Gestern war es noch Liebe

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Gestern war es noch Liebe

Gestern war es noch Liebe

Sven Solge

Die Tränen, die Luzy übers Gesicht liefen, vermischten sich mit den Regentropfen, die ihr über die Wange rannen. Nur ab und zu schmeckte sie etwas Salziges, aber das registrierte sie kaum. Zu sehr war sie mit dem eben Geschehenen beschäftigt.
„Ich sehe keine Zukunft für uns!“, hatte er gesagt.
„Ich will mich in meinem Job verwirklichen und das kann ich nicht, wenn du an meiner Seite bist und mir ständig mit deinem Heiratsgefasel in den Ohren liegst. Ich kann jetzt noch nicht daran denken eine Familie zu gründen, oder sogar Kinder in die Welt setzen, wenn ich meine Ziele noch nicht erreicht habe. Ich denke wir sollten uns erst einmal trennen, vielleicht können wir später noch zusammen kommen. Natürlich können wir befreundet bleiben! Ich werde immer für dich da sein, wenn du meine Hilfe brauchen solltest.
Und jetzt solltest du lieber gehen ich muss noch packen, mein Zug nach München geht Morgen sehr früh!“
Er drückte ihr ihre Jacke in die Hand und schob sie aus der Tür und schloss sie sofort. Kein Abschiedskuss, kein Lächeln, nichts.
Automatisch zog sie ihre Jacke an und stolperte etwas die Stufen runter. Erst als sie sich am Geländer festgehalten hatte, wurde ihr bewusst was hier eben abgelaufen war.
Ihre große Liebe hatte mit ihr Schluss gemacht!
Das konnte nur ein Alptraum sein und sie müsste jeden Moment aufwachen, doch als ihr plötzlich die großen Regentropfen ins Gesicht klatschten, als sie das Treppenhaus verließ, wurde ihr bewusst, es war vorbei!
Ihre einzige, große Liebe war Geschichte!
Und dabei kannten sie sich schon seit der Grundschule.
Die ersten, zaghaften Annäherungsversuche als sie 10 Jahre alt waren. Die kleinen, zusammengefalteten Liebesbriefe, die sie sich später heimlich zusteckten und der erste unbeholfene Kuss, auf der Geburtstagsfete einer Freundin, besiegelte endlich ihre Liebe. Von da an gehörten sie zusammen, auch wenn Luzys Eltern gegen die Verbindung waren, waren sie unzertrennlich.
Während Luzy nach dem Abitur und der Lehre zur Einzelhandels Kauffrau, den Einkauf bei einer kleinen Ladenkette im Norddeutschen Raum übernahm, studierte Norbert Elektrotechnik.
Als Ingenieur stand ihm die Welt offen und schon nach der ersten Bewerbung bei einer Fima in München, wurde er mit einem fürstlichen Gehalt geködert, wovon Luzy nur träumen konnte.
Endlose Gespräche hatten sie geführt und Luzy war bereit mit nach München zu gehen, doch da hatte Norbert was dagegen.
„Lass mich man erst alleine gehen, ich werde uns in Ruhe eine Wohnung suchen, das ist in München schon schwer genug und du nutzt die Zeit, um berufliche Erfahrung zu sammeln! Du kommst dann später nach!“, argumentierte er und damit war die Sache für ihn vorerst erledigt.
Es goss in Strömen, aber das nahm Luzy kaum wahr. Zu sehr pochte ihr Herz und der Schmerz, der sich in ihrer Brust breit machte, ließ sie aufschluchzen. Sie kannte ihre große Liebe nicht wieder, das war nicht der Norbert, den sie von Kind auf an geliebt hatte?
Als sie die Bushaltestelle erreicht hatte, war sie völlig durchnässt. Die Tränen liefen ihr unaufhörlich über die Wangen und als der Bus kam, wischte sie die Feuchtigkeit kurz mit der Hand weg. Dass sie dabei ihre Wimperntusche über das Gesicht verteilte, war ihr nicht bewusst, aber wahrscheinlich auch egal.
Der Busfahrer schaute sie überrascht an, als sie ihm ihre Monatskarte hinhielt. Er kannte dieses zarte Persönchen von vielen Busfahrten und insgeheim verehrte er diese hübsche, junge Frau, traute sich aber nicht sie anzusprechen.
„Alles in Ordnung?“, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung fragen, weil ihr Aussehen ihm Sorge bereitete.
Doch Luzy zeigte nur ein verkrampftes Lächeln, nickte aber dazu.
Auch wenn ihr die Nässe anzusehen war, so konnte er deutlich die Tränen sehen, die ihr über die Wangen kullerten.
„Sag mir Bescheid, wenn du Hilfe brauchst! Ich habe an der nächsten Station Schichtwechsel, könnte dich nach Hause begleiten!“, bot er sich an.
Doch Luzy schüttelte nur leicht den Kopf und ging im Wagen weiter nach hinten. Der Bus war um diese Zeit fast leer.
Maik, der Busfahrer, beobachtete sie im Rückspiegel. Sie setzte sich in die Nähe der mittleren Tür und lehnte ihren Kopf an die Scheibe. Deutlich konnte Maik sehen, wie ihre Schultern von einem Weinkrampf geschüttelt wurden.
Maik musste ich auf den Verkehr konzentrieren.
Erst an der nächsten Haltestelle schaute er genauer zu ihr hin und bemerkte, dass sie ihre Arme auf der Haltestange vor ihr abgelegt hatte und darauf ihren Kopf.
Er öffnete für seinem Kollegen die Tür und erklärte ihm, dass er noch zwei Stationen weiter mitfahren würde, um der Frau eventuell behilflich sein zu können.
Die Übergabe war schnell abgewickelt und Maik schritt langsam zu Luzy und setzte sich in die Sitzbank auf der anderen Seite des Ganges, sodass er Luzy direkt ansehen konnte.
Sie schien immer noch zu weinen, denn ab und zu erzitterte ihr Oberkörper und Maik konnte ein tiefes Schluchzen hören. Er beugte sich vor und legte der jungen Frau vorsichtig eine Hand auf die Schulter: „Du musst gleich aussteigen!“, sagte er leise, als sie ihn erschrocken anschaute.
Maik war tief betroffen, von dem Schmerz, den ihr Gesicht widerspiegelte.
„Was ist passiert, dass du so traurig bist?“, fragte er und streichelte sanft über ihre Schulter.
Sie schaute ihn mit ihren, vom Weinen geröteten, Augen an. „Er hat einfach mit mir Schluss gemacht!“, sagte sie so leise, dass Maik es kaum verstand. Er reimte sich aber aus den wenigen Wortfetzen, die er verstanden hatte, zusammen, was sie so traurig machte.
Der Bus hielt und Maik stieg mit Luzy aus, nachdem er sich noch kurz von seinem Kollegen mit Handzeichen verabschiedet hatte.
Sie standen stumm vor dem Unterstand der Haltestelle. Der Regen hatte zum Glück aufgehört, trotzdem lag eine eigenartige Spannung in der Luft.
„Darf ich dich ein Stück begleiten?“, fragte er Luzy, als sie sich abwandte und gehen wollte.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er neben ihr her und fragte sie: „Wart ihr lange zusammen?“
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie seine Frage beantwortete.
Der Kollege im Bus hupte noch kurz, als er an ihnen vorbei fuhr. Maik hob nur die Hand, schaute aber unverwandt Luzy von der Seite an. Noch nie hatte er sie so genau betrachten dürfen. Seine stille Sehnsucht nach dieser zauberhaften Frau brach jetzt bei ihm durch und er nahm jede ihrer Konturen in sich auf. Ihr wunderschönes Profil mit den zarten Wimpern und der süßen Stupsnase. Sie hatte blonde Haare, die jetzt aber durch die Nässe des Regenwassers, dunkler erschienen. Ihre Jacke verhüllte ihren Oberkörper, doch Maik erahnte ihre schlanke Figur.
Sie blieb plötzlich stehen und wandte sich ihm zu. Maik fühlte sich ertappt, als ein zartes Lächeln über ihr Gesicht huschte, es war aber genauso schnell wieder verschwunden!
„Ich kenne dich!“, sagte sie mit einer etwas brüchigen Stimme. „Du bist der nette Busfahrer, der mich immer besonders höflich begrüßt hat, wenn ich in deinen Bus eingestiegen bin. Danke das du mich begleitest, aber das musst du nicht, ich habe mich jetzt wieder in der Gewalt. Mein Freund, den ich schon seit unserer Zeit in der Grundschule liebe, hat mir vorhin erklärt, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft gibt. Er fährt morgen früh nach München, um dort seine berufliche Laufbahn zu beginnen und dabei bin ich im Wege!“
Sie gab einen schnaufenden Laut von sich, so als würde sie vor Wut und Enttäuschung mit dem Fuß aufstampfen. Sie setzte ihren Weg fort und ließ einen überraschten Maik zurück. Mit allem hatte er gerechnet, aber dass sie seine vorsichtigen Zuwendungen bemerkt hatte, ließ sein Herz plötzlich stolpern.
Mit wenigen Schritten hatte er sie eingeholt und passte seine Geschwindigkeit ihrer an.
Luzy schaute nur kurz zu ihm, sagte aber nichts.
Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher, ab und zu nur von leisem Schniefen Luzys unterbrochen.
„Dein Freund ist ein Blödmann, der hat dich nicht verdient!“, sagte Maik mit überzeugtem Brustton.
Wieder blieb Luzy abrupt stehen.
Maik machte noch zwei Schritte, weil er damit nicht gerechnet hatte.
Als er sich zu ihr umwandte, sagte sie mit Empörung in der Stimme: „Woher willst du das Wissen, du kennst Norbert doch gar nicht!“
„Stimmt, aber ich kenne dich!“, erwiderte Maik. „Seit Jahren sehe ich dich immer wieder in meinem Bus. Und glaube mir, du bist die hübscheste, freundlichste und attraktivste Frau, die meinen Bus je benutzt hat. Du bist immer freundlich, bist hilfsbereit anderen Mitmenschen gegenüber, bietest älteren Menschen deinen Platz an und hilfst mit, wenn eine Mutter mit Kinderwagen ein oder aussteigen will, oder hilfst Menschen mit Handicap, ohne dafür Dank zu erwarten, du machst es einfach. So ein Kleinod lässt man nicht einfach laufen, nur weil der berufliche Werdegang noch nicht abgeschlossen ist! Dein Norbert ist ein Idiot!“ Jetzt blieb Maik stehen und schaute zu Boden, weil es ihm plötzlich peinlich war, sich Luzy gegenüber so offenbart zu haben. 
Plötzlich tauchten in seinem Sichtfeld Luzys Füße auf, er hob den Kopf und schaute in diese traurigen Augen, die ihn aus einem verschmierten Gesicht anschauten.
„Du hast mich beobachtet, warum?“, fragte sie mit etwas Erstaunen in der Stimme.
„Weil.. „ Maik stockte der Atem, er konnte ihr doch unmöglich sagen, dass er jeden Tag auf ihr erscheinen wartete.
„Warum hast du mich beobachtet?“, fragte Luzy erneut.
„Weil…,“ Er stoppte erneut, fuhr dann aber mutig fort: „Weil der Tag erst schön wurde wenn du in meinem Bus warst. Wenn ich dich an der Bushaltestelle sah, klopfte mein Herz schneller und kein nerviger Fahrgast konnte mir mehr etwas anhaben. Ich war einfach viel ausgeglichener wenn  du da warst. Du bist für mich die Sonne an einem regenverhangenen Tag.“
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Luzy plötzlich.
„Maik!“
Sie machte eine nachdenkliche Pause, bevor sie weiter sprach:
„Das ist das netteste was jemals einer zu mir gesagt hat, du bist süß Maik!“ Und als sie sich auf einmal vorbeugte und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte bekam Maik doch weiche Knie.
„Danke! Ich bin übrigens Luzy!“
Sie wandte sich zum Gehen und Maik folgte ihr, immer noch etwas durcheinander, weil ihre Lippen immer noch auf seiner Wange brannten.
Schweigend gingen sie nebeneinanderher, ab und zu berührten sich ihre Hände unabsichtlich beim Gehen, bis Maik seinen ganzen Mut zusammen nahm und ihre Hand ergriff. Im ersten Moment zuckte Luzy etwas zurück, ließ es sich dann aber gefallen und schloss ihre Finger sogar um seine Hand.
Nach einiger Zeit stoppte Luzy erneut: „Hier wohne ich!“, sagte sie, ließ seine Hand aber nicht los.
Maik schaute auf das Haus, vor dem sie standen. „Ich wohne noch bei meinen Eltern!“, sagte Luzy so, als wenn sie sich dafür entschuldigen müsste.
Maik rang mit seinen Gefühlen, bevor er Luzy fragte: „Gibst du mir deine Handynummer? Ich weiß, dass es vielleicht noch etwas zu früh ist, aber ich würde gerne mit dir in Verbindung bleiben. Ich werde dich auch nicht belästigen und wenn du es nicht möchtest, werde ich das akzeptieren! Versprochen!“
Luzy lächelte ihn an, „natürlich gebe ich dir meine Nummer. Du hast mir in meinem Schmerz so gut getan, ich möchte auch mit dir in Kontakt bleiben.“
Sie zog ihr Handy aus der Jacke und als Maik seins auch gestartet hatte, diktierte sie ihm ihre Nummer.
Maik tippte etwas in sein Handy und wenig später summte Luzys. „Jetzt hast du auch meine Nummer!“
Wenn Maik gedacht (oder mehr gehofft) hatte, dass Luzy ihn noch mal zum Abschied auf die Wange küssen würde, so wurde er enttäuscht. Sie reichte ihm die Hand, die er automatisch ergriff. Er folgte ihr mit dem Blick, wie sie durch den gepflegten Vorgarten schritt und wandte sich dann auch ab, um nach Hause zu gehen. Das Luzy sich an der Haustür noch einmal umdrehte, bekam er nicht mit. So sah er auch nicht das warme Lächeln, das Luzys Gesicht zum Strahlen brachte.

-*-

Luzy

„Wieso kommst du Nachhause? Wir dachten du wolltest bei Norbert bleiben?“ Ihre Mutter schaute sie fragend an?
Alleine der Name ließ bei Luzy wieder die Tränen in die Augen schießen.
„Er hat mich rausgeschmissen und mit mir Schluss gemacht!“, konnte sie gerade noch sagen,
dann stürmte sie die Treppe hoch und verriegelte ihr Zimmer.
Wenig später rüttelte Ihre Mutter an der Tür: „Luzy mach auf! Rede mit mir!“
„Ich kann jetzt nicht, bitte lasst mich in Ruhe.“
Es dauerte etwas, doch dann hörte sie die Treppe knarren, als ihre Mutter nach unten ging.
Luzy erwachte, als ihr Handy summte. Im ersten Moment war ihr nicht klar warum sie angezogen auf ihrem Bett lag. Doch dann kam die Erinnerung.
Auf dem Handy war eine ihr unbekannte Nummer zu sehen, sie öffnete die WhatsApp und eine Wärme durchströmte ihren Körper:
„Liebe Luzy,
ich danke Dir, dass ich Dich begleiten durfte,
vielleicht konnte ich Dir etwas Trost spenden, das wäre schön?
Ich mag Dich sehr gerne!
Maik“
Sie legte das Handy wieder weg und streckte sich. Lange lag sie so auf dem Rücken und starrte gegen die Decke.
Ihre Gedanken gingen zu Norbert, der jetzt bald in den Zug steigen würde und sie ihn wohl nie wiedersehen würde. Doch diese Erinnerungen verblassten immer mehr und wurden von einem anderen Gesicht abgelöst.
So ein emphatischer Mann war ihr noch nie begegnet. Wie der ihren Schmerz weggefegt hatte, verstand sie immer noch nicht. Er war einfach da und hat sie trotz ihrer abwehrenden Haltung begleitet. Auch seine Worte hatten bei ihr etwas ausgelöst, was sie noch nicht verstand, es fühlte sich aber so gut an!

-*-

Maik

Die zwei Stationen, die Maik jetzt zu seiner Wohnung laufen musste, vergingen wie im Flug. Er fühlte sich beschwingt und jeder Fußgänger, der ihm entgegen kam, wurde mit einem freundlichen: „Guten Abend“ begrüßt.
Die meisten grüßten überrascht zurück! Eine ältere Dame allerdings, die mit ihrem Dackel spazieren ging, riss sofort ihren Hund an der Leine zurück und wechselte die Straßenseite.
Maik hob zur Entschuldigung die Hand, unterließ es jetzt aber die Menschen zu grüßen. Seine Freude blieb in ihm, auch wenn er sie laut hätte rausschreien können. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte seinen Körper und er glaubte zu schweben.
Was passierte nur mit ihm?

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