Herberts Suche

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Brigitta Mathes

Sie trafen einander am vorletzten Abend des letzten Jahres des letzten Jahrhunderts des letzten Jahrtausends.
Er reiste von hier an, sie von da und sie trafen einander dort wo sie niemand kannte. Ein Jahr zuvor war sie von hier angereist und er von da und sie hatten einander dort getroffen, wo sie niemand erkannte.
Der vorletzte Abend gab sich anfangs spröde. Er wollte mit dem Vorhaben der vorletzten Nacht nichts zu tun haben. So saßen sie fast schüchtern bei einem Glas Wein. In fröhlicher Gesellschaft, allein zu zweit.
Hätte er sie in diesem Lokal an diesem vorletzten Abend kennengelernt, wie man einander eben kennenlernt, dann hätte er nach dem ersten Glas Wein ihre Hand genommen. Sein Knie hätte ihr Knie gesucht und er hätte tief in ihre Augen geblickt. "Schöne Augen hast du." hätte er gesagt und damit die Legitimation für den ersten sachten Kuß erworben.
Hätte sie ihn in diesem Lokal an diesem vorletzten Abend kennengelernt, wie man einander eben kennenlernt, hätte sie ihm nach dem ersten Glas Wein ihre Hand gereicht. Ihr Knie hätte an seinem gerieben und sie hätte ihm noch tiefer in die Augen geblickt.
"Welche Farbe haben deine Augen?" hätte sie gefragt.
Die Sehnsucht der vorletzten Nacht wäre wie eine Feuerwolke über ihnen geschwebt, hätte sie eingehüllt und abgegrenzt von den anderen, bereit mit heißen Zungen das Feuer der Leidenschaft anzufachen. Es hätte dem vorletzten Abend gefallen und Frankie-Boy sang nur für sie.
Doch es gab keine Legitimation zu erwerben.
Er kannte bereits ihre geheimsten Wünsche. In den letzten Tagen vor der vorletzten Nacht waren ihre Wünsche und seine Begierden zum Befehl geworden. Ein Befehl den er herbeisehnte. Sie ahnte bereits seine geheimsten Wünsche. In den letzten Tagen vor der vorletzten Nacht hatte sie ihre Begierden und seine Wünsche mit dem Streichholz der Vorfreude entfacht.
"Gehen wir?" fragte er.
Der vorletzte Abend räumte der vorletzten Nacht widerwillig das Feld. Die vorletzte Nacht hatte sich herausgeputzt wie eine weiße, funkelnde Braut. Sie hatte ihren jungfräulichen Schleier ausgebreitet. Über den Straßen, den Häusern und den Bäumen. Ihr Atem war kristallkalt, Wintersterne funkelten in ihrem dunkelsamtenen Haar.

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