Im Tunnel von Eupalinos

43 7-11 Minuten 1 Kommentar
Im Tunnel von Eupalinos

Im Tunnel von Eupalinos

Anita Isiris

Elias betrachtete sie immer mit einer gewissen Scheu, und ganz sicher wäre er ihnen niemals zu nahegetreten, den Touristinnen, die sich Jahr für Jahr, Saison für Saison wie flüssiger Sirup über Samos ergossen. Elias arbeitete auf seiner Heimatinsel im Strassenbau, und es war für ihn ein Privileg, überhaupt einen Job gefunden zu haben in den schwierigsten Zeiten, seit Griechenland beinahe einem Staatsbankrott anheimgefallen war. Elias wusste, dass diese Frauen, die dem Flugzeug meist in Begleitung eines Partners entstiegen, von weit herkamen. Zum Teil hatten sie an die 20 Flugstunden oder mehr hinter sich, und Elias, der nichts auf der Welt mehr liebte als Frauenkörper, hätte sämtliche Jahre seines Lebens dafür gegeben, der einen oder anderen von ihnen das Kreuz zu massieren. Vor allem die Michaelis-Raute, dieses Elysium göttlicher Schöpfung, hatte es ihm angetan. Hätten die Frauen davon gewusst, oh ja, sie hätten sämtliche Jahre ihres Lebens dafür gegeben, sich von einem wie Elias das Kreuz massieren zu lassen, und sie hätten es zugelassen, dass er ihre Michaelis-Raute bewunderte, nach einem nie enden wollenden Flug. Die Sommerhitze hatte mal wieder den Asphalt in weiten Teilen des Flughafens aufreissen lassen, und Elias, dessen schönes griechisches Antlitz ein Schweissfilm überzog, fühlte sein Herz bis in die Ohren pochen, als die angekommenen Paare, zum Teil auch mit Kindern, an ihm vorbeizogen, während er kurz innehielt, um mit gesenktem Blick die eine oder andere Frau zu mustern, und zwar bis ins letzte Detail. Elias hatte eine Leidenschaft, die sein ganzes Leben bestimmte und ihm womöglich auch das Recht gab, bei den Frauen ganz genau hinzuschauen. Elias war Kunstmaler, wenn er diese Leidenschaft auch für sich behielt.

Sein ganzes Sehnen und Streben galt dem Meer, der zischenden Gischt, den Fischerbooten, dem Hafen des vertrauten Pytagoreion, denn dort war Elias aufgewachsen, in einem bitterarmen Haushalt, mit zwei Schwestern, und die kargen Lebensumstände hatten es den drei Geschwistern verunmöglicht, so etwas wie frühe Jugend zu erleben oder schon nur daran zu denken. Mit seinen 26 Jahren war Elias noch immer jung, seine beiden Schwestern, Anita und Ramona, mit ihren 18 und 21 Jahren erst recht. Aber Elias erkannte für sich keine allzu grossen Lebensperspektiven. Er hatte sich zwar schon das eine oder andere Mal in eine der einheimischen Inselschönheiten verliebt, hatte die eine oder andere Brust berührt, die eine oder andere Hand gehalten. Aber zum äussersten war es nie gekommen, denn Elias' Herz, sein wahres, innerstes Herz schlug für die Touristinnen aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz.

Und dann, bevor er seinen Presslufthammer wieder anwarf, um den einen oder andern Riss zu verbreitern und ihn anschliessend mit wieder mit Bitumen aufzufüllen, sah er sie. Er würde sie Jana nennen, Jana aus dem unbekannten Norden, und er wusste auf Anhieb, dass Jana ihn in seinen Träumen begleiten würde, wohin ihn diese Träume auch führen würden. Jana trug ein malvenfarbenes Jäckchen, wegen des Windes, der auf dem kleinen Flughafen herrschte, und sie trug ein knielanges rotes Sommerkleid mit hellblauem Blumenmuster auf der Rückenseite. Jana, wie er sie nannte, trug an ihrer linken Fessel ein Fusskettchen, und schon nur der Gedanke, dass dieses Fusskettchen an den Knöcheln seiner imaginären Jana, deren echten Namen er wohl nie kennenlernen würde, rieb, reizte ihn bis in die Haarspitzen. Elias hätte alles, wirklich alles dafür gegeben, an des Fusskettchens Stelle sein zu dürfen, auch in der leisen Hoffnung, die er sich allerdings kaum einzugestehen wagte, aus dieser Position heraus ab und zu einen Blick unter Janas Kleid zu erhaschen. Die Füsse der Frau steckten in eleganten Espadrilles, und Elias verdrängte mit aller Macht die Tatsache, dass neben Jana ihr Partner oder Ehemann einher ging, mit grimmigem Gesicht, einen Rollkoffer schiebend. Mit einem Seufzer öffnete Elias seine Evian-Flasche, tat einen kräftigen Schluck und arbeitete weiter. Als er wieder aufblickte, war Jana verschwunden.

Endlich konnte Elias seine Arbeit niederlegen, und er rechnete im Kopf nach, ob sein spärliches Geld für Souvlaki in einer der Tavernen reichen würde. Die Zahl, die in seinem Kopf blinkte, leuchtete positiv und verführerisch, so dass sich Elias auf den Weg in sein einfaches Zimmer über dem Fischmarkt machte, dass ständig in einen Meer- und Muschelgeruch gehüllt war, und sich den Strassenstaub vom Körper duschte. Elias war, was seinen Körper anging, keineswegs von schlechten Eltern, seine beiden Schwestern ebenfalls nicht, und seine Mutter war als junge Frau eines der schönsten Wesen gewesen, das Zeus' und Heras' Erdboden je betreten hatte – bevor sie dann mit nur 40 Jahren aufgrund einer Lungenentzündung dahingerafft worden war. Elias konnte nicht anders und spielte ein wenig an seinem eindrücklichen Gemächt herum, in Gedanken ganz bei der Frau, die ihm am Flughafen die Sinne geraubt hatte.

Dann machte er sich gut gelaunt auf den Weg und freute sich über die Dinge, die da kommen sollten. Kretsia, die Tochter des Tavernenwirts, machte Elia seit länger Zeit schöne Augen, und es war ihr sogar gelungen, in Elias' Herz vorzudringen, aber nur fast. Kretsia hatte wunderschöne dunkle Augen, in denen sich ihre reine Seele spiegelte, und wenn sie eines ihrer weissen Kleider trug, kamen ihre runden Schultern auf schon fast künstlerische Weise zur Geltung. Elias hätte viel darum gegeben, sie eines Tages malen zu können, auf einem Felsvorsprung, in einem ihrer fliessenden Baumwollkleider. Aber er hatte sich nie getraut, Kretsia anzusprechen, und ihr Vater hatte für seine Tochter Besseres vor, als sie an einen Strassenarbeiter wie Elias zu vermählen.

Dann blieb Elias das Herz stehen. Am Nachbartisch erkannte er zuerst das Fusskettchen, der ihn bereits am Flughafen hypnotisiert hatte. Sein Blick glitt höher, und da sass sie, Jana, lachend einen Apérol Sprizz schwenkend. Für einen sehr kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, und Elias vermeinte in diesem Sekundenbruchteil, ein tiefes Sehnen in Janas Augen festzustellen.

Gyros, Tzatziki, griechische Pasta, griechische Salate,der zarte Duft von Zitrone und Oliven, sonnengereiftes Gemüse, mediterrane Kräuter und Gewürze. Jana entschied sich für einen schlichten griechischen Salat, ihr Partner für ein Cordon Bleu. Schon nur wie Jana die Gabel zum Mund führte, dieser meditative Anblick versetzte Elias irgendwohin nach Arkadien, in eine Gegend, die dieser Welt entrückt ist, und im Geiste sah er die ahnungslos speisende Jana, nackt, eine Pinie umarmend und von ihm in lebendigen Hautfarben gemalt und kunstvoll ins Licht gesetzt. Spasseshalber würde er auf dem Bild ein paar Bienen um Jana herumschwirren lassen, die ihr selbstverständlich nichts taten. Aber Bienen, so dachte es sich Elias, gehören nun mal zu Arkadien, und ohne Bienen gäbe es keinen arkadischen Honig.

Die Zeit floss dahin, und irgendwann standen die Zeichen zum Aufbruch. Nun trafen sich die Blicke von Jana und Elias für mehrere Sekunden, und es bestand kein Zweifel, dass auch die Nordschönheit Feuer gefangen hatte, ein Feuer, das sie allerdings möglichst rasch zum Erlöschen bringen musste, denn Jana war verheiratet.

Als das Paar die Taverne verliess, blickte Elias Jana nach, so diskret es eben ging, und er nahm ihre wiegenden Hüften in sich auf. Er war allerdings viel zu poetisch veranlagt, um sich Janas Hintern in seiner prallen, verlockenden Form vorzustellen, sondern betrachtete sie, wie das bei vielen Künstlern so üblich ist, als Gesamtkunstwerk. Ein Gesamtkunstwerk mit einem Fusskettchen an der linken Fessel.

Die Tage zogen sich dahin, ein stahlblauer griechischer Himmel brachte die Insel zum Glühen und die vielen weissen Mäuerchen zum Glimmen, so, als hielte Zeus tatsächlich seine Zauberhand darüber, auf dass die Menschen, trotz eklatantem Wassermangel, glücklich seien und ein zufriedenes Leben fristeten. Dann war da dieser Mittwochabend. Elias sass am Strand, auf seinem Badetuch, wissend, dass die Sonne ihm wohl kaum eine noch kräftigere Farbe schenken konnte als die, die er ohnehin schon hatte. Dann erstarrte Elias. Vor ihm befand sich ein Steintreppchen, zuoberst von einer Mauer gesäumt, und dort stand... Jana. Seine Jana. Seine begehrenswerte Jana. Und in genau diesem Moment erwies ihm Poseidon die grösste Gnade, die er wohl jemals einem Menschen hatte, zuteilwerden lassen. Denn Poseidon mochte die Menschen eigentlich nicht. Darum liess er sie reihenweise in seinem Reich, der Ägäis, verschwinden, den Fischen zuliebe, die sich genussvoll an den ihnen von Poseidon zugehaltenen Wasserleichen labten, um dann in einem Netz und später auf den Tellern in den Tavernen zu landen. Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen. Wie das Leben nun mal so spielt.

Nun aber zu Elias' magischem Moment. Es ist der Moment, der etwa dafür zuständig ist, dass so viele Männer vor ihrer Zeit einen Herzinfarkt erleiden. Es ist der Bruchteilsekundenmoment, der alle, die Frauen zugeneigt sind, sofort in Schnappatmung versetzt. Man stelle sich eine Frau vor, in einem knielangen Baumwollkleid, die sich kurz hinkauert, um ihren Schuh neu zu binden. Oder die Zugspassagierin, mit züchtig übereinander geschlagenen Beinen. Aber irgendwann wird sie aufstehen und ihren Koffer vom Gepäcknetz hieven. Es sind diese Momente, die Männern einen, wenn auch sehr kurzen, Blick auf den Baumwollstoff geben, der das weibliche Becken bedeckt. Der Blick auf den Slip. Der von Jana war schwarz wie die Nacht, und einen Moment lang machte es den Anschein, sie trüge gar nichts unter ihrem Kleid. Sie trug dasselbe Kleid, mit dem sie in Samos angekommen war, Elias erinnerte sich bestens. Bestimmt hatte sie es in der Zwischenzeit gewaschen, bestimmt duftete es nach Weichspüler. Elias konnte den Blick beim besten Willen nicht abwenden. Die Art, wie Jana sich ihm an diesem windigen Spätnachmittag unfreiwillig darbot, war so etwas wie der kulminierende Punkt der gesamten Schöpfung. Ein Teil ihres Kleides lag eng an und verriet die Form ihrer Brüste, ein Teil war frech aufgebauscht, wie weiland das weisse Kleid von Marilyn Monroe über dem Belüftungsschacht. Die Nuance lag darin, dass Marilyn alles darangesetzt hatte, dass die Männer hinschauten. Jana aber befiel natürliche Verlegenheit, sie strich ihr Kleid glatt und drehte sich einmal um die eigene Achse. Da erblickte sie den hypnotisierten Elias. „Kalispera“, sagte sie keck, und Elias fühlte sich ertappt. Ob sie ihn wiedererkannt hatte, als Gast in der Taverne von vor ein paar Tagen? Offenbar war Jana allein unterwegs, eine neugierige, lebenslustige Frau, und sie stieg das Treppchen hinunter zu Elias. Dieser erstarrte. Die Frau sprach fliessend griechisch, und es war tatsächlich so, dass sie ihn wiedererkannt hatte. Nun hatte Elias ein Problem. Er konnte in seinem gegenwärtigen Zustand nicht aufstehen, allzu peinlich wäre das gewesen, im Anblick dieser Frau, die er mit jeder Faser seines Körpers begehrte.

Aber Jana setzte sich wortlos neben ihn und betrachtete kontemplativ das Meer. Zwei Seelenverwandte, weitab von der profanen, eintönigen Welt, gemeinsam dem schillernden Abendhorizont entgegen schwebend. Jana eröffnete Elias ihre Herkunft, erzählte ihm, wie sehr sie diese Erholung auf Samos brauche, um ihrem harten Job als Hebamme für kurze Zeit zu entrinnen, und wie schön sie es fände, mit einem Einheimischen ein paar Worte zu wechseln. „Gar nicht so einfach, wenn man verheiratet ist, weisst Du“, seufzte sie und rückte ein bisschen näher zu Elias. Dieser konnte sein Glück kaum fassen, wollte aber auch nichts überstrapazieren und öffnete sich Jana mit seiner ganzen verträumten Leidenschaft als Kunstmaler. Elias wollte die Gelegenheit beim Schopf packen. Er ahnte, dass die Touristin aus dem Norden nicht lange bei ihm auf dem Badetuch verweilen würde, denn irgendeinmal würde die eheliche Moral sie zur Besinnung bringen. Also musste Elias aufs Ganze gehen. Er zückte sein hart erworbenes Smartphone und zeigte Jana ein paar seiner aktuellen Bilder. Dieser blieb fast das Herz stehen. Derart einfühlsame expressionistische und zum Teil auch fotorealistische Kunst hatte sie noch nie gesehen. Elias malte Trauben. Tavernendächer. Hungernde Katzen, die sich in eine Ecke drängten. Die Hand eines Fischers mit nur noch zwei Fingern. Die andern hatte er verloren, als er ein übervolles Netz aus der Ägäis gezogen hatte, zu einer Zeit, als die Fischernetze noch übervoll gewesen waren. Mittlerweile war die Ägäis nahezu leergefischt, und es gab kaum noch einen Fischer, der sich und seine Familie nicht mit drei bis vier Nebenjobs über Wasser hielt.

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 6483

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Der Tunnel von ...

schreibt Huldreich

Liebe Anita Isiris! Wie immer, hinreißend und mitnehmend diese Geschichte, vielen Dank und liebe Grüsse Huldreich

Gedichte auf den Leib geschrieben