Genug Karin für alle

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Genug Karin für alle

Genug Karin für alle

Anita Isiris

Sie sind häufiger anzutreffen als man denkt, diese speziellen, durch Zufall konfigurierten Wohnsituationen in den Blocks dieser Welt. Familienwohnungen, klar. Zwei Familien, die sich gegenüber wohnen – mit gleichaltrigen Kindern – verstehen sich zwangsläufig sofort. Man leiht sich das eine oder andere aus oder... „ach, Christine, ich bin mal eben weg zum Einkaufen. Könntest du in dieser Zeit ein Auge auf Klein-Claudia werfen? Sei so lieb ja?“

Es gibt aber auch andere Konfigurationen wie die am Burgsteinweg 18 in W. Der Wohnblock verfügte über drei Etagen – mit unterschiedlich solide restaurierten Wohnungen. Beginnen wir im Erdgeschoss. Dort wohnte Shiram, ein Tamile. Er ist vor Jahren nach W. gezogen, hat kaum etwas verdient, aber exzellent gekocht. Seine grösste Sorge bestand darin, dass der alles durchdringende Curryduft in seiner Wohnung das Treppenhaus erreichen könnte. Er wollte keineswegs auffallen in dieser unauffälligen Gegend. Aber noch das war besser als seine Lehmhütte in Assam, deren Dach alle drei Wochen neu hatte gerichtet werden müssen. Klar plagte ihn das schlechte Gewissen seiner Frau und den sechs Kindern gegenüber, die er hatte zurücklassen müssen. Sechs Töchter – die Aussteuer wäre für ihn ohnehin unbezahlbar gewesen, sollten seine Kinder dereinst heiraten. Also besser gleich abhauen.

Shiram.

Tür an Tür mit Shiram wohnte Charles, ein Mittsiebziger, dessen Leidenschaft die Gartenarbeit war. Er tat nichts lieber als dem Unkraut zu Leibe zu rücken, regelmässig auftauchende Regenwürmer sorgfältig zu fassen und sie andernorts wieder einzugraben. Charles war Animist. Alles Belebte flösste ihm ungeheuren Respekt ein, und er litt darunter, dass im Grunde kein Mensch leben kann, ohne gleichzeitig zu töten... sei es auch indirekt, indem er Wespen, Würmern und Fruchtfliegen die Äpfel weg ass. Seine Wohnung war praktisch leer – den Gedanken, dass Bäume, aus denen Tischplatten gesägt wurden, einst für ein Tier Heimat bedeutet haben könnten, ertrug er nicht.

Charles.

Im ersten Geschoss wohnten Nina und Seb, ein frisch verliebtes Paar, denn nur frisch Verliebte ertrugen die räumlich beengte Wohnung, die sich die beiden teilten. Weil das Haus sehr hellhörig war, liessen die beiden den gesamten Wohnblock an ihren Streitereien, ihren allabendlichen Disney + Filmen und ihrem Liebesleben teilhaben. Speziell Nina war sehr laut, wenn sie kam, und sie kam oft mehrmals. „Multiple Orgasmen“, ging ihrem analytisch veranlagten Nachbarn, Rolf, dem Chemiker, durch den Kopf – aber zu Rolf kommen wir später. Nina trug oftmals crèmefarbene Plissée-Röcke und weisse Blusen, was ihrem Beruf geschuldet war. Mit ihren silbernen Haarspangen wirkte sie wie eine tief religiöse Frau, und es rührte ans Herz, sie sich nackt, mit bebenden Brüsten und auf dem Kissen ausgebreitetem Haar vorzustellen – Seb tief in ihr drin. Nina, die Keuchende. Nina, die Betende. Nina, das Mysterium. So notierte es sich Rolf, der Chemiker, denn er war ein akribischer Tagebuchschreiber und Chroniker.

Nina und Seb.

Zu Rolf gab es nicht viel zu sagen. Er arbeitete meist bis tief in die Nacht, kam nach Hause, zischte sich ein Bier und recherchierte bis weit nach Mitternacht – wenn er nicht gerade seine Tagebücher erweiterte. Rolf war einsam wie der Tod, aber die Chemie erleuchtete sein Herz. Rolf lebte fürs Periodensystem und fürs Orbitalmodell, das allerdings auf dem besten Weg war, durch neuere Erkenntnisse überholt zu werden.

Rolf.

Zwei Etagen über dem Erdgeschoss, also in Etage Nummer drei, stand die eine Wohnung leer, weil deren Mieter vor wenigen Wochen verstorben war. Wäre Karin, die Nachbarin, nicht gewesen, Silberhering wäre, weiss Gott, noch immer am Verwesen. Silberhering, wie ihn alle nannten, hatte keine Aussenkontakte. Karin nannte er liebevoll „meine Enkelin“, und alle wussten, dass er nie eine echte Enkelin gehabt hatte, geschweige denn, Kinder, geschweige denn, eine Frau. Sein Name war seinem wirr abstehenden, silbern glänzenden Haar zu verdanken, und sicher auch dem Kastanienshampoo, das ihm Karin alle paar Monate kaufte.

Silberhering.

Nun, zu guter Letzt, zu Karin. Sie lebte in einer komplett übermöblierten Wohnung, weil sie einen Teil ihres Mädchenzimmers aus der Villa ihrer Eltern hatte mitgehen lassen. Den Rest hatte sie dazu gekauft – etwa eine dekorative Glasvitrine, der allerdings der Deko-Charakter im allgemeinen Chaos von Karins Wohnung vollkommen abging. Karin fühlte sich pudelinnenwohl, und zur Ablenkung von ihrer täglichen Arbeit an einem Auskunftsschalter diente ihr ein Staubwedel, mit dem sie Abend für Abend mindestens eine halbe Stunde lang zugange war. Trotz der vielen Möbel war Karins Behausung ausgesprochen gepflegt – sie führte bei weitem den am sorgfältigsten geführten Haushalt im gesamten Wohnblock.

Karin hatte ein Herz aus reinem Gold. Sie hatte zwar einen Freund, der ganz in der Nähe lebte, aber ihre Seele gehörte genauso den Männern in ihrem Haus – und eine Zeitlang auch Nina, wenn diese bloss nicht so eifersüchtig gewesen wäre. Weil die vielen Möbel Karins Wohnung etwas dunkel erscheinen liessen, verzichtete sie auf Vorhänge – auch im Schlafzimmer. „Ach, zweites Geschoss“, dachte sie leichthin, nicht ahnend, dass Shiram und Charles sich ein Fernrohr teilten und Abend für Abend dabei zusahen, wie Karin, die Nachbarin mit dem goldenen Herzen, in ihr Nachthemd schlüpfte.

Karin. Karin mit dem goldenen Herzen.

Nach Silberherings Tod begab es sich, dass die Nachbarn am Burgsteinweg 18 ein wenig näher zusammenrückten. Waren sie bisher, knapp sich grüssend, im Treppenhaus aneinander vorbei gegangen, dauerte der Small Talk nun etwas länger – niemand, kein Mensch ertrug Einsamkeit allzu lange. So bot sich Karin mit dem goldenen Herzen geradezu an. Sie liess sich zu Tee und Kuchen einladen, etwa von Rolf, dem menschenscheuen Chemiker. Oder es gab Currysuppe bei Shiram, dem Tamilen. Klingelte die ahnungslose Karin an seiner Haustür, konnte er nur an das Eine denken. Er, der wirtschaftlich und sozial kaum Boden unter den Füssen hatte, sehnte sich nach nichts stärker als nach einer Frau – im Wissen, dass dieser Wunsch bloss Kopfkino bleiben konnte. Shiram war ja in Assam verheiratet, und eine Annäherung an Karin hätte sein ohnehin rabenschwarzes Gewissen nur noch schwärzer werden lassen.

So begnügte er sich etwa damit, Karin zum WM-Finale in seine Wohnung einzuladen, Karin, die sich noch nie etwas aus Fussball gemacht hatte. Aber sie hatte ein goldenes Herz und liess sich darauf ein, auf Shirams fleckigem Sofa die WM über sich ergehen zu lassen. Bloss den Reisschnaps musste Shiram allein trinken – Karin bevorzugte indischen Tee. Aber für Shiram war alles an ihr Liebe, Verführung, Zärtlichkeit. Karins zarte Venen, die durch ihren Handrücken hindurch schimmerten. Karins schwarzes Top, in dem sie sich eigentlich niemandem zeigte. Aber Shirams Wohnung war überheizt, in einem komplett gegenläufigen Trend zu sämtlichen Energiesparmassnahmen. So hatte sie sich ihren Pulli über den Kopf gezogen. „Sei's drum“, hatte sie zu sich gesagt, ohne zu ahnen, dass es dieses schwarze Top war, das Shiram zu einem feuchten Traum verführte, sobald sie spätnachts seine Wohnung verlassen hatte. Er stellte sich Karin vor, am Ganges, unter Tausenden von Menschen, die aus dem Fluss Wasser schöpften, und er stellte sich vor, wie sie sich nicht nur ihren Pulli, sondern auch ihr schwarzes Top über den Kopf zog, sich mit nacktem Oberkörper dem Fluss näherte und sich ausgiebig wusch. Dann, zu fortgeschrittener Nachtstunde, stellte Shiram sich vor, er würde Karins nackte Punani, Karins Fötzchen, streicheln, nur mit der Kuppe des Zeigefingers, denn Shiram war nicht nur ein exzellenter Koch, er war auch sonst ein feinfühliger Mensch. Seine Frau Maloti in Assam mit stundenlangen Streichelorgien hochzujagen, um dann endlich in sie einzudringen, hatte zum Schönsten gehört, das sein armseliges Leben ihm bisher geboten hatte. Nun also Karin. Shiram lag nicht mal so weit daneben, als er sich ihr schwarzes Pelzchen vorstellte, das er sanft und liebevoll streichelte. Er umschlang sein dunkelrotes Seidenkissen und erging sich in Sehnsucht.

Auch Charles' einsames Gemüt war Karin zutiefst zugetan – nicht nur in den voyeuristischen Momenten, in denen er spätnachts sein Fernrohr auf die junge Frau richtete, sondern stets und ewig. Tagundnachtundtagundnachtundtagundnacht. Der alte Mann konnte sich gedanklich nicht von Karin lösen. Pflückte er Äpfel, dachte er an Goethes Faust. „Der Äpfelchen begehrt' er sehr“. Gretchens Brüste für Goethe. Karins Brüste für Charles. Karins Äpfelchen. Für ihren Unterleib interessierte er sich nur bedingt – dafür fühlte er sich dann doch etwas zu alt. Weil aber eine Frau ohne Unterleib nicht existieren kann und nur eine halbe Frau ist, dachte er sich Karins Hüften, Karins Hintern, Karins Mumu und Karins Oberschenkel einfach mit dazu. Eine Erektion brachte Charles nicht mehr hin, seit er sich vor Jahren die Prostata hatte entfernen lassen, aber seine Fantasie sprühte wie ein nie enden wollender Vulkanausbruch. Einmal hatte er Karin in seinen Kleingarten eingeladen. Als sie in die Hocke ging, um ihm beim Jäten zuzusehen, hatte sie ihr weisses, blau gepunktetes Höschen blitzen lassen. Es war der Moment, in dem sich Charles' Herzfrequenz beinahe verdreifacht hatte. „Ist etwas“?, hatte ihn Karin besorgt gefragt und war aufgestanden. Karins gepunktetes Höschen war Charles seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Dann war da Seb. Absolut spitz auf Karin, von Anfang an. Das hatte Nina, seine Freundin, sehr rasch spitz gekriegt, wie Frauen eben so sind. Sie hatte Seb jeden Kontakt mit Karin untersagt und hatte sogar seine Whatsapp Nachrichten gecheckt. So war es so weit gekommen, dass Seb, möglicherweise aus Trotz, seine Nina leidenschaftlich fickte, aber sich „dabei“ niemand anderes als Karin vorstellte. Die beiden Frauen waren ähnlich gebaut, und wenn Seb seine Nina von hinten nahm, brachen sich seine Fantasien Bahn. In der Missionarsstellung hatte er ja Ninas verschwitztes Antlitz vor sich, von hinten aber... die Mumu, die Arschbacken, das süsse Polöchlein, das Kreuz, die Michaelisraute, die geschwungene Wirbelsäule, die Schulterblätter, die Schultern, die runden Oberarme, die braunen Locken... es hätte geradeso gut die vor Lust rasende Karin sein können, die Seb Abend für Abend genussvoll vögelte.

Rolf war der am meisten Verschlossene von allen Nachbarn. Aber er hatte eine reiche, innere Gedankenwelt. Er stellte sich die Menschen um sich herum als chemische Elemente vor. Karin hatte er dem Element Neon zugeordnet. Neon. Ein in sich ruhendes Edelgas. Selbstzufrieden, nichts benötigend. Das war es, was den Wissenschaftler an Karin so anzog. Ihre von ihm vermutete Bedürfnislosigkeit. „Karin, Du ruhst in Dir“, war der Satz, den er wie ein Irrer vor sich hin flüsterte, während er es sich auf seinem Wasserbett bequem machte und genussvoll vor sich hin wichste. „Du ruhst in Diiiihhhhr...“.

Und Karin? Doch, sie war für alle da. Karin für alle. Denn sie hatte ja ein goldenes Herz. Und das Glück, dass Stino, ihr Freund, der ganz in der Nähe lebte, nicht der eifersüchtige Typ war. Karin unterhielt ihn mit Anekdoten aus ihrer zugegebenermassen etwas seltsamen, wenn nicht gar bizarren Nachbarschaft – und liess sich während des Erzählens von ihrem Lover in den siebten Himmel vögeln. Denn Karins unscheinbarer, schlanker Körper entsprach nicht ganz Stinos Beuteschema. Er hatte sich in den Arsch der Kindergärtnerin verliebt, die jeden Morgen um die Ecke schwenkte. Aber Karins Stimme traf Stino mitten ins Herz. Somit war sie auch für Stino da.

Karins Punani – für Shiram
Karins Äpfelchen – für Charles
Karin von hinten – für Seb
Karin als Edelgas – für Rolf
und... zu guter Letzt...
Karins Stimme – für Stino

Und das Allerschönste: Es war genug Karin da. Genug Karin für alle.

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