Grand Hotel des Voyageurs

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Grand Hotel des Voyageurs

Grand Hotel des Voyageurs

Yupag Chinasky

Er war am Nachmittag mit dem Zug angekommen und wollte am nächsten Tag zum Flughafen, um von dort eine lang geplante Reise, die ihn fast um die halbe Welt führen sollte, anzutreten. Er hatte ziemlich rasch umdisponieren müssen, der ursprünglich vorgesehene Anschlussflug war bestreikt worden und er musste bereits am Vortag mit der Bahn anreisen. Er hatte sich wegen der Übernachtung keine großen Gedanken gemacht, sich vielmehr vorgenommen, nach seiner Ankunft ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs suchen, damit er am nächsten Morgen rasch und problemlos mit dem Zug zum Flughafen fahren könnte. Als er die große Bahnhofshalle verließ, fiel ihm gleich die pompöse Fassade des „Grand Hotels des Voyageurs“ auf. Sie beeindruckte ihn und er war, ohne zu zögern und ohne länger zu suchen, dorthin gegangen. Er hatte eingecheckt, seinen Ausweis gezeigt, seine Kreditkarte registrieren lassen und war dann in dem ächzenden, schwankenden Lift in den vierten Stock gefahren. Natürlich war er irritiert, weil das Innere des Hotels so gar nicht dem Äußeren entsprach, aber es gab ein freies Zimmer zu einem annehmbaren Preis und für eine Nacht, so sagte er sich, war es doch ziemlich egal, wo man schlief. Es war ja auch nicht alles hässlich, zumindest die Flure hatte man nicht grundlegend verändern können, hier sah man noch die Reste des Stucks und der Verzierungen, wenn auch der Fußboden inzwischen mit billigem, grau-braunem Linoleum belegt worden war, der seltsame Schmatzlaute von sich gab, wenn man darüber schritt. Vereinzelte Lampen an den Wänden, auch die noch aus den besseren Zeiten, warfen ein so spärliches Licht, dass man die Zimmernummern kaum erkennen konnte. Sein Zimmer war nach hinten gelegen und der Ausblick ging, statt zu den Neonlichtern des Bahnhofplatzes, auf einen tristen Hinterhof, der von dunklen Backsteinmauern umrandet war, wie er mit einem flüchtigen Blick feststellte. Statt einer schönen Aussicht, gab es aber eine Minibar im Zimmer und so nahm er sich erst einmal eine Dose kühlen Biers, setzte sich auf das Bett und überlegte, wie er den Abend gestalten sollte. Auf jeden Fall essen gehen, danach ein Rundgang, um die Gegend zu erkunden, einen kleinen nächtlichen Spaziergang, etwas, das er gerne machte, wenn er auf Reisen war. Es war noch nicht spät, aber um diese Jahreszeit begann es schon zu dämmern. Er wusste, dass man hier meistens spät aß und so hatte er keine Eile und trank sein Bier in aller Ruhe. Doch dann schrillte das Telefon. „Pappi“, schallte es aus dem Hörer, „Pappi, je viens, attend moi“. Die Stimme klang jung und frech und ungeduldig und die Botschaft war klar, er solle warten, sie käme jetzt gleich. Als sie nichts weiter sagte, murmelte er „kleine Nutte“ und legte auf. Die Bierdose war leer, er stand auf und holte sich eine neue. Dabei kam er an dem einzigen Fenster vorbei und schaute etwas genauer hinaus, um die triste Gegend zu erkunden. Er schaute auch hinab in den engen Hof und dort sah er sie. Etwa ein halbes Dutzend Frauen, die herumstanden und warteten, einige im Schein einer Laterne, die schon brannte, einige dicht an der rückwärtigen Mauer des Hotels, direkt unter ihm. Es war klar, warum sie dort standen, warum sie warteten und was sie wollten.

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