Herzberliner

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Herzberliner

Herzberliner

Anita Isiris

Herrn Pharod gingen fast die Augen über, als er an der kleinen Konditorei in W. vorbeikam. Das Schaufenster war angefüllt mit schmucken Goldsternen – und dazwischen lagen, in hübschen Ornamenten liebevoll gegliedert, Herzberliner. Der feine Puderzucker in reinstem Weiss wirkte, als hätte er dem Schnee, der an jenem späten Februartag noch immer zentimeterdick lag, die Farbe gestohlen. Erdbeer. Schokolade. Vanille. Kiwi. Ananas. Das war die jeweilige Seele der Herzberliner, deren feuchtes, süsses Inneres also; der Hauptgrund, weshalb Berliner überhaupt gekauft werden. Ist man unvorsichtig, kann man sich mit diesem schmackhaften Inhalt schon mal den Ausschnitt oder die Krawatte bekleckern.
Herr Pharod betrat also jene kleine Konditorei in der Absicht, mindestens drei Herzberliner zu erwerben. Da gingen ihm die Augen abermals über. Die Brüste der Verkäuferin waren überwältigend. Zwei allerliebste Herzberliner verbarg sie da unter ihrem eng anliegenden grünen Pulli, der viel eher zum Frühling passte als zum Winter. Draganas Brüste und ihr Pullover feierten gemeinsam Frühlingsanfang.

Herr Pharod wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Sein Gaumen trocknete aus; sein vegetatives Nervensystem spielte verrückt. “Sie wünschen?”, fragte Dragana belustigt. In seiner Verwirrtheit wirkte Herr Pharod drollig. “Herzberliner”, sagte er trocken. “Saftige, geile Herzberliner.” “Sagen Sie nicht so was”, antwortete die junge Verkäuferin mit gespieltem Entsetzen. “Saftig mögen sie ja sein, aber geil?”
Herr Pharod konnte die Augen nicht von Draganas Brüsten lassen. Sie hatten längest Freundschaft geschlossen, Herrn Pharods Augen und Draganas Busen. Eine tiefe, innige Freundschaft. “Ich packe Ihnen welche ein”, lächelte Dragana und zog eine Plastiktasche unter dem Tresen hervor.” “Das wäre nett, ja”, hörte sich Herr Pharod sagen. Ein Mal Vanille, ein Mal Schokolade, ein Mal Erdbeer, bitte.”
Mit sinnlichen, langsamen Bewegungen packte Dragana die Leckereien in die Tüte. Dabei baumelten ihre Brüste fröhlich hin und her. “Herzberliner” murmelte Herr Pharod. Er streckte die Hand aus um die Plastiktüte entgegen zu nehmen, zählte Geld aus seiner Brieftasche und verabschiedete sich von Dragana, nicht ohne einen letzten Blick auf ihre Spezialität zu werfen, wenn Ihr wisst, was ich meine.

Als er sich zur Tür wandte, seufzte Dragana unhörbar. Hätten ihr all die Männer, die täglich hier einkauften, mit ihren Blicken etwas wegnehmen können, wäre sie jetzt flach wie ein Brett. Mindestens. Dragana war stolz auf ihren Busen und zeigte ihn gerne. Ihr Job passte gut zu ihr – alles hier war süss, lecker, verführerisch. Und Liebe geht bekanntlich durch den Magen.
Da klingelte es erneut an der Eingangstür. Herr Pharod kehrte zurück. Er klopfte sich artig den Schnee von den Schuhen und lächelte Dragana an. “Ich bin Maler”, log er. “Ach...” Was sonst hätte Dragana antworten sollen? “Ich will Sie malen. Jetzt. Sofort.” “Aber... der Laden...”
“Die Herzberliner verkaufen sich von selbst”, sagte Herr Pharod schlagfertig und fixierte Dragana aus zusammengekniffenen Augen. Sie lief rot an und senkte den Blick. Dann fasste sie sich und blickte ihn aus ihren offenen grünen Augen an. “Wir können das auf keinen Fall machen”, sagte sie leise. “Vor allem nicht... hier und jetzt.” Schon wieder öffnete sich die Tür; zwei alte Damen betraten den engen Laden. Kalter Wind wehte herein und liess Herrn Pharod schaudern. Eine leise Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er war scheu und hatte sich ein Herz gefasst, indem er beschlossen hatte, in die Konditorei zurückzukehren und Dragana den Mal-Antrag zu machen. Plumper ging es ja wohl kaum – das war ihm sehr wohl bewusst. Aber er musste sie sehen, diese süssen Brüste, Draganas leckere Herzberliner...

“Ich kann Sie verstehen”, seufzte er. Die beiden Damen in seinem Rücken räusperten sich. “Ich arbeite nur von Montag bis Mittwoch hier”, sagte Dragana hastig. “Am Donnerstag betreue ich den Backwarenstand im Easyland-Einkaufszentrum.” Herr Pharod wusste genug. Wieso hatte sie ihn über ihre Arbeitseinsätze informiert? Da bestand kein Zweifel: Dragana wollte ihn wiedersehen. Im Easyland? Herr Pharod war schon lange nicht mehr da gewesen. Easyland war eine ausnehmend langweilige Shopping Mall. Von H & M über Lidl bis zu Ramax und Orell Füssli gaben sich hier alle Grossen ein Stelldichein. Es schien fast, als müssten sie präsent sein, die Armen, obwohl sie vermutlich Verluste schrieben. Seit der Eröffnung von Easyland in einem Vorort von W. gingen die Besucher- respektive Konsumentenzahlen Jahr für Jahr markant zurück. Der Inhalt von Orell Füsslis Bücherregalen blieb unberührt – die Herzberliner am Backwarenstand vermutlich ungegessen.
Am Donnerstag um zehn Uhr fand sich Herr Pharod in der Shopping Mall ein. Er kam sich ein wenig verloren vor und war von gestressten Frauen umgeben, die Billigfleisch, Unterwäsche und Windeln suchten. Da erspähte er Dragana. Sie trug dieses Mal eine senfgelbes Trikotkleid, das ihr allerdings nicht sehr vorteilhaft ins Gesicht stand. Es machte sie blass und ein bisschen pummelig. Nein, Dragana hatte keine Lara Croft-Figur, sondern den Körper einer ganz normalen Konditorin. Nur ihre Brüste waren überproportioniert. Ironischerweise propagierte der Kleiderladen gegenüber ihrem Backwarenstand Uebergrössen. “Wir bieten auch Cup D und E.” Wer im Easyland einkaufte, war in aller Regel nicht grazil. Der Grossteil der Kundinnen bestand aus Frauen um die Fünfunddreissig, die entweder bereits Kinder hatten oder nie welche haben würden. Das kompensierten sie mit Süssigkeitenkonsum und exzessiven TV-Abenden zuhause. The next Uri Geller. The next Topmodel. The next Musicstar. The next. Ausladende Hinterteile in viel zu engen Jeans waren die Folge, klassische Frauenbäuchlein unter unvorteilhaften Blusen, die diese Frauen älter machten als sie es in Wirklichkeit waren. Möpse, die die Knopfreihen dehnten und dem geneigten Betrachter verrieten, dass der weisse BH, der sie mühevoll zusammenhielt, mit Bestimmtheit kein Hanro war.

Alles Frauen, die hoffend in die Zukunft blickten und dabei die Gegenwart vernachlässigten. Auch Herr Pharod wurde von etlichen Blicken gestreift. Er hatte sich zurecht gemacht mit einer engen schwarzen Lederhose, einem grün-weiss gestreiften Hemd, das er lässig darüber hängen liess, und neuen gelben Stoffschuhen. Easyland war überheizt, und Herr Pharod hatte Winterjacke und Pulli im Auto gelassen. Was er hier eigentlich wollte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Dragana sehen, klar. Und dann? Malen konnte er sie hier wohl kaum – verborgene, diskrete Winkel waren im Easyland noch rarer als in der kleinen Konditorei, in der er sie kennen gelernt hatte.
Dann machte er sich bemerkbar. “Hallo”, sagte er, “ich bekomme zwei Herzberliner”. “Bist du sicher, dass du sie bekommst?” lächelte Dragana. Herr Pharod war der einzige Kunde an ihrem Stand, der unter der Last von Bio-Broten, Lachsschnitten und Schokoschnitten beinahe zusammenbrach. “O.K. Komm mit. Ich habe Pause.” Sie trat hinter dem Stand hervor und nickte Herrn Pharod zu. Sie steuerte auf das Kleidergeschäft zu, das ihrem Backwarenstand gegenüber lag. “Kannst du mich beraten?” kicherte sie. Herr Pharod folgte ihr wie unter Hypnose. Draganas dichtes schwarzes Haar kontrastierte angenehm mit dem senfgelben Kleid, das allerdings etwas zu viel von ihrer Figur verriet. Dragana steuerte ohne Umschweife auf die Damenunterwäsche zu. “Wir haben nicht viel Zeit”, flüsterte sie. Sie schnappte sich einen opulent verzierten BH aus dem “Cup E”-Korb und lächelte Herrn Pharod an. “Exakt meine Körbchengrösse.”
Die Garderobenräume waren schlicht und trennten die Kleideranprobierenden durch dünne graue Vorhänge von der neugierigen Welt. Für wartende Ehemänner und Freundinnen waren orangefarbene Schalensitze angebracht. Dragana war die einzige Kundin. Sie schloss den Vorhang nur bis zur Hälfte und zog sich ihr Kleid über den Kopf. Herr Pharod schluckte. Zentimeter um Zentimeter kam wertvolle, von ihm innig begehrte Haut zum Vorschein. Draganas Oberschenkel. Draganas Hüften. Draganas Rückenpartie. Draganas Schultern. Sie stand von Herrn Pharod abgewandt, so, als würde sie sich schämen, und öffnete ihren BH. Der Spiegel enthüllte Draganas Körper für Herrn Pharod in der Frontalansicht. Draganas Höschen verschwand zwischen ihren Pobacken – offenbar liebte auch die Konditorin Süsses über alles. Ihr Frauenbäuchlein wirkte neckisch. Und dann, verdammt, Draganas Herzberliner. Draganas nackte Herzberliner.
Herr Pharod vermutete, dass er nie wieder würde aufstehen können. Dragana bückte sich nach dem reich verzierten Cup E BH und probierte ihn an.
“Gut so?”, lächelte sie und drehte sich nach Herrn Pharod um.
Dann war ihre Pause vorüber. Sie zog sich ohne Hast wieder an, warf dem verdutzten Herrn Pharod ein Kusshändchen zu, verliess eilends das Kleidergeschäft und stellte sich hinter ihren Backwarenstand, als wäre nichts gewesen.

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