Hochmut kommt vor dem Fall

Josie

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Hochmut kommt vor dem Fall

Hochmut kommt vor dem Fall

Gero Hard

Ich kam mir klein vor, wie ein Mitglied am Rand der unteren gesellschaftlichen Schicht. Nach allem, was ich mir in meiner Naivität selbst eingebrockt hatte. Vor drei Wochen war die Welt noch in Ordnung und die Uhren drehten sich rechts herum. Und nun, drehte sich gar nichts mehr um mich. Mit diesen Gedanken schlich ich mit meinem schäbigen, alten Golf durch eine Straße, in der sonst nur Sportwagen parkten, soweit das Auge reichte.
Sandwerder 7 …9 … 11. Die ungeraden Hausnummern waren rechts, die geraden also auf der Seeseite, die meisten mit eigenem Zugang zum großen Wannsee. Malerisch schön, wie ich es bis jetzt noch nie gesehen hatte. Hier war ich noch nie, obwohl ich in Berlin aufgewachsen war.

12 … 14. Hier ist es! Zehn vor drei, passt! Ich kannte Christian ja nun schon eine halbe Ewigkeit, aber ihn hier in dieser, für mich neuen Welt zu besuchen, ließ meine Knie zittern.
Ich drückte den Knopf der Gegensprechanlage und es dauerte einen Moment, bis mich eine Frauenstimme nach meinem Namen fragte.
„Josephina Schäfer, ich habe einen Termin bei Herrn Reichelt.“
„Guten Tag, Herr Reichelt erwartet Sie bereits.“, krächzte der Lautsprecher. Das leise Summen des Elektromotors, der die großen Tore auseinanderfuhr, war kaum zu hören. Aber er musste reichlich Power haben, denn die Tore waren aus kunstvoll gedrehten Stahlstangen gefertigt.

Ehrfürchtig ließ ich den Golf im Standgas über den Kiesweg rollen, der mich direkt vor ein großes, gemauertes Portal führte.
Mein Mund war trocken geworden, weil er die ganze Zeit sperrangelweit offen stand. Fehlte nur noch der ältere Herr im Schwalbenschwanz-Anzug und dem Zylinder auf dem Kopf vor dem Eingang. Ganz so war es dann doch nicht. Aber eine Dame, die wie eine strenge Hausdame gekleidet war, stand dort, wo ich den Zylindermann erwartet hätte.
Sie lächelte freundlich, als ich aus dem Auto ausgestiegen war und mit wackeligen Beinen auf sie zuging.
„Guten Tag, Frau Schäfer! Mein Name ist Franziska, wenn Sie mir bitte folgen wollen. Herr Reichelt hat auf der Terrasse eindecken lassen.“
Hat eindecken lassen?‘, wie hochgestochen sich das anhörte. Als würde sie die Angestellte eines alt-englischen Adels sein. ‚Hat eindecken lassen!‘, … innerlich musste ich lachen. Wie lange sie dieses geschwollene Gerede wohl geübt haben musste. Die Ärmste! Würde ich hier wohnen, müsste sie als erstes lernen, den Stock aus dem Arsch zu nehmen und vernünftig zu reden.
Sie führte mich durch eine große Eingangshalle, wunderschön modern eingerichtet. Der starke Kontrast zwischen moderner Einrichtung und alter Architektur machte es einzigartig, mutig und gleichzeitig atemberaubend!
Mein lieber Mann, so etwas bei Chris, dem Eigenbrötler, dem Unscheinbaren, dem Freak? Der schüchterne, pickelige Typ von damals, wie hatte er sich verändert. Dies alles hier wollte gar nicht so recht zu dem Bild passen, das ich damals von ihm gehabt hatte. Ein unscheinbarer, Ja-sagender Mitarbeiter einer kleinen Firma, mit einer Zweizimmer-Wohnung im zehnten Stock, das hätte besser zu dem Typen von vor etwa acht Jahren gepasst.

Eine Glas überdachte Veranda von der Größe meiner ersten Wohnung tat sich vor mir auf, nachdem wir eine Glastür durchschritten hatten. ‚Durchschritten‘ … ganz genau. In so einem Haus ‚ging‘ man nicht einfach, man ‚schritt‘! Vielleicht erklärte das auch die affektierte Sprechweise der Frau. Es musste die Aura des Hauses sein, die die Menschen darin veränderte.
„Herr Reichelt ist gleich bei Ihnen. Nehmen Sie doch bitte schon mal Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee servieren?“
„Danke Franziska, das ist sehr nett. Aber ein Wasser wäre mir jetzt tatsächlich lieber.“
„Natürlich gern, Frau Schäfer. Trockener Mund, oder? Das geht allen Frauen so, die zum ersten Mal hierher kommen.“, lächelte sie freundlich. Ungewöhnlich für mich war, dass sie mir dabei eine Hand auf die Schulter legte.
„Warten Sie bitte …, wie meinen Sie das, alle Frauen?“
„Herr Reichelt hat ab und zu mal Damenbesuch. Meistens Mitarbeiterinnen aus der Firma. Die jungen Dinger sind dann immer sehr nervös.“
„Ich bin nicht eine von …!“
„Seinen Mitarbeiterinnen? Ich weiß! Er hat mir von Ihnen erzählt.“
„Er hat mit Ihnen über mich gesprochen?“
„Ja, warum auch nicht?! Ich kenne Herrn Reichelt schon, seit er noch in die Hose gemacht hat. Ich war schon bei seinen Eltern als Nanny beschäftigt. Ich bin für ihn eine Art Ersatzmutti, verstehen Sie?“
„Nein, eigentlich nicht. Sie machen mich neugierig Franziska!“
„Sie plappert schon viel zuviel!“, fährt Christian ihr in die Parade.
Von uns unbemerkt hatte er sich angeschlichen und stand unvermittelt hinter uns.
„Christian, sei nicht immer so! Du weißt ganz genau, wie sehr mir die Mädchen leid tun, wenn du sie hier empfängst.“
„Ja, ich weiß Franzi! Und nun hol bitte das Wasser für Josephina!“

Mit einem leicht angedeuteten Knicks und einem verschmitzten Grinsen, flog Franziska davon und ich war mit Christian allein.
„Hallo, Josephina, schön dass du da bist! Ich freue mich wirklich dich zu sehen!“
„Guten Tag. Chris … ich …, dass alles hier …, was ist das …, das bist doch nicht du. Wieso … was mache ich hier? Sorry, aber ich bin voll nervös.“
„Das hier? Bedeutet mir nichts! Obwohl es Spaß macht, es zu besitzen. Sieh dir nur mal die Aussicht auf den See an. Entspannung pur, oder? Das ist es, was ich genieße, wenn ich nach 15 Stunden im Büro nach Hause komme. Das brauche ich, um runterzukommen.“
„Das alles gehört dir?“, kriegte ich den Mund nicht mehr zu.
„Jeder einzelne Grashalm bis direkt ans Wasser. Und nun guck nicht so. Ich reiße dir den Kopf bestimmt nicht ab.“ 
„Sorry, es ist einfach … so … unfassbar für mich. Wieso hier und nicht in deinem Büro. Wolltest du damit prahlen?“
„Josephina, prahlen habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr nötig! Arbeiten eigentlich auch nicht! Aber es macht mir Spaß und deshalb tue ich’s. Warum hier? Weil ich mit dir in Ruhe reden möchte und nicht im Trubel des Büro’s, wo ständig das Telefon bimmelt.“

Nachdenklich sah ich auf den See hinaus. Er hatte recht. Das war wirklich sehr entspannend, den ruhigen Wellen dabei zuzusehen, wie sie an der flachen Böschung mit leisem Plätschern brachen.
„Erde an Josephina! Alles klar bei dir?“
Ich musste ihn ansehen damit ich wusste, dass ich das alles hier nicht träumte. Er sah verdammt gut aus, jetzt, wo seine Pickel der Vergangenheit angehörten und die Pubertät ihr Werk vollendet hatte. Nie war mir früher aufgefallen, wie markant seine Gesichtszüge waren, und wie stechend sein Blick sein konnte. Aber jetzt sah er mich mit einem sanften Blick an, der über meine Augen in mein Gehirn, dann durch meinen Körper jagte und schließlich in meiner Magengrube hängen blieb.
„Warum Chris? Warum willst du mir helfen? Ausgerechnet mir, nach dem Mobbing in der Schule?“
„Wie ich schon sagte, du warst nur eine Mitläuferin. Aber das Wichtigste, du warst damals immer meine heimliche Liebe.“
„Ich war … was? Deine heimliche … no Way! Das nehme ich dir nicht ab. Hör zu Chris, wenn du meine Notlage nur
ausnutzen willst … daraus wird nichts. Danke für das Wasser, aber dann gehe ich besser gleich wieder.“
„Ich verarsche dich nicht. Ich war wirklich in dich verknallt. Weil du anders als die dummen Weiber warst. Wenn wir gesprochen haben, warst du immer nett zu mir. Trotz der Pickel, trotz der dicken Brille, trotz der eingeknickten Hüfte und trotz meines hässlichen Fußes. Dir war das egal, du warst die Einzige, die keine Vorurteile gegen mich hatte.Deshalb hatte ich Gefühle für dich, und deshalb sitzt du jetzt hier.“
„Aber warum hast du nie etwas gesagt?“
„So wie ich aussah? Du weißt doch, wie sehr alle ihre Späße auf meine Kosten gemacht haben. Da denkst du wirklich, ich hätte mich getraut, dem schönsten Mädchen in der Klasse zu sagen, dass ich einen Crush auf sie habe?“
„Ne … jetzt wo du’s so sagt, denke ich das nicht.“
„Also gut Josephina, kommen wir …!“
„Josie … bitte.“, fiel ich ihm ins Wort.

Nur mal zwischendurch: Ich hasste meinen Namen schon seit meiner Kindheit. Keine Ahnung welcher Teufel meine Eltern geritten hatte, mich so zu taufen. Das sie mich immer ‚Finchen‘ nannten, machte es auch nicht viel besser.
Meine beste Freundin nannte mich irgendwann ‚Josie‘, ich fand das gut, und so beließ ich es dabei. Mittlerweile nutze ich meinen Spitznamen öfter, als meinen echten. Sogar beim Ausfüllen von Formularen kommt es vor, dass ich mich dabei vertue.
Das Chris mich nun Josephina nannte, hatte ich ja selbst so gewollt. Aber es hörte sich für mich so falsch an, dass ich diesen Fehler schnellstens richtig stellen musste.
„Obwohl ich nicht gewohnt bin, unterbrochen zu werden … also gut, Josie. Erzähl, wo und was sind deine Baustellen?“
Ich hatte mir letzte Nacht Gedanken darüber gemacht, in wie weit ich die sprichwörtliche Hose vor ihm runterlassen wollte. Aber nach sorgfältigem Abarbeiten der Pro- und Contraliste kam ich zu dem Entschluss, dass er vermutlich im Moment tatsächlich derjenige war, der mir wirklich helfen konnte, aber das auch nur, wenn ich absolut ehrlich zu ihm war, egal wie peinlich das für mich sein würde.
Also erzählte ich von meinem Streit mit meinem Ex-Verlobten und sogar, wie es dazu gekommen war. Den Fick mit Sven und Herpes schilderte ich natürlich nicht im Detail, aber dass er stattfand, ließ ich nicht aus. Auch, dass ich deshalb fast zu einer Obdachlosen geworden war, weil Thomas mich natürlich aus der Wohnung geworfen hatte.
Dann, dass ich arbeitslos geworden war, weil es zu Lieferengpässen in der Technik kam, von der Panne meines alten, aber treuen VW’s und zuletzt, von der kleinen Explosion, mit der mich mein LED-Fernseher von einer auf die andere Sekunde im Stich ließ.

Chris hörte sich alles geduldig an und nickte an manchen Stellen meiner Schilderung nur versonnen, oder schüttelte mit Falten auf der Stirn verständnislos den Kopf. Was ich angesichts meiner nicht so alltäglichen Story nachvollziehen konnte.
„Da hast du dir ein ziemlich dickes Ding geleistet. Und damit meine ich bestimmt nicht die besten Stücke der Herren. Aber es steht mir nicht zu, dein Richter zu sein. Dafür habe ich dich ja auch nicht hierher bestellt, sondern weil du mich um Hilfe gebeten hast. Jetzt verstehe ich auch, warum!“
„Chris ehrlich, ich weiß ja selbst, dass ich eine dumme, egoistische Kuh war. Aber Himmelherrgottnochmal, ich wollte es doch nur einmal erleben! Nur ein einziges Mal, verstehst du?“
„Josie, es spielt keine Rolle, ob ich es verstehe! Die Sache ist aus dem Ruder gelaufen, und nun steckst du knietief in der Scheiße. Aber erwarte nicht von mir, dass ich dir Absolution erteile, das werde ich ganz sicher nicht tun.“
„Das erwarte ich auch nicht, keine Sorge. Im Grunde bin ich sogar ganz ohne feste Erwartung hierher gekommen.“
„Das ist gut! War wohl auch das beste was du tun konntest. Was hast du denn nach der Schule gemacht, was kannst du denn? Zeig mir mal deinen Lebenslauf, dann kann ich mir Gedanken machen.“
Aufmerksam, aber ungewöhnlich schnell, überflog Chris, was ich mehr oder weniger hastig zu Papier gebracht hatte.
„Angefangenes BWL-Studium, warum nicht fertig gemacht?“
„Erstens, weil sich meine Eltern die Studiengebühren nicht mehr leisten konnten, und es wurde mir auch zu schwer.“
„Ah ja, und Steuerfachangestellte gefiel dir offensichtlich besser? Da hast du es ja sogar zur Bilanzbuchhalterin geschafft. Aber Buchhalter hab ich genug. Hast du schon mal was mit Controlling gemacht?“
„Ja, im Studium und auch im Steuerbüro.“
„Würdest du dir zutrauen, für mich wichtige Projekte zu überwachen und abzurechnen? Würdest du dir weiterhinzutrauen, mein privates Vermögen zu verwalten? Ich verliere da langsam die Übersicht und den Bänkern kann man heutzutage nicht mehr trauen.“
„Ich soll, dein privates … dein Ernst? Das ist doch überaus sensibel und vertraulich! Projekte abrechnen ist kein Problem, aber …!“
„Ich vertraue dir! Wir fangen langsam an. Wenn du mir beweisen kannst, dass du mein Vertrauen nicht missbrauchst, deine Verschwiegenheit und Loyalität bewiesen hast, kriegst du die Festanstellung. Bis dahin fangen wir mit einem Zeitvertrag für drei Monate an. Einstiegsgehalt sind 4.000 Euro Brutto. Kommt es zur Festanstellung, erhöhe ich auf 5.000.“
„Zeitvertrag, ja? Dann wird das mit den Wohnungen erstmal noch nichts. Aber gut, damit kann ich leben.“
„Ach ja, du nächtigst ja wieder bei deinen Eltern. Gib mir ne Woche, dann weiß ich dazu bestimmt eine Lösung. Dann herzlich willkommen in meinem Team! Anfangen kannst du gleich morgen. Sei bitte um halb 9 im Büro. Am Empfang fragst du nach mir, sonst lassen sie dich nicht in den Sicherheitsbereich. Ich hol dich dann ab und regle deine Zugangsberechtigungen. Lass uns jetzt darauf anstoßen! Du trinkst doch ein Glas Champagner mit mir?“
„Ich … Chris … es ist … kommt alles so überraschend. Bitte entschuldige…!“
Ich hatte tatsächlich vor Freude angefangen zu weinen. Die Tränen konnte ich einfach nicht zurückhalten. Wahrscheinlich hätte ich mir selbst nicht so viel Vertrauen entgegen gebracht. Nicht, nach meiner Geschichte, wenn man sie mir erzählt hätte. Aber Chris hatte das völlig ausgeblendet. Es war wie er gesagt hatte, er war nicht mein Richter und er spielte sich auch nicht wie einer auf. Nicht wie einer dieser Moralapostel, die einem gleich einen Stempel aufdrückten.

Er stand auf, zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und tupfte mir die Tränen ab. Mit einem Stofftaschentuch, wie lange hatte ich sowas nicht mehr gesehen! Und seines hatte sogar Bügelfalten. Wahnsinn!
„Franzi, bringst du uns den Champagner? Josie braucht was für ihren Kreislauf!“
Verlegen, überwältigt und irgendwie unsicher, stammelte ich leise: „Danke“!
„Dank mir erst, wenn du dich bei mir wohlfühlst und du die Probezeit überstanden hast. Es wird nicht leicht werden, auch, wenn es sich jetzt vielleicht so angehört hat.“
„Ich verspreche dir, dass ich mir alle Mühe geben werde. Dein Job ist viel mehr, als … ach, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Du bist mein Retter in der Not.“
„Ach man Josie, du bist mir schon so eine. Du hast dich wirklich sehr verändert. Bist lange nicht mehr das junge, unschuldige Mädchen. Bei aller Unvernunft doch so erwachsen geworden, noch hübscher, als damals.“
„Brauchst du noch was Chris?“, leise hatte Franzi das Tablett auf den Tisch gestellt.
„Nein, danke Franzi.“, nickte er ihr zu. „Ach doch … könntest du bitte das Boot tanken lassen? Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, ich werde es die nächsten zwei Wochen noch brauchen müssen.“, grinste er in meine Richtung.
Mit einem gegenseitigen, tiefen Blick in unsere Augen stießen wir auf den vorerst mündlichen Vertrag an. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er nicht zu seinem Wort stehen könnte. Bei allen anderen Firmen hätte ich wenigstens auf eine kurze, schriftliche Bestätigung bestanden. Bei ihm nicht!
„Du hast dich aber auch sehr zu deinem Vorteil verändert! Viel ist auch bei dir nicht von dem pubertierenden Eigenbrötler geblieben. Mich hat es ja nie wirklich gestört, aber jetzt … eine Veränderung um 180 Grad. Aber sag mal: Führst du alle deine Personalgespräche hier?“
„Nein! Eigentlich gar keine! Nur manchmal bestelle ich mir meine Angestellten hier her, wenn ich nicht ins Büro möchte. Du bist die erste.“
„Ich frag nur, weil …, ach nichts!“
„VERTRAUEN Josie, du erinnerst dich?“
„Na ja, weil Franziska vorhin von den jungen Dingern sprach, die hier immer nervös werden.“
„Eifersüchtig?“
„Quatsch! Erstens kenne ich die nicht und zweitens, ist es doch deine Entscheidung.“
„Das stimmt. Es ist nur so, dass ich mir an manchen Tag den Luxus erlaube, von zuhause aus zu arbeiten. Dann lass ich mir von meinen Mitarbeitern die Unterlagen hierher bringen. Du wirst auch des Öfteren hier sein, darauf kannst du dich schon einstellen.“
„Damit komme ich klar, denke ich. Aber … ich ääähhmm, müsste mal ... die Aufregung, meine Blase.“
„Na klar, komm mit!“

Wie ein Anhängsel trottete ich hinter ihm her. Jetzt erst fiel mir auf, dass er die Fehlstellung seiner Hüfte und seines Beines nicht hatte korrigieren lassen, obwohl ihm das angesichts seines Reichtums bestimmt möglich gewesen wäre.
Es beeinträchtigte ihn nicht. Vermutlich war das der Grund, sich diesem Eingriff nicht zu unterziehen. Ich musste einfach hinsehen, scannte, wie er sich damit bewegte. Es hatte sich nichts daran geändert, wie schon in der Schule störte es mich auch jetzt nicht. Es sah weder komisch noch unbeholfen oder lächerlich aus. Es gehörte zu ihm.
Auch der Rest seiner Rückenansicht konnte sich sehen lassen: Breite Schulter, schmales Becken, Knackarsch … lecker.
Das Gäste-WC war schon so groß wie die Küche meiner elterlichen Wohnung. Hier war alles größer als woanders. Viel opulenter, von allem zuviel. Zu groß, zu modern, zu übertrieben, zu verschwenderisch. Vor allem, für einen alleine. Wozu das alles? Wahrscheinlich nur, weil er es sich leisten konnte.

Wieviel schöner wäre dieses Haus, wenn es mit einer Horde tobender Kinder belebt werden würde, wenn helles Kinderlachen die beängstigende Ruhe durchbrechen würde. So, war es eben nur ein Haus. Groß und schön, aber leblos. Nach meinem Dreier mit Sven und Herpes, schon der zweite Irrtum in kurzer Zeit, wie ich viel später erfahren sollte.
Schon als ich mir die Pussy mit einem Stück sorgfältig gefaltetem Klopapier abtrocknete, bekam ich plötzlich so ein beklemmendes Gefühl in der Brust, dieser Raum, dieser Ort raubte mir trotz seiner Größe den Atem.
Während ich mir die Hände wusch und mein Gesicht im Spiegel sah, fasste ich den Entschluss, sofort gehen zu wollen.
„Chris, sei mir nicht böse, aber ich muss los! Muss gleich noch zum Zahnarzt.“
„Schmerzen?“
„Nur Kontrolle und Reinigung.“
„Dann geht’s ja. Ok, dann sehen wir uns morgen um halb neun?!“
„Auf jeden Fall! Bis morgen und ein ganz dolles Dankeschön.“
„Ich freu mich! Ciao Josie.“

Langsam rollte ich den Kiesweg entlang. Nur dieses Mal in Richtung Haupttor, das wie vorhin schon langsam aufschwang und sich, nachdem ich hindurchgefahren war, wie von Geisterhand hinter mir schloss. Dieses Tor war für mich wie ein Stargate, wie ein Übergang in eine andere, für mich völlig neue Welt.


Fortsetzung folgt …

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