Die Sonne schmerzt, doch sie hat nicht mehr die Kraft, mich zu verletzen. Ich sitze am Strand, die bloßen Füße in den abendkühlen Sand vergraben, und beobachte, wie die wabernde Scheibe lautlos in den Wellen ertrinkt – glühend wie Scheite im Kamin, wenn das Feuer heruntergebrannt ist und die Schatten länger werden; rot wie die Mohnblumen auf den Feldern, über die ich einst an heißen Sommernachmittagen lief, bevor er mich zu der machte, die ich heute bin.
Ein kühler Windhauch lässt mich frösteln. Das Meer errötet im letzten Widerschein der untergegangenen Sonne. Ich warte nicht ab, bis Dunkelheit die aufgebockten Boote und Strandhäuschen eingehüllt hat. Die Jagd hat begonnen.
Noch ist es zu hell für die Laternen entlang der Promenade, aber die Dämmerung schreitet schnell voran. Und dennoch nehme ich die schmale spiegelnde Sonnenbrille, die sich um meine Schläfen schmiegt, nicht ab. Niemand soll das Begehren in meinen Augen lesen, mit dem ich die entgegenkommenden Männer mustere: streunende Kater, umweht vom Duft teurer Cigarillos, die sonnengebräunte Haut im Ausschnitt ihrer lässig schiefgeknöpften Hemden zeigen; Jogger und Skater, deren Shirts nass von Schweiß an ihren lebensstrotzenden Körpern kleben, die Gesichter gerötet, die Haare zerrauft vom salzigen Wind und ihren heißen Händen. Ich spüre ihre Blicke, die über mich streichen, ich höre, wie sie langsamer werden, wenn sie sich nach mir umdrehen, aber ich zeige kein Zeichen von Interesse. Nicht ich muss in dieser Nacht Beute machen.
Ich weiß, wo ich ihn finden werde. So lange schon ziehen wir gemeinsam unsere Bahn, kennen die Stärken und Vorlieben des anderen wie die eigenen – und seine Schwächen. Es ist schon dunkel, als ich die Bar am Anfang der Main Street betrete. Ich mag sie nicht. Zu laut die Musik, zu grell die Farben der Leuchtreklame über der Tür, zu teuer die Drinks und zu billig die typischen Gäste. Doch Raoul liebt Orte wie diesen, er findet sie mit der Sicherheit eines Schlafwandlers, wo immer es uns hintreibt.
Meine Ahnung trügt nicht. Ohne Mühe filtert mein Auge seine hochgewachsene Gestalt aus der Menge in Hawaiihemden und neonfarbenen Cocktailkleidchen. Als spüre er meinen Blick, dreht er sich um. Unsere Augen treffen sich. Noch immer strauchelt das Herz in meiner Brust, wenn ich ihn wiedersehe: die schwarzen Haare, die er heute im Nacken zusammengebunden hat, Augen so dunkel wie eine Neumondnacht, deren harter Blick seine sinnlichen, weich geschwungenen Lippen Lügen zu strafen scheint. Es war dieser Blick, der mich einst in seinen Bann zwang, es waren diese Lippen und seine Hände, die mich gefügig machten, wenn wir uns heimlich trafen. Von ihm lernte ich, Lust zu geben und zu empfangen. Ich lernte, den kurzen, scharfen Schmerz seines Bisses zu genießen. Mit seiner sanften, dunklen Stimme flüsterte er mir Worte ein, die alle meine Vorstellungen von Gut und Böse in Schutt und Asche legten. Und als er mich schließlich zu seiner Gefährtin machte, war ich es, die ihn darum bat.
Das ist lange her, aber noch immer ist Raouls Zauber ungebrochen. Nur mit den Augen deutet er auf die Frau neben sich an der Bar, dann nickt er einmal kaum wahrnehmbar und wendet sich wieder ab. Ohne großes Interesse mustere ich das weibliche Wesen an seiner Seite. Zu viele davon säumten unseren Weg, und dieses zeichnet sich höchstens durch die völlige Abwesenheit von Schönheit und Stil aus. Fast sprengt ihr formlos üppiger Körper das kurze weiße Kleid, dessen Träger Striemen in das träge Fleisch ihrer Schultern graben. Die schwammigen Wangen ziehen die Winkel ihres zu rot geschminkten Mundes nach unten, was ihr den Ausdruck eines beleidigten Kleinkindes gibt. Stumpf und verschlagen zugleich blicken ihre Augen unter den wulstigen Lidern. Auch der kokett zur Seite gelegte Kopf kann die Grobheit ihrer Züge nicht verschleiern. Einem fetten Fasan gleicht sie, der dem Jäger in törichter Unschuld die Körner aus der Hand pickt und sich eitel aufplustert. Mit einer Geste, als wolle sie ihn vor aller Welt als ihren Besitz reklamieren, fasst sie seinen Arm. Ich lächele spöttisch, denn ich weiß: Raoul hasst derartige plumpe Grenzüberschreitungen. Nein, mein Gefährte ist nicht immer besonders geschickt in der Auswahl seiner Beutestücke.
Ich meide seinen Blick, während er dem Ausgang zustrebt, seine Eroberung einen Schritt hinter sich. Ich weiß, dass sie ihm nichts bedeuten, und doch ritzt der Anblick der anderen Frauen an seiner Seite immer wieder wie ein Dorn am Gewand meines Stolzes. Und ich beneide ihn, dessen Augen mir gelassen und fast stolz folgen, wenn ich mit einem fremden Mann ins Dunkel verschwinde. Ich kann mich nicht beherrschen, ich muss mich umdrehen – und sehe direkt in seine Augen. Raoul lächelt. Ohne den Blick von mir zu wenden, streicht er langsam über die feisten Hüften der anderen, dann schiebt er sie zur Tür hinaus. Ich spüre, wie meine Nägel tiefe Male in meine Handfläche bohren. Raoul weiß um meine Verletzlichkeit. Er liebt es, mich zu reizen – und genießt meine Rache, wenn ich ihm im Rausch der Wutlust die Brust zerkratze.
Ich habe es nicht eilig, ihnen zu folgen. Die langen Jahre in der Nacht haben meine Augen und Ohren geschärft wie die einer Katze. Zwar sehe ich sie nicht, denn sie sind mir zu weit voraus. Aber ich höre sie, während ich meinem langen schmalen Schatten die Straße entlang folge: die weiche, dunkle Melodie von Raouls Stimme und das grelle, hohe Keckern der anderen. Ich verzögere meinen Schritt und lausche. Die Stimmen werden lauter, ich nähere mich meinem Ziel.
Die Seeluft hat die Fassade der schäbigen kleinen Pension angenagt wie Ratten einen alten Kanten Brot. Nur ein offenes Fenster im ersten Stockwerk ist erleuchtet. Schwarz hebt sich die Silhouette eines Mannes gegen das trübe Licht dahinter ab. Er steht bewegungslos, sieht hinaus auf die verlassene Straße. Noch bin ich eins mit dem Schatten des Baumes vor dem Haus, aber trotzdem hebt er kaum merklich die Hand, bevor er sich abwendet. Das Licht verlöscht.
Die Jahre der Jagd haben mich auch die Behändigkeit einer Katze gelehrt und der Efeu, der die Hauswand bedeckt, ist eine gute Kletterhilfe. Lautlos schwinge ich meine Beine über die Fensterbrüstung und springe in das Zimmer dahinter. Eine Diele knackt leise, als meine Füße sie berühren, doch das Geräusch wird verschluckt vom rhythmischen Knarren des breiten alten Eisenbettes und dem schrillen, atemlosen Quieken der Frau darauf. Ich gähne, verschränke die Arme vor der Brust, lehne mich gegen die Wand. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Das Licht, das von der Straße hereindringt, reicht mir, um zu sehen, was ich schon bis zum Überdruss gesehen habe: Die Frau hat ihre Beine an den Kniekehlen gefasst. Einem Pudding gleich zittern ihre massigen Schenkel unter Raouls Stößen. Sie fiept und winselt wie ein Tier im Angesicht des Schlachtermessers, aber die Erfahrung sagt mir, dass sie noch nicht so weit ist, den Gipfel zu erreichen, an dem ihr Blut heiß und rasend an ihre Oberfläche drängt.
So sehr ich es hasse, wenn andere Frauen Raoul in ihren Fängen wähnen - dieses Schauspiel lässt mich kalt und unberührt. Denn ich weiß, dass die schwächlichen, dem Verfall preisgegebenen Körper der Menschentiere ihn schon lange anekeln. Als würde er meine Gedanken ahnen, legt er den Kopf in den Nacken und ich sehe, wie er in tödlicher Langeweile die schönen Lippen schürzt.
„Raoul!“, flüstere ich lautlos. Ruckartig dreht er den Kopf in meine Richtung. Leise trete ich aus dem Schatten in das Licht der Laterne vor dem Fenster. Ich lächele lockend, während ich langsam mein kurzes schwarzes Kleid hochschiebe. Wie eine Berührung fühle ich seinen Blick auf meiner nackten, hell schimmernden Scham. Ich spreize meine Schenkel ein wenig, lasse meine Hand zwischen sie gleiten. Raouls Augen verengen sich, ich lese die Gier in ihnen. Unverwandt sehe ich ihn an, während meine Finger die glatten Lippen teilen und ihren Weg in mein feuchtes, heißes Dunkel finden. Raouls Nasenflügel zittern, er atmet keuchend ein, umschließt mit unerbittlichem Griff die Handgelenke des Geschöpfes unter ihm. Hart und schnell werden seine Stöße, lauter und schriller das Greinen der Frau. Ich wende meinen Blick ab, bis ich ihn höre, den Schrei des Schrecks, des Schmerzes und des bodenlosen Grauens.
Langsam trete ich an die Opferstatt. Raouls nackter Rücken glänzt vor Schweiß. Hilflos zappelt die gerissene Beute unter seinem Körper. Ihr panisches Wimmern mischt sich mit dem Geräusch seines gierigen Schlürfens. Die Momente verstreichen. Nur noch kraftlos zuckt die Frau, als Raoul sich endlich erhebt. Seine nachtbringenden Augen glänzen.
„Chérie...“ Die blutbesudelten Lippen verziehen sich zu einem bezaubernden Lächeln. Mit übertriebener Grandezza verneigt er sich vor mir, ergreift meine Hand und zieht mich näher. „Es ist angerichtet.“
Ich beuge mich über das angststarre Bündel Mensch. Mechanisch öffnen und schließen sich ihre Hände, aber sie hat nicht mehr die Kraft und den Willen, mich abzuwehren. Ihr Mund, grotesk entstellt von verschmiertem Lippenrot, ist zu einem stummen Schrei verzerrt, die weit aufgerissenen Augen starren in stumpfer Panik auf die spitzen, weiß schimmernden Fänge, die ich entblöße.
Sie zuckt nur noch schwach zusammen, als sich meine Zähne durch ihren fleischigen Hals bohren und die pulsierende Quelle finden. Ich trinke langsam, genieße jeden Schluck, der durch meine Kehle rinnt. Sie schwindet, immer stärker muss ich saugen, um meinen Hunger zu stillen, immer zäher und dickflüssiger wird meine Nahrung, denn sie kommt tief aus dem Inneren des Lebewesens unter mir. Es ist die Krönung des Mahles: Herzblut: mehr süß als bitter von Geschmack und Träger der letzten Lebensfunken.
Sie regt sich nicht mehr. Der Strom ist versiegt. Satt und zufrieden löse ich meinen Mund von dem leblosen Körper und richte mich auf. Ich taste nach ihrem Kleid, das zusammengeknäuelt auf dem Boden liegt, wische mir den Mund ab und strecke mich auf dem Bett aus, um für einen Moment meine wohlige Müdigkeit zu genießen.
„Soll ich sie wecken?“ Raoul lacht. Ich fahre hoch. Er kniet über ihr, den Handrücken schon an die Zähne gepresst. Ein feines rotes Rinnsal läuft über seine elfenbeinhelle Haut. Langsam streckt er die Hand aus, direkt über den halb geöffneten Mund der Frau, die einmal war. Ich sehe den Tropfen, wie er dicker wird, schwerer, ein Wimpernschlag noch, und er wird sich lösen... Mit dem Grollen einer wütenden Tigerin springe ich ihn an, werfe mich über ihn. Raoul lacht jetzt aus vollem Hals.
„Ich liebe es, deinen Zorn zu wecken, meine Schöne!“ Spott funkelt in seinen Augen. „Er macht dich noch begehrenswerter...“ Er ist zu stark und zu schnell für mich. Jäh wie ein herabstürzender Nachtfalke packt er meine Schultern und stößt mich von sich. Ich will zur Seite rollen, doch er ist schon über mir, fasst meine abwehrend ausgestreckten Arme, drückt sie nieder. Sein Blick würde Erz zum Schmelzen bringen.
„Wir lieben diese Spiel – nicht wahr, Chérie?“, flüstert er. Seine heißen, nach Blut riechenden Lippen berühren meine Kehle, streichen über meinen Hals, meine nackte Schulter. Ich balle die Fäuste, wehre mich gegen den Strudel aus ohnmächtiger Wut und Begehren, der mich zu überwältigen droht und weiß doch, dass ich unterliegen werde. Ich winde mich, versuche mit aller Kraft meine Hände freizubekommen – doch nicht um ihn zu schlagen, sondern um ihn zu umarmen, um seine Haut unter meinen Händen zu fühlen, um mich an seiner Lust zu berauschen. Er spürt, wie mein Widerstand bricht. Endlich lässt er mich frei und ich schlinge die Arme um seinen Hals, vergrabe die Finger in seinem Haar und wir verbeißen uns in einen gierigen Kuss. Ungeduldig spreizen seine Hände meine Knie, fahren mit quälender Langsamkeit die Innenseite meiner Schenkel hinauf. Mein Lustlaut gleicht dem Fauchen einer Wildkatze, als er mich nimmt, ich lasse seinen Rücken meine Krallen spüren. Jede Spur der anderen will ich tilgen. Er ist mein und ich teile nicht!...
Raoul streckt sich genüsslich. Immer noch liegt ein Echo der Ekstase auf seinem alterslos schönen Gesicht. Träge zieht er mich wieder an sich. Ich sehe den bekannten Funken in seinen Augen aufglimmen.
„Und doch meine ich, dass wir uns eine weitere Gefährtin suchen sollten“, sagt er und ein herausforderndes Lächeln kräuselt seine Lippen. „Natürlich keine wie diese hier.“ Mit einem abschätzigen Kopfrucken weist er auf die leblose Hülle auf der anderen Seite des Bettes. „Du hättest eine Vertraute und ich...“ Er lässt den Satz unvollendet und nur sein Lächeln wird breiter.
Ich richte mich auf und betrachte ihn versonnen. Noch immer liebe ich ihn, doch es kostet mich zuviel Kraft. Ich sollte beginnen, Abschied zu nehmen. Eines Tages werde ich ihn an ein Lager wie dieses ketten. Nur die Sonne wird seine Entsetzensschreie hören. Und ich werde weinen.
Herzblut
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