Mein Haar trage ich hüftlang. Auch, um meine Eigenwilligkeit hervorzustreichen. Ich bin Jana, eine Frau in ihrer fortgeschrittenen Jugend, was man meinem Körper aber nicht wirklich ansieht. Er wirkt, als wäre er aus Alabaster, für die Ewigkeit gemacht. Wenn ich nackt vor dem Schlafzimmerspiegel stehe, öffne ich manchmal meinen Dutt und lasse mein Haar fallen. In Wellen wirft es sich wie von selbst über meine Schultern, fliesst den Rücken entlang und erreicht schliesslich meine Hüften. Mancher Mann würde mit dem Leben dafür bezahlen, wenn er zuschauen dürfte, wie mein Haar fliesst, ich weiss das. Aber Männern gegenüber bin ich eher gleichgültig. Ich genüge mir selbst. Ich bin eine stolze, tierliebende Frau, und meine Schildkröten, Hühner, mein Pferd und mein Pferdchen haben mir die Treue geschworen.
Meine stramme Haltung, meinen muskulösen, wohlgeformten Hintern habe ich den stundenlangen Waldritten zu verdanken, Ritten durch den Wald, auf denen ich viel zu oft Biker:innen begegne, die ich am liebsten aus dem Weg trampeln würde. Nicht nur sind ihre Neopren-Anzüge zwischen den duftenden Föhren, Tannen, Pilzen und dem Fahrn komplett fehl am Platz, nein, die Biker:innen sind auch rücksichtslos und arrogant. Sie fühlen sich mir überlegen, obwohl ich von meinem geliebten Pferd Loretta auf sie herabschauen kann. Ich habe einen sehr strengen Beruf und bin eigentlich Tag und Nacht auf Achse – so häufig, dass ich gar nicht erst dazu komme, in mir Verlangen entstehen zu lassen. Klar streichle ich mich manchmal in den Schlaf, so, wie das Millionen meiner Geschlechtsgenossinnen auch tun. Klar geniesse ich es, wenn die Wärme in meiner eigenen Sauna meinem Körper schmeichelt. Ich bin ausgesprochen sinnlich, habe diese Sinnlichkeit in den letzten Jahren allerdings ein wenig verdrängt. Umso mehr freue ich mich, wenn Martin, einer meiner Whatsapp-Freunde, freudig reagiert, wenn ich ihm ein Bild von mir schicke. Klar, ich bin auf den Fotos immer angekleidet und würde niemals ein Nacktbild von mir versenden – obwohl das heute auch gar nicht mehr notwendig ist. Alle, die das wollen, können mich mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz ausziehen.
Aber, wie gesagt. Für mich persönlich ist das Besondere an mir nicht mein Körper. Darüber sollen die Männer meinetwegen fantasieren, wie sie wollen. Ich habe zwei Brüste, einen Bauchnabel und hübsch getrimmtes Schamhaar wie die meisten meiner weiblichen Weggenossinnen auch. Dazu gibt es nichts zu sagen.
Nein, das Besondere an mir ist wirklich mein Haar, früher kastanienbraun und rötlich leuchtend, wenn sich die Sonne darin verlor. Zeit meines Lebens wurde ich auf meine Haarpracht angesprochen, Haar, das ich bis heute liebevoll pflege. Beim Reiten stecke ich mir einen Dutt, weil sich mein offenes Haar im Geäst verfangen könnte. Nach hinten vom Pferd gerissen – nein, diese Blamage, diesen Schmerz möchte ich mir ersparen. Ich bin eine stolze Frau, und ich mag mich so, wie ich bin. Ich würde mir selbst niemals Schmerzen zufügen.
Und dann das.
Wohlverdiente Ferien mit meiner Freundin, die im selben Beruf arbeitet. Sie ist Deutsche, ich Schweizerin. Wir mögen einander sehr, sind uns auch körperlich zugetan, obwohl wir unsere Grenzen wahren. Dann stand uns dieser Einkaufsbummel bevor. Wir hatten uns in einem Bungalow mit Doppelbett eingemietet, und die Kochnische war verlockend. Kochnischen haben es oft an sich, dass sie nicht beachtet werden. Es ist Ferienzeit, und da ist es doch wesentlich schöner und angenehmer, ein Restaurant aufzusuchen, gemütlich einen Wein zu schlürfen und sich Krevetten servieren zu lassen, Guacamole, Pitabrot und was der leckeren Dinge mehr sind.
Einmal, ein einziges Mal aber wollten wir zusammen kochen, die Luise und ich. Luise ist komplett anders gebaut als ich; ihr BMI von 28 bereitet ihr schon seit längerer Zeit Sorgen. Ich hingegen schaue ihr gerne zu, wenn sie sich auszieht. Ihr molliger, warmer, runder Körper lässt mein Herz höherschlagen, und ich spüre in dem Moment, in dem sie ihr Nachthemd überstreift, dass ich sie wirklich mag.
An jenem Spätnachmittag kam sie aus der Dusche, die Hüften in ein buntes Badetuch gehüllt. Lachend sagte sie mir, dass die Sonne es richten würde, mit ihrem Haar, es würde rasch trocknen. Aber sie freue sich auf einen Lebensmittel-Einkaufsbummel mit mir. Nun war das einzige Geschäft in der Nähe ein veritabler Store, mit Endloskorridoren, Neonbeleuchtung und grünem Laminatboden. Ich verstand sofort, warum, als ich vor mir eine entnervte Mutter beobachtete, ihr Kind im überfüllten Einkaufswagen, und es streifte sich seine Windel ab und schleuderte sie zornentbrannt zu Boden. Gut, waren diese Böden wasserabweisend und wischfest.
Während Luise sich in die gigantische Weinabteilung verzog, ging ich sinnierend einen Korridor entlang, in dem es nach allen denkbaren Gewürzen roch. Ich trug mein langes schwarzes Lieblingskleid und neue Espadrilles, mein Dutt war extra sorgfältig fixiert. Ich dachte mir nichts weiter, bis ich hinter mir ein Geräusch vernahm. Ich bin keine schreckhafte Frau, am Spätnachmittag schon gar nicht, also verlangsamte ich den Schritt und lenkte meine Konzentration auf die Lachs-Aktionsangebote in den Kühltruhen.
Der Gedanke, woher heute, in den leergefischten Meeren, Lachs überhaupt noch kommt, war für mich unvermeidlich, und ich atmete tief durch. Die Kühle, die mir aus den Truhen entgegen strömte, tat mir sehr gut; draussen herrschten gefühlte 35 Grad. Gut denkbar, dass der ärmere Teil der Bevölkerung hier im Store seine Nachmittage verbrachte, um kühle Luft den Armen entlang streifen zu lassen – eine der letzten Vergnügungen der so genannten „letzten Generation“, die den Klimawandel vor Jahren komplett vergeblich bekämpft hatte. Die Gletscher waren so gut wie weg, Kalifornien ertrank in den Fluten, Florida trocknete aus und war derart von Heuschrecken gesegnet, dass den Einwohnern nichts anderes übrigblieb, als sie zu Mehl zu verarbeiten und dann Heuschreckenbrot zu backen.
Insekten. Wöge man alle Insekten dieser Welt, sie hätten etwa das siebzigfache Gewicht der gesamten Menschenmasse. Menschenmasse. Nein, eigentlich liebe ich Menschen, sogar sehr, insbesondere Frauen und ihre Babies. Aber in der Gesamtheit, so denke ich mir manchmal, handelt es sich beim Homo Sapiens um nichts als um einen widerlichen, schlingenden Koloss. Insbesondere, wenn er in einem Neopren-Anzug steckt.
Dann stand er vor mir. Ein Mann. Mit seinem dunkel gewellten Haar wirkte er attraktiv – was aber durch sein Stottern, es sei ehrlicherweise gesagt, ein wenig gemindert wurde. „Da...da... darf ich Dich etwas fragen?“ Ich war derart verdutzt, zwischen zwei Kühltruhen neben einem Käseregal von einem jungen Mann angesprochen zu werden, dass ich nicht sofort antwortete. „Da... da... dieses Haar... ist es echt?“ Er interessierte sich für mein Haar, und seine Augen leuchteten. Intuitiv betastete ich meinen Dutt – im Wissen, dass ich ihn besonders sorgfältig hochgesteckt hatte. Ich war beruhigt, als ich feststellte, dass alles noch an Ort und Stelle war.
„W... wie lang ist Dein Haar, wenn Du Deinen Dutt löst?“, fragte mich der junge Mann atemlos, mit geweiteten Augen. Die Frage überraschte mich derart, dass ich nicht anders konnte als ihm zu antworten. „Hüftlang sind sie“, sagte ich und konnte ein verlegenes Lachen nicht vermeiden. Mitten im Lokalkolorit einer menschlichen Futterkrippe, wie ich solche Geschäfte immer wieder spasseshalber bezeichne, in einer neonbeleuchteten menschlichen Futterkrippe, zwischen zwei Kühltruhen, fragt mich doch tatsächlich ein Vertreter der männlichen Spezies nach meiner Haarlänge.
„Hü... hüftlang“, sagte er und liess das Wort über seine Zunge perlen. Natürlich wurde mir bewusst, was für ein Film jetzt in seinem Kopf abging, und ich konnte nichts weiteres unternehmen als einfach da zu stehen. Bestimmt sah er vor seinem geistigen Auge mein dichtes, langes Haar über die Schultern wallen, wellenförmig, in Richtung meines Hinterns. Und, klar, er stellte sich mich nackt vor. Ich unterstelle das den Männern nun mal – dass sie uns irgendwann in Gedanken entkleiden, seien es Kollegen, Schalterbeamte oder Polizisten. Sei's drum, dachte ich mir, wir Frauen sehen ja ohnehin alle ähnlich aus – und es gibt Millionen von uns. Die exakte Farbe meiner Halsvenen, die Form meiner Brüste, die Textur meiner Nippel, die liebevollen Details meines Nabels, mein getrimmtes Schamhaar entzogen sich ja der hungrigen männlichen Meute.
Kurzerhand machte ich einen Umkehrschluss. Eigentlich stelle ich mir die Männer, mit denen ich zu tun habe, nie nackt vor – wozu auch? Es sind doch einfach Kollegen, mit denen sich diskutieren und ein Bier trinken lässt – meine Freundinnen sehen das ähnlich. Nur Männer sind komplett besessen und wollen unbedingt wissen, was Frau untendrunter trägt – ich, in meinem Fall, unter meinem schönen schwarzen Sommerkleid. Grüne Unterwäsche, was sonst... aber das männliche Gehirn vergisst alles, was jemals war, beim Gedanken, mir mein schwarzes Kleid abzustreifen.
Sei's drum.
Dann stellte mir der junge Mann die alles entscheidende Frage: „Würdest Du es... nur für mich... fa... fa... fallen lassen? D... Dein Haar? Bis zu Deinen Hüften?“
Ich war sprachlos. Normalerweise hätte ich mich empört abgewandt – aber der Mann entschuldigte sich. „Ich... w... will... Dir k... kei... keineswegs zu nahetreten“, sagte er errötend. Hin- und her gerissen zwischen Mitleid und Rührung senkte ich den Blick. In diesem Moment konnte ich ihm nicht in die Augen schauen. Eine Frau, die ihren Dutt öffnet und ihr Haar wallen lässt, ist ein wahrlich atavistisches Vergnügen, eines, das wohl wirklich allen Männern unter die Haut geht. Das war mir bis zu diesem Moment nicht bewusst. Klar – ich hatte einen möglicherweise kranken Haarfetischisten vor mir. Aber was heisst da krank? Andere erfreuen sich an weiblichen Handgelenken oder an den feinen blauen Venen, die sich auf stillenden Brüsten abzeichnen. Sah ich das zu eng? Dennoch entschied ich mich für ein deutliches „nein“, dass mir wie eine Erleichterung vom Herzen fiel. Mit Blicken suchte ich nach meiner Freundin. Ich wollte nur eines: Weg von hier. Der Mann und ich hatten uns nichts mehr zu sagen, der Zauber war weg – zumindest bei mir. Er war, wie bereits gesagt, gutaussehend – und sein kleiner Wunsch war alles andere als bedrohlich. Dennoch sehnte ich mich zurück in die Normalität, so, als würde ich gerade eine geschlossene psychiatrische Abteilung verlassen.
Ich nickte ihm kurz zu, wandte mich um und schritt entschlossen in Richtung der Weinabteilung. Natürlich spürte ich seine Blicke auf meinem Hintern, aber ich ignorierte das mit einem leichten Schaudern. Was für einen Traum würde ich ihm wohl in der kommenden Nacht bescheren, wenn er, möglicherweise allein in einer kleinen Hütte am Strand, den Schlaf suchte und nicht fand? Hatte ich ihm Unrecht getan? Er wollte doch nur... mein Haar, mein Haar, das alle meine Freundinnen und Freunde attraktiv finden und als eines meiner Markenzeichen anerkennen.
Endlich fand ich Luise, die einen erklecklichen Betrag für Spirituosen von ihrer Visakarte abbuchte – aber warum nicht? Es war Ferienzeit, und ich freute mich auf mehrere Apérol-Spritz-Abende mit ihr. Draussen vor dem Store wandte ich mich nochmals um, aber da war niemand. In der Strandkneipe neben unserem Bungalow bestellten wir uns beide einen Mojito, und ich konnte es kaum erwarten, Luise von meinem unglaublichen Abenteuer zu erzählen. Noch während des Erzählens gluckste ich, Luise auch, dann wanden wir uns beide in einem Lachkrampf. „Ach... Jana...“, keuchte sie. „Warum hast Du Dich nicht gleich vor ihm ausgezogen, zwischen den Kühltruhen mit dem Aktionslachs, direkt neben dem Käseregal, damit er von Deinen wundervollen Hüften auch noch was mitbekommen hätte? So eine Art hair-down-show wie auf Tiktok?
„Hair-down-was?“ Ich blickte meine Freundin verständnislos an, und da zückte sie schon ihr Smartphone. In der Tat... unter dem Stichwort „let-your-hair-down-3-2-1“ konnte man sich durch Dutzende von Frauen scrollen, meistens von hinten zu sehen, und alle nestelten an ihrem Haar, um es sich über Schultern, Rücken und Hintern fallen zu lassen. 3-2-1. Der Count Down, möglicherweise um ein Vielfaches anregender als der Count Down einer Mondrakete auf Cape Canaveral. „Die Männer haben ja nicht mehr viel“, sinnierte ich. Von #metoo vorverurteilt, unter der Inflation leidend, sich mit abnehmender Spermienqualität auseinandersetzen müssend, und waren sie einmal ü50, sahen die Frauen durch sie hindurch, und zwar alle, auch diejenigen, die 10 Jahre älter waren. Verliebte man sich als ü50-Mann in eine ü40-Frau, galt man als pädophil.
Also warum sollten sich Männer nicht... in die Bettdecke kuscheln, mutterseelenallein, klar, und ein bisschen let-your-hair-down-tik-tok-scrollen? Letztes echtes Abenteuer der abend- aber natürlich auch der morgenländischen, bis anhin patriarchal geprägten Kultur? War wallendes, um die Hüften fliessendes Frauenhaar das Aufbruchssignal in eine neue, bessere Welt?
Es folgte eine neue Lachsalve, und endlich, nach Bruschetti und einem kräftigen Glas Brunello, begaben sich die beiden Frauen in ihren Bungalow.
Jana duschte ausgiebig, so, als müsste sie sich etwas vom Körper spülen. Irgendwie schauderte sie wegen dieses Stotterers halt doch. Die Situation war nun mal bizarr. Bei den Kühltruhen mit den Lachs-Aktionen, neben dem Käseregal. Let your hair down.
Am nächsten Abend betraten die beiden Frauen, nach einem Nachmittag im Städtchen, erneut ihre Wohnung. Jana öffnete vor dem Wandspiegel ihren Dutt und liess ihr Haar fallen.
Den Schatten vor dem Fenster erblickte sie im letzten Moment. Er war verschwunden, bevor sie sich über die Brüstung lehnen und nachschauen konnte.
Hüftlang
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