Die Gazelle und der Kaugummi

Ich erwisch sie, ganz bestimmt. Die blonde Gazelle mit den scheuen Sandaletten. Seit Wochen geht sie immer auf den gleichen Bus wie ich. Sie steht an der Haltestelle und wartet wie ein geparkter Engel. Mal hat sie schwarze, mal weisse, mal rote und auch schon goldene Sandaletten an den Füsschen. Immer mit Knöchelriemchen. Und die Schühchen zittern immer so wie kleine Hundchen. Sie steht auf hohen Heels. Vielleicht kommt daher das scheue Zittern. Ich weiss es nicht. Wenn der Bus da ist, trippelt sie zaghaft zum Einstieg. Zuerst mit der rechten, dann mit der linken Sandalette betritt sie die Plattform. Dann trippelt sie ganz nach hinten in dem Bus und setzt sich. Ich schaue verstohlen hin. Ihre Schühchen zittern immer noch wie Schosshundchen. Woher kommt das? Sie muss ja nicht mehr mit den Fersen auf den hohen Heels balancieren. Ich weiss es nicht. Jedenfalls geben mir diese Schühchen, dieses Zittern und die kessen roten Nägel an den Zehen den Kick für den Tag. Ich mahle mit meinen Kiefern beruhigt weiter, weil der Tag geritzt ist. Ich bin ein Kaugummifreak. Hab immer so ein Stück Knete zwischen den Zähnen. Jetzt steh ich wieder an der Bushaltestelle und der blonde Engel ist auch schon geparkt. Heute zittern die Füsschen in weissen Riemchensandaletten. Ich erwisch sie, denk ich mir. Trete an den Bordstein und lasse diskret den Kaugummi aus meinem Mund auf den Asphalt gleiten. Heute tritt sie drauf, bevor sie in den Bus einsteigt, denk ich mir und schieb den nächsten Gummi zwischen die Zähne. Heute klappt 's. Der Bus kommt, der geparkte Engel wird munter, trippelt zum Einstieg... und wieder trifft die Sandalette daneben, nur um wenige Zentimeter. Schade. Würde so gerne sehen, was passiert, wenn die Sandalette von der blonden Gazelle trifft. Vielleicht morgen. Ich steh wieder an der Bushaltestelle. Die Gazelle geht gerade in Parkposition, der Bus fährt ran, ich habe Stress, muss schnell zur Bordkante, den Kaugummi raus auf den Asphalt lassen. Schwitz, ich hab 's geschafft. Die Gazelle trippelt zum Einstieg. Ich lass ihr den Vortritt und... mir fährt ein kalt-heisser Schauer den Rücken hinunter. Die Sandalette der Gazelle, die goldene, trifft. Ganz leise macht es "flutsch". Die Gazelle macht "huch". Sie trippelt nach hinten im Bus. Aber es ist nicht so wie sonst. Die rechte Sandalette zieht sie nach, wie ein verwsundetes Reh seinen Lauf. Und wie das klebt. Grandios! Sie setzt sich auf den hintersten Sitz und atmet tief. Ich hör 's und freu mich auf das was kommt. Nun reibt sie die rechte Sandalette am Boden. Immer heftiger. Fetzen meiner weissen Knete lösen sich allmählich von der Sohle. Das Zitterfüsschen reibt immer aggressiver. Herrlich! In solchen Situationen stell ich vom Kaugummifreak ganz auf Gentleman um. Ich schlucke meine Knete diskret hinunter und begebe mich gefasst zu der Gazelle. - "Ich habe Ihr Problem erkannt, meine Dame", sage ich, zieh mein gebügeltes Taschentuch hervor und fahre fort: "Darf ich?" Ohne die Antwort abzuwarten, geh ich leicht in die Hocke, ergreife mit Respekt ihren rechten Fuss und poliere die Sohle ihrer goldenen Sandalette blank. Die Dame dankt 's mir mit befreitem Lächeln und bedauert mit süsser Stimme: "Nun ist aber ihr Taschentuch hin." - "Sei ein Samariter, wenn du Mitmenschen in Not siehst", erwidere ich trocken. Sie fährt süss weiter: "Darf ich mich mit einem Kaffee bedanken, Sie steigen doch auch am Bahnhof aus?" - "Ja, gewiss. Es ist mir eine Ehre." Ich bin gespannt, was sich nach dem Kaffee noch alles entwickeln wird und ob ich je erfahre, warum die Füsschen der Dame in den Sandaletten immer so scheu zittern.