Er schlägt die Augen auf und muss sich erst einmal orientieren. Schnell merkt er: Er liegt nicht in seinem Bett. Er schaut nach rechts auf dunkle Locken. An seiner Seite spürt er Wärme. Neben ihm liegt eine nackte Frau und ihm dämmert: Natürlich, das ist „Carmen“. Sind sie gestern Abend am Ende in ihrem Bett gelandet …
Doch von vorn:
Die junge Frau war ihm im Bus begegnet, wenn er zur Arbeit und sie wohl weiter zur Uni fuhr. Von Anfang an hatte sie ihn fasziniert. Ihre knabenhafte Figur, dunkle, freche Locken – und vor allem diese Augen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Der Blick war verschleiert und hatte durch das lebendige Farbenspiel der Pupillen eine einzigartige Wirkung. Es waren immer zuerst diese Augen, zu denen es ihn zog. Ihnen galt sein erster Blick, der restlichen Person die folgenden. Er konnte nicht ablassen, sie anzuschauen, wenn sie ihm einige Reihen entfernt gegenübersaß. Anfangs wich sie seinem Blick aus, dann realisierte er, dass sie auch zu ihm blickte und dann schnell wegschaute, wenn sich ihre Blicke kreuzten. Zu seinem Bedauern traf er sie nicht regelmäßig. Aber wenn es geschah, dann war das ein toller Start in den Tag. Wegen seiner Kurse nahm er oft das Auto. So dauerte es einige Wochen, bis er ihr wieder im Bus begegnen konnte. Einmal stellte sie sich schweigend neben ihn, um wie er auf den Bus zu warten. Natürlich sprach er sie nicht an. Warum eigentlich?
Wochen später begegnete er ihr in allen drei Verkehrsmitteln, die er zur Arbeit benutzte. Im völlig überfüllten Zug stand sie plötzlich da – wieder auf Entfernung, aber doch wechselseitig magnetisch angezogen im Blickkontakt. In der U-Bahn stieg sie unterwegs zu und selbst im Bus saß sie wieder gegenüber. Er war im Glück. Weil seine Arbeitsstelle Ende des Jahres verlegt werden sollte, musste er in den kommenden Wochen vorankommen. Durfte er das – in Zeiten von „Me Too“? Er könnte ihr Vater sein. Als es nach Wochen wieder zur Begegnung an der Bushaltestelle kam, fasste er sich ein Herz und sprach sie an. „Entschuldigung, kommen Sie auch aus Richtung Böblingen?“ Sie war verdutzt. „Weil ich sie kürzlich im Zug gesehen habe“. „Ach, da kam ich von meinen Eltern. Nein, ich lebe hier in der Stadt“. „Sie sind an der Uni“ „Ja“. „Darf ich Sie fragen, welches Fach?“ „Lebensmittelchemie“. „Ah, interessant. Dann können Sie ja zum Institut Fresenius gehen, das Nutella untersucht“. Der Witz war wohl mäßig. Der Bus kam. Bevor sie in unterschiedliche Richtungen gingen, schob er ihr einen Zettel zu. „Falls Sie einmal Lust auf einen Kaffee haben, hier meine Nummer“. Das war gewagt.
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