Tagelang tat sich nichts. Er war wieder völlig in seiner Arbeit versunken und vom Alltag absorbiert, als eines Abends eine WhatsApp erschien. „Könnte ich mir vorstellen“. Er musste sich erst sortieren, bis ihm einfiel: Das musste „Carmen“ sein. So hatte er sie in seinen Gedanken und Phantasien getauft. Irgendwie schien ihm dieser rassige Name zu der unbekannten jungen Frau zu passen. „Wann denn?“ „Vielleicht Mittwoch 15.00 hinter dem Schloss am Eingang zum Park“. „Schön. Ich komme“. Das war noch einige Tage hin, aber es ging voran.
Zur vereinbarten Zeit war er dort und sah sie kommen – wieder im gewohnten lässigen Outfit mit Chucks. „Hallo“, „Selber hallo. Schön, dass Sie gekommen sind“. Das klang jetzt vielleicht sehr förmlich und steif. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“ „Darüber habe ich viel nachgedacht. Auch wenn es komisch klingt, ich kann es gar nicht so genau sagen. Ihre Augen sind so einzigartig. Die haben mich von Anfang an angezogen wie Ihre ganze Ausstrahlung“. „Bist du nicht etwas alt im Vergleich zu mir? Du könntest mein Vater sein!“ „Ich weiß“. Er war ihr dankbar, dass die Frage der Anrede offenbar entschieden war. „Du bist mir sympathisch und hast etwas Besonderes an dir. Ich glaube, ich bin einfach gerne in deiner Nähe. Sollen wir ein Stück durch den Park laufen?“ „Können wir, ich habe Zeit und heute Mittag keine Lust mehr auf Vorlesung“. Am Ende waren sie zwei Stunden durch den Park geschlendert, auf Bänken gesessen und hatten sich immer entspannter über Gott und die Welt unterhalten. „Sollen wir das wiederholen?“ „Warum nicht“, sagte sie etwas einsilbig, ihr Blick verriet aber anderes. „Übermorgen, gleiche Zeit, gleicher Ort?“
So fingen die Nachmittage an. Das beginnende Frühjahr machte es ihnen leicht. Manchmal berührten sich ihre Hände, wenn sie nebeneinander herliefen. Anfangs zuckten beide zurück. Dann störte es nicht mehr. Eines Tages griff er nach ihrer Hand – und sie ließ nicht los. „Was die jetzt wohl denken? Papa, oder gar Opa mit Tochter oder Enkelin?“ „Na, so alt bin ich nun auch wieder nicht! Papa könnte schon sein. Als was siehst du uns denn?“ „Zwei Menschen, die sich mögen, einander viel zu erzählen haben“.
Ich nenne sie Carmen
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Ich nenne sie Carmen
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