Johanna

Tinas Geschichte - Epilog

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Stayhungry

K. schob den Soundtrack zu „12 Tangos“ in das Fach des Laptops, startete die Musik, lehnte sich zurück und begann zu lesen. Nach den in solchen Fällen üblichen Entschuldigungen und Rechtfertigungen wegen der verstrichenen Zeit schrieb sie, wie es ihr ergangen war. Es wurde eine lange Nacht für K., in der er Tinas Geschichte las, die über eine Zeit lang auch seine war. Gerade bei ihr hatte er sich nicht vorstellen können, dass sie eine Art Tagebuch führte. Betreten hörte er schließlich auf zu lesen. Ihre Einsamkeit konnte er nachempfinden, die konsequente Umsetzung ihrer Wünsche ohne anerzogene Vorbehalte und die Standhaftigkeit, nicht vor dem Alleinsein in die Arme einer halbherzig gelebten Liebschaft zu flüchten, bewunderte er. Aber dass sie sich gerade diesem bösartigen Menschen noch einmal zuwandte, machte ihn sprachlos. Mehr in einer Geste der Höflichkeit beglückwünschte er sie in seiner Antwort, seine Betroffenheit behielt er für sich. Er bat um weitere gelegentliche Nachricht, doch sie meldete sich nicht mehr.

* * *

K. musste einige Zeit suchen, bis er es gefunden hatte. Die Blumen der Kränze welkten bereits vor sich hin. Vor dem Grab mit dem provisorischen Holzkreuz saß ein Mädchen im Gras, in der Hand kraftlos ein paar rote Rosen. K. zögerte, überlegte, ob er umkehren sollte. Aber sie hatte ihn bemerkt und sah ihn aus verweinten, schlaflosen Augen an. Sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, eine jugendliche Tina. Du bist Johanna, sagte er. Mit großen Augen blickte sie ihn fragend an, nickte. K. stellte sich als einen alten Freund und Kollegen vor. Sie antwortete nicht, ihre Augen starrten wieder ins Leere. Die Schleifen der Kränze sprachen von dem Unfassbaren, der Verzweiflung der Verwandten und Freunde. Man hatte Tina tot in einem Hotelzimmer in der Innenstadt gefunden, entblößt, erwürgt. Eine Beziehungstat nahm man an, es gab Spuren eines heftigen Streits. In dem leeren Stockwerk aber hatte es zur Nachmittagszeit keine Zeugen gegeben. Der Mann, der das Zimmer vor ein paar Wochen gemietet hatte, war flüchtig. Es hieß, er habe die letzten Jahre im Osten des Kongo verbracht, wo Ingenieure, Bauarbeiter, Händler und Söldner als Abenteurer und Raubritter begehrte Rohstoffe ausbeuten, ein blutiger Krieg widerstreitender Kräfte um diese Quellen des Reichtums tobt und ein Menschenleben nichts wert ist. Dorthin sei er vermutlich zurückgekehrt.

Die Nachricht von Tinas Tod und seinen Umständen hatte K. als unschönes, sensationslüsternes Gerücht erreicht. Er war wie gelähmt, der Tod eines nahe stehenden Menschen ist immer ein Schock und trifft das Innerste, aber sie war der Inbegriff der Vitalität, der Lebensenergie, des Lebenshungers, ihren Tod zu begreifen war fast nicht vorstellbar. Ihr hatte er zuletzt Glück gewünscht, und er hatte es mit zwiespältigem Gefühl getan, aber seine Sorge galt mehr ihrem seelischen als ihrem körperlichen Wohlergehen. Dass es so furchtbar kommen sollte, hätte er nicht für möglich gehalten. Nun stand er neben ihrer buchstäblich verlassenen Tochter, fühlte sich fehl am Platze und hatte doch das Gefühl, er dürfe sie nicht allein lassen in ihrem Elend, unwissend, ob ihr das Recht wäre. Er ließ sich etwas beschwerlich neben ihr nieder und legte seinen Blumenstrauß in den Kranz vor ihm. Still sprach er sein Gebet, nach langer Zeit wieder aufrichtig bittend um einen von uns genommenen Menschen.

Nach einer kleinen Ewigkeit fragte sie ihn: Warum hat er das getan? Warum bringt mein mieser Erzeuger meine Mutter um? K. verstand ihr Flehen. Wir können den Tod an sich nicht, noch viel weniger die Gewalt und die Grausamkeit verstehen, antwortete er ihr nach kurzer Überlegung, denn dann würden wir ihnen irgendeine Berechtigung zugestehen. Wir können nur versuchen, es auszuhalten, dass ein mitleidloses Schicksal uns einen geliebten Menschen nimmt, der in unserem Herzen wohnt. Doch wir werden diesen Kampf gewinnen, auch wenn wir meinen, dass man uns das Herz aus der Brust reißt, denn geliebte Menschen leben in uns fort. K. sprach ihr von der Liebe, der Sehnsucht und den großen Gefühlen, die uns beseelen, uns beglücken können, aber auch mitreißen dorthin, wo wir nicht mehr glücklich ankommen, und manchmal schlittern wir in die Katastrophe. Alles ist ein Wagnis, aber ohne dieses Wagnis und unsere Bereitschaft zu vertrauen, anderen und auch uns selbst, können wir die Tür zum Glück nicht öffnen. Und ihre Mutter war eine außergewöhnliche Frau, die oft glücklich war, weil sie das Leben geliebt hat, erfüllt war von Mut und bei den Menschen genau gehört und gespürt hat, was in ihnen schwingt, so dass sie sehr gut auf sie eingehen konnte. Verstand und Gefühl waren in ihr untrennbar verbunden, deshalb haben wir, die wir ihr nahe standen, sie so geliebt und die Menschen waren angetan von ihr.

Er beschrieb sie und ihr Leben, ohne die Einzelheiten und die Art ihrer besonderen Verbindung zu offenbaren. Er sprach langsam und er hörte nicht auf zu reden, entwarf ein Bild von ihr, so als läge sie nicht in der Erde vor unseren Füßen, sondern wäre irgendwo ganz nah voller Leben, so, wie sie sie bis vor Kurzem gekannt hatten, mit ihrem herzerfrischenden Lachen, ihrer großen Kraft, ihrem Lebensmut, ihrer bewundernswerten Achtung für sich und andere, ihrer unerschöpflichen Liebe, dem Glück, das sie an ihren Kindern verspürte, und der Angst, sie zu verlieren. K. nahm sie mit auf die Reise in die Jugend ihrer Mutter, ohne den Teil zu benennen, der schließlich auch zu ihrem Tod führte, gab ihrem Kind wieder, wie sie selbst sich ihm geschildert hatte in dieser langen Nacht vor eineinhalb Jahren und wie er sie kennen und lieben gelernt hatte als junge Frau. Irgendwann gab dieses junge Wesen, nicht mehr Kind und noch nicht Frau, dass so etwas Schreckliches noch lange nicht hätte erfahren sollen, seine verzweifelte Verkrampfung, seinen Kampf um Fassung auf, sank an seine Schulter und weinte haltlos, als hätte sie nicht schon so viele Tränen vergossen. Er legte seinen Arm um sie und hielt sie, lange, schweigend.

Als es merklich kühler wurde, fragte sie zögernd, ob sie gehen sollten. Eigentlich war er so unschlüssig wie sie, doch er half ihr sich zu trennen von diesem Ort, an den sie doch immer wieder zurückkehren, der ein Teil ihres Lebens werden würde. Er ging mit ihr bis zur Haltestelle und als der Bus kam, schüttelte sie ihr Haar aus dem Gesicht, ganz ähnlich ihrer Mutter, und fragte, ob sie sich wieder treffen könnten. Mit feuchten Augen sagte er ja und drückte ihr seine Karte in die Hand. Die Gewissheit, sie getröstet zu haben, wenn auch nur für einen Moment, machte ihn glücklich in seiner Trauer und ein wenig fühlte er sich, als wäre sie seine Tochter.  Als sie sich beim Abfahren des Busses noch zuwinkten, hoffte er inständig, sie würde sich melden.

* * *

Der Anhang von Tinas letzter Nachricht enthielt ein Photo von ihr und Agnes aus der eigenen Hand auf sie selbst gerichtet, ein typischer Schnappschuss mit verzogenen Winkeln, fröhlich, sehr sympathisch, und die Empfehlung, K. solle sich doch dort einmal sehen lassen, nebst Angabe der Adresse.

Wieder und wieder verwarf er den Entschluss, den die lockende Verführung diabolisch in sein Ohr flüsterte. In ihm tobte ein Kampf aus vielerlei Gründen. Seiner Liebsten wollte er nie untreu werden, denn auch wenn ihre erotische Beziehung aus Verletzungen unschöne Narben davongetragen hatte, so war ihr Leben das Beste, was ihm widerfahren war, das wollte er nie aufs Spiel setzen. Darüber hinaus hatte er noch nie in diesem Bereich kommerzielle Dienste in Anspruch genommen. Zu abstoßend war das Bewusstsein um verschleppte, missbrauchte, benutzte, ausgenutzte Frauen im Milieu, auch wenn immer wieder die Mär von der selbstbewussten, autonomen Gewerbetreibenden durch den Blätterwald geistert.

Der Gedanke ließ ihn dennoch nicht mehr los. Sie hatte es wohl verspürt, dass er ihr entsprechend empfand, wenn auch seine abgründigen Lüste nicht so weit gingen wie die ihren. Am meisten beschäftigte ihn, dass sie dies ja geschrieben hatte, als sie noch davon ausging, selbst weiterhin dort Erquickung zu finden und ihn hatte sie dazu eingeladen. Bitterkeit und Trauer erfüllten ihn. Eines Tages schließlich stand K. vor Madames Tür. Ein beruflicher Termin hatte ihn in die Stadt geführt und er konnte nicht mehr widerstehen. Mit zittriger Hand hatte er die Nummer gewählt und ganz gegen die wohl üblichen Gepflogenheiten seinen vollen richtigen Namen genannt, und um einen Termin für den heutigen Tag nachgesucht. Seiner Antwort auf die Frage, auf wessen Empfehlung er anriefe, folgte Schweigen. Dann wurde ihm gesagt, er könne heute nach Belieben erscheinen.

Das Ambiente des Raumes entsprach durchaus dem, was seine Phantasie aus Tinas Schilderung entworfen hatte. Agnes, die letzte enge Vertraute Tinas, saß ihm gegenüber im Sessel, die nackten Beine in Lederstiefel reizvoll übereinandergeschlagen. Ihr blondes Haar war in einer Weise hochgesteckt, wie Tina es früher getan hatte, ihre treffliche Figur in ein Korsett geschnürt mit äußerst attraktivem Schnitt und den von Tina geschilderten Applikationen, die vielfältigen Zugang ermöglichten. Sie schien K. vertraut vom ersten Moment an, eine nachdenkliche, starke Frau. Der Blick von außen auf die Situation hätte ohne Zweifel eine prickelnd aufgeladene Atmosphäre unterstellt, aber sie saßen sich in entspannter Melancholie gegenüber und sprachen über ihre verlorene gemeinsame Freundin.

Dieser Austausch offenbarte K. so manches, dass er, zu seinem eigenen Schutz, nicht erfahren hatte, und er war Tina dankbar dafür, dass sie nicht versucht hatte, in seine Ehe einzudringen. Dieser Gedanke hatte sie in den Tagen ihrer Einsamkeit mehr beschäftigt als ihr lieb war, und abgehalten hatte sie weniger seine risikoscheue, zurückhaltende Art, die damals ausschlaggebend gewesen war für ihr Scheitern, sondern der Respekt vor seiner Liebe zu seiner Frau. Agnes also wusste mehr von ihm, als er hätte annehmen können. Und so führte sie ihn behutsam heran an die Offenbarung seines dunklen Verlangens. Er nahm ihre Dienste in Anspruch, ohne die Grenze zu überschreiten, die er sich im Hinblick auf die Liebe seines Lebens gezogen hatte, und durfte doch die Erfüllung geheimer Wünsche erfahren, die zu ihm und seiner Seele gehörten. Er war angekommen.

Mit gemischten Gefühlen, ein wenig entsetzt über sich selbst, etwas deprimiert, aber auch eigenartig wohlig befriedigt verließ er sie. Gelegentlich rief Agnes ihn im Büro an und sie sprachen über so manches, dass sie bewegte, wissend, dass sie in verschiedenen Welten lebten, die sich unverhofft, aber nicht dauerhaft berühren. Gemeinsam war ihnen, dass sie ihre Freundin geliebt und nicht verlassen, aber auch nie festgehalten hatten. Selten, sehr selten, begehrte er am Tor zu ihrer Welt Einlass. Dann nahm sie sich stets Zeit für ihn.

Ein Mensch aber fehlte ihnen, und sie waren sich einig, sie bräuchten nicht ihre Nähe, sie wären glücklicher, wenn sie nur wüssten, sie wäre irgendwo da draußen.

Und lebt.

Und liebt.

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