe glotzen. Nur wenn er durch einen blendenden Sieg in Euphorie geriet, ging er auch auf ihre Wünsche ein, ansonsten galt für ihn die Devise „kurz Liebe machen und sich dann wieder den wichtigen Dingen zuwenden“. Dieses einseitige Verhalten hatte sie nicht erwartet, sie war enttäuscht und frustriert und sie sagte ihm, dass sie sich total etwas anderes vorgestellt hätte als einen Mann, der immer nur Fußball glotzte. Weil sie keine Arbeit, keine Hobbys, keine Ideen und auch sonst nichts zu tun hatte, war ihr meistens langweilig. Zu allem Kummer hatte auch noch ihre beste Freundin geheiratet und war verzogen. Am schönsten für ihn und am schlimmsten für sie war die Europameisterschaft, die gerade stattfand. Jeden Tag wurde ein Spiel übertragen und die Sender blähten die Fußballzeit mit sinnlosen Vor- und Rückblicken oder schwachsinnigen Expertendiskussionen auf eine fast schon unanständige Weise aus. Fußball jeden Tag und wenn Verlängerungen und Elfmeterschießen angesagt waren, bis spät in die Nacht. Für ihn der Himmel, für sie die Hölle.

Wenn sie das Gejohle aus der Glotze nicht mehr hören konnte, ging sie auf den Balkon. Sie blickte dann auf einige Hochhäuser und das, was sie dort hinter den Fenstern und auf den Balkonen beobachten konnte, war interessanter als jedes Fernsehprogramm. Sie hatte sich extra ein kleines Fernglas gekauft und Balkongucken war ihr liebster Zeitvertreib geworden. Aber jetzt bei der EM sah sie nur Flaggen von den Balkonen hängen und flimmernde Mattscheiben im Wohnzimmer. Das Angebot an Ablenkung an den hellen, lauen Sommerabenden war sehr reduziert. Auf dem Balkon eines der Nachbarhäuser sah sie schon beim ersten Vorrundenspiel einen jungen Mann, der anscheinend auch keinen Bock auf Fußball hatte. Während aus den anderen Wohnungen die selben, synchronen Jubel- oder Schmerzensschreie drangen, saß er da und las ein Buch. Er schien allein zu sein, sie sah keinen anderen Menschen in seiner Wohnung. Weil sie ganz gut aussah und ihr Aussehen auch gut zur Geltung bringen konnte, weil sie oft und lang auf ihrem Balkon stand und weil sie sehr intensiv, ja fast sehnsüchtig zu dem jungen Mann hinüberblickte, blieb es nicht aus, dass sie erst seine Aufmerksamkeit und dann sein Interesse erregte. Für einen verbalen Austausch war die Entfernung zu groß, aber beide waren erfinderisch. Durch Zeichen und Gesten kam eine Verständigung zustande. Zur Begrüßung winkten sie, dann gab es ein paar pantomimische Einlagen, dann stellten sie fest, wie lange das Spiel noch gehen und sie auf dem Balkon bleiben könne und beim Abschied gaben sie sich das Versprechen, am nächsten Abend wieder zu kommen. Beim letzten Vorrundenspiel leckte er an einem imaginären Eis. Sie missverstand die Geste zunächst sehr gründlich, dabei versuchte er nur, ihr klarzumachen, dass er sie in der nahegelegenen Eisdiele treffen wollte. Als sie das beim besten Willen nicht kapierte, ging er in seine Wohnung und kam mit einem Zeichenkarton wieder, darauf stand „in 10 min im Venezia“.

Sie nickte heftig und sagte ihrem Freund, dass sie bis zum Spielende ausgehen wolle, weil der dauernde Fußball sie „echt total nerven“ würde. Sie fürchtete ein bisschen, das er ihr das rundweg verbieten würde, so wie manches andere, aber er war richtig froh, weil er so mehr Ruhe hatte und ihrem Genörgel nicht mehr ausgesetzt war. Er willigte sofort ein und gab ihr sogar ein paar Euro. Die Abende in der Eisdiele waren zu schön, der Nachbar war zu nett und, wie sie meinte „ total und unbedingt seelenverwandt“. Sie begann die Viertel- und Halbfinale zu lieben und war traurig, als sie daran dachte, dass mit dem Finale alles vorbei sei. Daher fasste sie sich ein Herz und fragte ihn beim zweiten Halbfinale, ob er sie möge und ob sie zu ihm ziehen könne. Es war wie im Märchen, er hatte sich in sie verliebt und sagte ja.

Noch vor Ende des Endspiels ging sie nach hause. Deutschland führte sehr lange, dann fiel der Ausgleich und es kam zur Verlängerung und dann zum Elfmeterschießen. Er saß fiebernd vor dem Fernseher, die Spannung hatte ihn voll vereinnahmt. Sie betrat die Wohnung, ohne dass er es merkte, sie packte ihre paar Sachen in einen Koffer, ohne dass ihm das sonderlich auffiel und sie ging aus der Wohnung und er merkte wieder nichts. Sie ging, ohne ein Wort, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Deutschland verlor und er brauchte noch ein paar Bier, um über den Schock hinweg zu kommen. Dann legte er sich zutiefst deprimiert in sein Bett, um seinen Frust zu vergessen und seinen Rausch auszuschlafen. Erst als er am nächsten Morgen mit einem mächtigen Kater aufwachte, stellte er fest, dass sie nicht mehr da war, dass sie ihn verlassen hatte. Er war sehr traurig und bedauerte im Nachhinein sein Verhalten, aber es war zu spät.

Als er sich an einem der folgenden, nun fußballfreien Tage auf seinen Balkon setzte und die Nachbarschaft beobachtete, sah er sie. Sie stand auf einem Balkon und schaute auf einen jungen Mann, der auf einem Stuhl saß und ein Buch las. Erst wollte er schreien und winken, dann beschloss er, zunächst einmal abzuwarten und zu beobachteten. Er sah, wie sie im Laufe der Zeit immer ärgerlicher und dann richtig wütend wurde. Ihm war klar, dass sie sich langweilte und er wusste, dass sie sich etwas anderes vorgestellt hatte, als einen Mann, der immer nur Bücher las und neue Hoffnung keimte in ihm auf.

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