Kalter Schmerz

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Kalter Schmerz

Kalter Schmerz

Wolfgang A. Gogolin

Knarrend öffnete sie die Haustür. Igor kam fast lautlos herein. Wie immer schwieg er. Sein unheimliches Aussehen ließ sie jedes Mal erschauern.
Marie setzte sich auf den Stuhl und sah erwartungsvoll zu Igor hinauf. Langsam öffnete er den Deckel des mitgebrachten, hochwandigen Holzkästchens. Bis auf die Rückwand klappte er alle Seitenwände nach unten. Wie immer befand sich im Kästchen eine gläserne Phiole mit grünlichem Inhalt, daneben stand ein kleines Trinkglas. Igor befüllte das schmucklose Glas. Seine ruhigen Bewegungen wirkten wie eine Zeremonie. Er reichte Marie den Trunk mit ausdruckslosem Gesicht. Sie schaute auf das Glas, zögerte einen Moment und trank dann das leicht bittere Gebräu. Igor deutete ein zufriedenes Lächeln an.
Hinten im Hof stand die Kutsche. Igor hielt Marie die Wagentür auf. Es schneite, der Winterwind blies unbarmherzig und kalt. Sie zog ihren Umhang fester, als könnte der Wollstoff ein Beschützer sein.
Marie liebte den Geruch in der Kutsche. Der Wagen duftete nach altem Holz und Leder, die dampfenden Pferde trugen zur Abrundung des charakteristischen Erlebnisses dieser Fahrt bei. Manchmal meinte sie, Aroma von Sandelholz und Moschus zu erahnen. Konnte eine Kutsche maskulines Odeur verströmen?
Noch eine Viertelstunde bis zum Ziel. Die Kutsche jagte durch die Dunkelheit. Nicht der Weg war das Ziel. Das Ziel war das Ziel.
Marie hatte das Korsett besonders eng schnüren lassen, damit sich Ihre Taille sich gut mit zwei groben Händen umfassen ließ. Dazu trug sie ein neues, blassblaues Kleid. Die Keulenärmel des Oberteils und das tiefe Dekolleté, aus dem ihre Brüste hervorquollen, spendeten Harmonie zur schmalen Taille.
Marie tastete nach ihrer Seele und spürte sie in einem willigen und wollenden Zustand. Die grüne Flüssigkeit tat ihren Dienst.
Sie zog an ihrem Haarband, schon jetzt wollte sie ihre Haare lösen. Ein kleiner Bereitschaftsdienst. Mit den Fingern fuhr sie durch ihre leicht gestuften, schwarzen Haare, die bei näherem Hinsehen einen kleinen Blauschimmer hatten. Eine Strähne fiel ihr ins Gesicht, ganz dicht an ihren Mund heran. Normalerweise hätte sie das vorwitzige Haar weggepustet, doch jetzt nahm sie die Haarsträhne in den Mund, befeuchtete sie und spielte damit herum. Maries erwartungsvolle Stimmung legte sich wie schimmernder Samt über ihre Gefühlswelt.

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