Ich seh dich als Kind

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Ich seh dich als Kind

Ich seh dich als Kind

Oliver Schulz

Ich seh dich als Kind. Ich seh dich ganz genau.
Du lachst, und dein Lachen hat genau die richtige Größe. Du sitzt auf der Schaukel im Hintergarten und schaukelst ganz vorsichtig, so als wolltest du freundlich sein zu dem alten Schaukelgestell, dessen Mittelbalken sich schon etwas durchbiegt. Der Mittelbalken lächelt dir freundlich zu, er weiß deine Rücksicht zu schätzen, und immer, wenn du nach hinten Schwung holst, geben die Scharniere ein leichtes, zustimmendes Quietschen von sich. Du magst dieses Quietschen, hast dich ganz und gar daran gewöhnt, willst es jedesmal hören. Und wenn es kommt, gerade in dem Moment wo du weißt, das es kommen muß, lachst du noch ein wenig mehr.
Meine Vorstellungen geraten durcheinander, wenn ich dich so sehe. Dein Gesicht, deine Arme, Beine, - fast alles an dir ist ungewöhnlich rund. Du hast mir nie gesagt, daß du ein rundliches Kind warst, und ich bin wirklich überrascht.
Der Flieder neben der Schaukel, der holprige, mit Gänseblümchen gesprenkelte Rasen, die verwilderten Hecken, die beiden weiß blühenden Apfelbäume: alles ist für dich da. Sogar das schmale Gemüsebeet widmet dir, genau wie ich, seine ganze Aufmerksamkeit.
Einzig die vom Nachbargarten herüberschwebende Hummel, plump und leichtfertig, ist für einen kleinen Moment abgelenkt und karamboliert mit deiner rechten Wange. Halb betäubt schwirrt sie über die Hecke davon und läßt dich ziemlich verdutzt zurück. Alles ging viel zu schnell und du weißt gar nicht wie dir geschehen ist. Ein kurzes Stirnrunzeln huscht über dein rundes Gesicht. Den Kopf voll neuer Gedanken springst du von der Schaukel und entschwindest mit eilenden Schritten hinter der Tür des von Efeu umrankten Hauses.
Ich allein bleibe im Garten zurück, seh dir nach, obwohl du längst woanders bist. Meine Wachsamkeit läßt nach, und langsam verliert sich der Garten meiner Erinnerung.
Ich bin dir nie begegnet zu dieser Zeit, obwohl ich damals auch noch ein Kind war. Und jetzt bin ich ein anderer.
Aber es gibt dieses Foto von mir. Es klebt irgendwo zwischen den Seiten meiner Kindheit, in einem hellblauem Fotoalbum, von dem ich nicht einmal weiß, ob es noch existiert. Nur dieses Bild in meinem Kopf, in den verblaßten Farben von 1971, ist noch da.
Ich stehe in einer Garageneinfahrt, trage mehr oder weniger unmögliche Latzhosen aus hellbraunem Cord und ein buntkariertes Holzfällerhemd. Mein Kopf neigt sich schräg zur Seite und die Augen in meinem runden, von Sommersprossen übersäten Gesicht blinzeln in die Mittagssonne. Mein Haar ist blond und zu einem unsäglichen Pißpottschnitt zurechtgestutzt. Ich lache auf diesem Bild.
Ich habe auch anders ausgesehen als Kind. Ich war bestimmt schöner, bestimmt häßlicher als auf diesem Bild. Aber wenn ich mich selbst als Kind sehe, dann reise ich durch die Zeit und bin der Fotograf dieses einen Bildes. Ich stehe vor der Garageneinfahrt, schaue durch den Sucher einer billigen Kleinbildkamera und sehe, mit aller Wucht und Überzeugung, die ersten sechs Jahre meines Lebens.
Ich verfüge über keine besonderen Begabungen. Das einzig Besondere an mir ist die Fähigkeit, die Dinge auf eine merkwürdige und oft auch falsche Art anzugehen. Und das ist sicherlich kein Talent auf das man stolz sein könnte.
Wir Jungs spielten immer bei den Garagen in unserer Straße. Es war eine Reihe von heruntergekommenen Wellblechverschlägen, hinter denen ein längst vergessener Kieshaufen lag. Auf das Dach der Blechgaragen zu klettern und uns unter Darbietung wildester Kunstflugfiguren in den Kieshaufen zu stürzen, wurde zu unserem liebsten Spiel in jenem Sommer. Einmal jedoch, als wir wieder einmal das Garagendach erklommen hatten, wurde mir angst und bange beim Blick in die Tiefe. Die anderen machten sich zum Sprung fertig, und ich zog mich so unauffällig wie möglich zurück. An der Aufstiegsseite beim Regenrohr angekommen war mir nicht weniger mulmig. Wo ich ohne weiteres hinaufgelangte, erschien mir das Hinunterkommen erheblich schwieriger. Nach einiger Überlegung beschloß ich, der besseren Übersicht wegen, kopfüber hinunter zu klettern.
Der Anfang war leicht. Langsam schob ich mich über den Rand des Daches und zog mich vorsichtig am Rohr hinab. Aber auf halbem Wege wurde es komplizierter. Ich versuchte weiter zu krabbeln, doch mein linker Fuß blieb in der Dachrinne hängen, und auch mit heftigem Zerren war kein Loskommen. Da ich nicht weiterkam, stieß ich mich kurzentschlossen von der Dachrinne ab, baumelte an meinem Fuß drei-, viermal in der Luft hin und her, und landete mit lautem Geschrei auf dem harten Boden. Von meinem Geheul alarmiert, rannten die anderen herbei und begleiteten, nachdem ich mich aufgerappelt hatte, meinen humpelnden Heimweg.
Den Rest des Sommers verbrachte ich mit einem juckenden Gipsfuß und war vollauf beschäftigt, mir mit einem alten Kochlöffel Linderung zu verschaffen. Nicht, daß die Sache ganz falsch gelaufen wäre, aber doch ganz anders als ich dachte. Darin liegt mein Talent. Meinen Gipsfuß hättest Du wirklich mal sehen sollen.
Ich glaube, wir hätten uns gut verstanden, du und ich.
Als Kind hast du Jungs nicht besonders gemocht. Und auch ich konnte mit Mädchen nicht so besonders viel anfangen. Wir hätten etwas anderes gezeigt, nicht uns selbst. Ich sehe uns in einem Theaterstück nur für Kinder, das nur Kinder verstehen. Eine Art verkleinerte Ausgabe von Liz Taylor und Richard Burton in "Wer hat Angst vor Virginia Woolf". Es hätte lange gedauert, vielleicht einen Sommer voller Flüche, Tritte und anderer Gemeinheiten.
"Idiot!", so hättest du mich genannt. "Zimtzicke!", hätte ich zurückgebrüllt, an deinen langen Haaren gezogen und einen heftigen Tritt ans Schienenbein abbekommen. Ich wäre wirklich nicht nett zu dir gewesen, und du hättest guten Grund gehabt, mit allen nur greifbaren Gegenständen auf mich loszugehen. Schreiend und weinend hätte ich mein Heil in der Flucht gesucht und mich im verborgensten Winkel verkrochen. Allein mit heftig schlagendem Herzen, dem Duft deiner Haare und dem Gefühl deiner warmen, weichen Haut.
Es wäre all die Schrammen wert gewesen.
Zum Ende, zum Anfang, ich kann das nicht sagen, würde es trotzdem passieren. Unser erster, schüchterner Hyperlichtgeschwindigkeitskuß. Unvermeidlich, unendlich.
Jetzt bist du hier. Wir liegen schlafend beieinander wie die Kinder, die wir einst waren.

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