In Lenkas Wohnung

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In Lenkas Wohnung

In Lenkas Wohnung

Anita Isiris

Der Wind zog um die Ecke, in einer Weise, wie er das noch nie zuvorgetan hatte. Er wirbelte alles vor sich her, was es zu wirbeln gab, sogar Bananenschalen und anderer Unrat befanden sich im freien Flug. Die Männer hielten ihre Hüte fest, die Frauen zogen ihre dünnen Mäntel noch enger um sich – aber es half alles nichts. So als würde er hämisch grinsen, verhielt er sich auch, der Wind – und brachte sogar die Kinder dazu, sich von der Straße zurückzuziehen und in den nach Kohl riechenden Korridoren zu spielen. Dieses Spielen dauerte nie lange, weil es sie überall gab, die grantigen Bewohnerinnen mit ihrer gelblichen Gesichtsfarbe – nicht etwa, weil sie selbst rauchten. Das hätte sich keine von ihnen leisten können. Nein, es waren ihre Männer, so sie denn welche hatten, die das karge Monatsgehalt wegrauchten und wegsoffen.
Unter dem Dach eines dieser schmalen Häuser mit den ausgelatschten Treppenstufen, denen man die bittere Armut, die rundherum herrschte, ansah, wohnte Lenka. Sie war eine der hübschesten Frauen, die jemals von Göttinnenhand geschaffen worden sind – aber sie hatte nichts davon. Tagaus, tagein war Lenka damit beschäftigt, ihr Geld zusammenzukratzen um die Miete, 170 Schweizer Franken pro Monat, pünktlich bezahlen zu können. Denn die Geldeintreiber waren gnadenlos. Mehr als einer ihrer Freundinnen war es so ergangen, dass sie den harten, brutalen Männern zu Willen sein mussten, mit Tränen in den Augen und weit gespreizten Beinen, Sex mit den Typen, denen hier alles gehörte.
So weit wollte Lenka es nicht kommen lassen, denn in ihrer Brust glimmte ein kleines Flämmchen, das sich da Stolz nannte. Der einzige Luxus, den sie ihr Eigen nannte, war einigermaßen trinkbares Wasser in der Wohnung, und ein hübsch dekorierter sizilianischer Badezimmerspiegel.
Es war das Jahr fünf nach dem dritten Weltkrieg, einem Krieg, der den Menschen alles genommen hatte. Aber weil das Leben immer weiter geht, bauten sie wieder auf, die Menschen, räumten auf, entsorgten, was zu entsorgen war, und restaurierten, was es zu restaurieren galt. Das Besondere an Lenkas Zeit war die Tatsache, dass sich die Menschen an frühere Jahre zurückbesannen, Jahrzehnte, von denen sie glaubten, dass man sorglos gelebt, geliebt und genossen hatte. Das war mitunter ein Grund, dass die Männer wieder Hüte trugen, dass Bücherläden wie Pilze aus dem Boden schossen und dass sich die Frauen, so sie es denn vermochten, auf Calida-Baumwollunterwäsche stürzten. „Liebestöter“, hätte man in den 2020er Jahren verächtlich dazu gesagt – aber die solide Baumwolle schützte vor Blasenentzündungen, und die Qualität der Wäsche war derart, dass Calida noch Jahre nach dem Zukauf problemlos verwendet werden konnte. Die Wäsche war nicht durchscheinend, wurde nie fasrig und behielt sogar ihre ursprüngliche Farbe, azurblau oder so.
Lenka kauerte auf ihrem Sofa und strich sich durchs gelockte, dunkle Haar. Von ihrer anstrengenden Arbeit in der Wäscherei war sie derart erschöpft, dass sie sich nicht mehr von der Stelle zu bewegen vermochte – obwohl sie der Hunger plagte.
Hungrig war aber nicht nur Lenka, sondern noch jemand anderes. Im Keller desselben Hauses wohnte ein älterer Mann, Long John, ein baumlanger Kerl mit rauer Schale aber, tief drinnen, mit einem todtraurigen, melancholischen Herzen. Und dieser Long John war Lenka verfallen, seit er sie zum ersten Mal gesichtet hatte, ihre Silhouette nur, im fahlen Licht der ärmlichen Petroleumfunzel, die im Korridor, wegen der undichten Haustür vom Wind bewegt, hin und her pendelte.
Long John arbeitete längst nicht mehr und hoffte noch immer Tag für Tag, dass ihn jemand aus seinem Traum erwecken würde. Wehmütig dachte er an die Zeit zurück, als die Schweiz, topographisch und auch ökonomisch gemütlich in Europas Schoss eingebettet, als Paradies galt. Bis sich dann leider herausgestellt hatte, dass es nur Geschichtsklitterung war, die dem Land weltweit einen Sonderstatus ermöglicht hatte. „Insel der Glücklichen“, allerdings auf der Grundlage von skrupelloser Korruption, Straßen, Keller, Wände, Museen, Parks, idyllische Bergdörfer, alles gebaut auf blutigem Geld von Diktatoren und Oligarchen.
Nachdem das Land ein konsequentes Wirtschafsembargo hatte erleiden müssen, an dem sich außer Russland die ganze Welt beteiligt hatte, war die Schweiz am Vorabend des dritten Weltkriegs förmlich implodiert. Das Volk blieb auf seiner Schokolade, auf seinen Calida-Pijamas und seinen Rolex-Uhren sitzen – und der sofort einsetzende Wertezerfall hatte dazu geführt, dass Menschen wie Long John alles verloren, was sie einst ihr Eigen genannt hatten. Long John hatte damals Langhans geheißen. Alois Langhans. Aber seit die USA ihre ebenfalls klebrigen Finger nach der Schweiz ausgestreckt hatte, tat man gut daran, sich englische Namen zuzulegen – einfach um in der Menge nicht aufzufallen. Die Schweiz zählte nur noch 1‘000‘000 Einwohnerinnen und Einwohner, alle andern waren von einer einzigen Neutronenbombe liquidiert worden. Neutronenbomben wurden in den 1980er Jahren als „ethische Atombombe“ gepriesen, weil sie über eine sehr kurze Halbwertszeit verfügen. An Gebäuden richten sie kaum Schaden an, machen aber Menschen und alle anderen Lebewesen zu den physiologisch bedauernswertesten Kreaturen, die denkbar sind. Weil Lebewesen zu einem hohen Anteil aus Wasserstoff bestehen, werden Neutronen förmlich angesogen, was dazu führt, dass man von innen heraus explodiert. Somit sind Neutronenbomben als eine Art technisches Wunder zu betrachten.
Aber nun zurück zu Long Johns Begierde. Seine Begierde hatte einen einzigen Namen: Lenka. So war auch ihr Milchkasten angeschrieben – Lenkas Nachname kannte Long John nicht, aber das spielte auch keine Rolle. Die meiste Zeit verbrachte er damit, auf seiner fleckigen Matratze sitzend, mit geschlossenen Augen Lenka an sich vorbeiziehen zu lassen. Lenka, am Tisch sitzend, eine Pizza essend. Pizzas gab es noch immer, wenn auch mit eher bescheidenen Zutaten. Lenka, in Calida-Unterwäsche, über eine Badewanne sich beugend. Lenka beim Kämmen. Lenka ordinär, nackt und in Stiefeletten. Spätestens bei der „nackt-in-Stiefeletten“-Lenka regte sich Long Johns Long John. Er war im Grunde kein Lack-und-Leder-Fetischist, und er verabscheute Frauen in High Heels, weil er sie als ordinär empfand. Was ihn zutiefst beglückte, waren nackte Frauenfüße – solange die Füße auch in eine Frau übergingen. Allzu oft hatte er in den vergangenen Jahren Füssen begegnen müssen, die, vom restlichen Körper abgetrennt, in Treppenhäusern oder in Hinterhöfen lagen. Gräueltaten der Marodeure. Aber Lenka war für Long John ein Symbol für eine heile Welt, die er tief drinnen bewahrte. Long John war kein Psycho. Er war einfach ein früh gealterter Mann, der die besten Jahre mit Bestimmtheit hinter sich hatte. Aber sein Glimmen war noch immer nicht erloschen – ein Glimmen, das er so gerne mit der schönen, grünäugigen Lenka mit der zarten, sommersprossigen Stupsnase geteilt hätte.
Ging sie die Treppe hoch, mit dem ihr eigenen wiegenden Gang, dann war für Long John drei Mal Weihnachten. Er duckte sich in den Schatten der Kellertür und fixierte ihr Becken. Stellte sich vor, er dürfte ein Mal, ein einziges Mal, nach ihrem Po greifen und ihn lustvoll durchkneten. Wie Lenka wohl stöhnte? Long John stellte sich den erhebenden Klang von Lenkas Stöhnen vor – und sein Long John drängte begehrlich an den Stoff seiner Cordhose. Long Johns Long John war dessen bester Freund. Er liebte es, ihn in Mondnächten, draußen, bei den Garagetoren, hinter denen schon längst keine Autos mehr parkten, an seinem Long John zu reiben, bis ihn die heißen Wellen überkamen. Die heißen Wellen waren noch immer von derselben Hitze wie damals, mit 14 Jahren, als er entdeckt hatte, wie man sich selbst einen Orgasmus zufügt. Seither konnte man Long John als chronischen Wichser bezeichnen – wobei „Wichser“ schon längst kein Fremdwort mehr war. Vielen Männern und Frauen war die natürliche Zweisamkeit im Elend der Nachkriegsjahre längst abhanden gekommen – und so wichste man eben – Männlein wie Weiblein – und auch diejenigen, die sich keinem spezifischen Geschlecht zuordnen konnten, machten an sich selber rum.
Einmal, ein einziges Mal, hatte Long John es geschafft, Lenka ihren heimlichen „kleinen Tod“, wie der Orgasmus in Frankreich genannt wird, zu entreißen. Leise, um jegliches Treppenknarren zu vermeiden, war er eines Nachts zu ihr hoch gegangen und hatte an der Tür gelauscht. Und da hatte er diese untrüglichen, verräterischen Geräusche gehört. Das Quietschen von Lenkas Bett. Lenka hatte tatsächlich ein Bett. Welch ein Luxus! Eine weitere Vorstellung, die Long John in seine Gedanken und Träume würde einbinden können. Lenka auf ihrem Bett, mit gespreizten Schenkeln, an sich spielend. Aber in jener Nacht war Long John lediglich eine Geräuschkulisse vorbehalten gewesen. Das Quietschen von Lenkas Bett. Und dann… vermeinte er, ein Atmen zu hören, ein Lenka-Atmen, das sich intensivierte. Im gleichen Rhythmus veränderte sich die Frequenz des Federquietschens. Lenka. Keuchen. Bett. Quietschen. Lenkakeuchenbettquietschen. So in etwa. Dann war da ein lang gezogenes Stöhnen. Lenka machte es sich also. Long John befreite seinen Long John aus dessen Gemach und rieb und drückte an ihm, bis ein intensiver Spermienspritzer an Lenkas Wohnungstür heruntertropfte. Mit einem unterdrückten Fluch reinigte Long John mit seinem Pijama-Ärmel die Schweinerei, denn er war ein ordentlicher, korrekter, ganz normaler Mann. Einfach einer, in dem unstillbares Verlangen nach seiner Nachbarin glimmte.
Besonders hatte ihn in jener Nacht Lenkas Ahnungslosigkeit erregt. Er stellte sie sich vor, Lenka, in deren Haar sich ein Mondstrahl, durch die Dachluke hindurch, verirrt hatte, Lenka, mit hochgeschobenem Nachthemd, knapp entblößten Brüsten und ihrer veritablen Göttinnenmuschi. Was hätte Long John darum gegeben, sie da unten zu lecken. Nur ein ganz klein wenig, einfach so, ganz spontan… und Lenka war ja ein fühlendes, empfindsames Wesen.
In jener Nacht beschloss Long John, Lenka etwas zu schenken.
Er war, wie alle in der Gegend, knapp bei Kasse, aber Armut macht auch solidarisch. Man half einander aus, Long John war ein ganz passabler Handwerker, nicht nur, was seinen eigenen Long John anging. Er ging vor allem den Nachbarinnen in der Umgebung zur Hand, etwa, wenn mit dem Abfluss etwas nicht stimmte oder der Sicherungskasten sich quer stellte. Klar genoss er die Anwesenheit auch dieser Frauen, egal welchen Alters sie waren. Er meinte herausgefunden zu haben, dass gerade Frauen um die fuffzig besonders heiß sind, obwohl sich deren Otto, Karlheinz und Sepp im Bett längst von ihnen abgewandt haben.
Ein letztes Feuer vor der Totengruft des Klimakteriums. Und dieses Feuer hätte einer wie Long John zu einem Flächenbrand bringen können – und wie! Olga auf dem Wohnzimmertisch. Susanne, mit einer Gurke bespielt. Sabine, in der Badewanne bespritzt. Aber eben… Long John hatte nur Augen und Herz für Lenka. Die anderen Frauen mussten sich eben selbst behelfen, wenn Otto, Karlheinz und Sepp sich des Nachts zur Seite drehten.
Es kommt im Übrigen viel zu selten vor, dass Frauen, neben ihren schlafenden Männern im Ehebett, heimlich onanieren. Der Grund ist rasch ermittelt: Das verdammte Schnarchen! Schnarcher machen jede Vagina trocken, und wäre sie im Grunde noch so weich, feucht und verlangend.

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unglaublich anregend

schreibt michael_direkt

Liebe Anita, wer hat nicht schon mal aufgrund einer begehrenswerten Person Fantasien entwickelt? Solche "Reisen" können sich ganz schön real anfühlen! Vielen Dank für Dein Meisterwerk mit dieser Thematik! Ich nabe es sehr genossen! Alles Gute und lieben Gruß, Michael

Gedichte auf den Leib geschrieben