Ganz natürlich

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Ganz natürlich

Ganz natürlich

Marian Fanez

Irgendwo, in einem fremden, unbekannten Land, fern von allen Menschen, soll eine schöne und gütige Königin leben. Da, wo der Wald am dichtesten ist, weit ab von allen Wegen, liegt ihr zauberhaftes Reich. Sie herrscht dort über alles Leben. Der wilde Bär frisst zahm ihr aus der Hand und wärmt sie mit seinem weichen Fell wenn mit der Dämmerung die Kühle der Nacht den Wald durchdringt. Eichhörnchen suchen Nüsse ihr, Vögel fliegen aus nach Beeren und Früchten, und sogar die mächtigen Eichen beugen sich, um sie mit schattigen Zweigen vor großer Hitze so gut als wie vor Regen zu schützen.

Am Tage führen Gruppen von Libellen und Schmetterlingen in ihrer schönsten Pracht zauberhafte Tänze vor ihr auf, ein ganzes Orchester von Vögeln, Fröschen und anderen musikalischen Tieren sucht ihr mit immer neuen Kompositionen auf?s Herzlichste zu gefallen. Am Abend singen Grillen sie behutsam in den Schlaf. Und wenn sie dann schläft, schweigt der Wald, um ihren Schlummer nicht zu stören. Des Tages lehnt sie auf einem Thron aus dunklem, weichen Moos, teilweise verdeckt von einem breiten Fluss goldenen Haares, von dem die Sonne in hellem Glanze wiederstrahlt. Ihr Haupt ziert eine Krone aus weißen Rosen, auch das Kleid ist geschmückt mit den schönsten Blüten, und auf der Lehne ihres Thrones ruht ihre kleine, zarte Hand, deren weiße Haut wie ein helles Leuchten auf dem dunklen Grün des Mooses liegt. Ihr Gesicht ist wie ein Tag voll Sonne und ihr Mund trägt ein Lächeln, das alles um sie her verzaubert.

Doch wie der Wald im Sonnenschein auch finstre Schatten wirft, in denen sich aus List und Furcht so manch Getier verbirgt, so hat ihr liebes Angesicht, von Schönheit so helle strahlend, ein dunkles Augenpaar, in denen Wolken, Blitz und Wind und Fuchs und Wolf lebendig sind.

Und wehe dem Wanderer, der sich in diesen Wald verirrt. Sobald er die Königin erblickt, schwindet all sein Hoffen, all seine Wünsche, seine Träume, alles was ihm einst Glück und Freude war, was er als seinen größten Schatz im Herzen trug, es schrumpft und verblasst durch die Macht der Königin, und er lebt nur durch ihr Lächeln, zehrt Nahrung nur aus ihrem Anblick, verschmachtet, verträumt und vergeht.

"Klapp!" Er schlug das Buch zusammen und starrte noch eine Weile auf den braunen, mit goldenen Schnörkeln verzierten Ledereinband.

Er stellte sich die Königin vor, ihre Gestalt, ihr Gesicht, wie sie geht und wie sie lacht. Er meint zu spüren, wie ihre Finger zart über das flaumige Fell eines Rehes gleiten, wie sich der weichbemooste Boden dem leichten Druck ihrer Füße anpasst. Er sieht, wie sie im hellen Sonnenlicht über eine bunt erblühte Wiese geht und das hohe Gras ihr dabei zärtlich um die nackten Beine streicht oder wie sie den süßen Duft einer Rose einsaugt und die roten Blätter dabei sanft ihre Lippen berühren.

Und so zog Bild um Bild an ihm vorüber, träumerisch, schwärmerisch, eins bezaubernder als das andere, so dass er erst gar nicht merkte, wie draußen der Tag zu Ende ging und es in seinem Zimmer langsam immer dunkler wurde.

Er dachte an Vera. Natürlich ist sie keine Waldkönigin! Sie ist eigentlich nichts Besonderes, eher unscheinbar. Und doch spürt er, wie sie langsam sein ganzes Wesen durchdringt, wie sie immer mehr sein Denken und Handeln bestimmt. Sie schleicht sich in seine Träume, ja lässt Träume erst wachsen, mitten in den Alltag hinein. Wenn er über seinen Berechnungen sitzt und brütet, springt sie plötzlich hinter einer Wurzel hervor und tanzt auf den Zahlen. Oder manchmal, beim Zeitunglesen, verschwimmen mit einem Mal die Buchstaben vor seinen Augen und formieren sich zu einer feenhaften Gestalt, die ihn mit lachenden Augen anblickt. Er weiß nicht, weshalb sie ihn so beeindruckt. Wenn sie ihn ansieht, ist ihm, als ob ein heller Lichtschein in seine Seele fällt, der alle Schatten überstrahlt. Alles ist ihm dann Grund zur Freude, ja selbst die unscheinbarsten Dinge bekommen einen fühlbaren Wert für ihn, wenn sie durch ihr Lächeln verschönert werden.

Hier wurde er in seinen Gedanken gestört durch den brenzligen Geruch verbrannten Fleisches, der ätzend aus der Küche drang. Er hastete zum Herd. Das Schnitzel war schwarz.

Bald saß er wieder in seinem bequemen Ohrensessel und stellte sich das Treffen mit Vera im Cafegarten vor, in dem er mit ihr für später verabredet war.

Sie sitzt an einem weiß gedeckten Tisch, auf dem eine rotgoldene Chinavase mit gelben Narzissen steht. Den Hintergrund bildet eine mit rosa Rosen bewachsene Wand, die Luft ist sommerwarm und schwer vom Duft der Blüten. Sie wartet auf ihn, die Beine übereinandergeschlagen wippt ihm ihr rotweißer Turnschuh locker entgegen. Die Arme angewinkelt sitzt sie etwas schräg zurückgelehnt auf einer weißen Bank, ein paar Strähnen ihres langen schwarzen Haares haben sich über die Schulter nach vorne verirrt, wo sie schimmernd auf dem hellroten Stoff ihres T-Shirts glänzen, ganz wie vor zwei Wochen, als sie sich in der Kantine vor ihn setzte und ihren Erdbeer-Quark gegen seinen Kirsch tauschen wollte.

Sie schaut ihn an und aus ihren Augen lacht eine freundliche Seele. Und er spürt einen Druck in seiner Brust, einen trockenen Mund und Schweiß an den Händen und hat das Gefühl, wenn sie jetzt mit dem ihr eigenen Schwung von der Bank hüpft, gerade auf ihn zu geht, ihn dabei immer lächelnd ansieht, an ihn herantritt, ganz nah, die Hände auf seine Schultern legt, sich dann noch langsam zu ihm neigt, bis er ihren Atem über die brennende Haut seiner Wangen hauchen fühlt, dann wird ihm sein Herz

einfach zerplatzen.

Er sah auf das trockene Brot in seiner Hand, mit dem er mehr spielte, als dass er es aß. Es war ja auch schon zu alt. Gemächlich schlenderte er zum Plattenspieler und legte einen jener unendlich schönen, langsam schwebenden Sätze Mozarts auf. Und bald hatte er das Gefühl, als hätte sein Herz ein kleines Loch. Und durch dieses Loch strömten sämtliche Töne hinein, und obwohl eigentlich gar kein Platz mehr war, zwängten sich doch immer mehr und mehr Töne hinein, bis sein Herz schließlich größer und größer und größer wurde. Die Platte drehte sich und drehte sich und drehte sich und seine Gedanken kreisten und kreisten hinter seinen geschlossenen Augen.

Und er sieht Vera!

Und er ist leidenschaftlich:

"Vera! Komm! Komm zu mir, lass mich die Wärme deines Blutes spüren, mein Herz daran noch heftiger erglühen! Vera, ich verbrenne mich nach dir! Ich schlafe nicht, esse nicht, denke nicht mehr. Kennst du das? Kennst du diese bohrende, drückende, würgende Leidenschaft, die wachsend und wachsend und immer mächtiger drängend aus dem Innern heraufbrüllt und haltlos allen Verstand mit sich fortreißt? Weißt du, dass ich mir in Gedanken an dich die Hände an den Wänden blutig schlage? Dass ich mit gierigen Zähnen das Gras ausreiße, auf das du den Fuß gesetzt? Dass ich...?" - "Daprrrt, daprrrt, daprrt,..."

Er ging zum Plattenspieler und stieß den Tonarm ein paar Rillen weiter.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. "Hm -So ein Unsinn - Phh - Ich werde einfach ins Cafe geh?n und ganz normal sein." So zog er seinen schweren grauen Mantel über und trat vor die Tür, wo die Nacht ein wolkiges Dunkel über den Häusern ausgeschüttet hatte, durch das ganz schwach, in weiter, weiter Ferne ein paar einzelne, matt glänzende Sterne hindurchschimmerten. "Ich werde ganz locker sein. Einfach ganz natürlich."

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