Kevin und die Künstlerin

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Kevin und die Künstlerin

Kevin und die Künstlerin

Sven Solge

Als Regine den Strand erreichte, ging die Sonne gerade unter.
Nur halb war der orangene Ball noch zu erkennen. Sie blieb stehen und lauschte, aber nur das leise Plätschern der Wellen war zu hören. Dabei hatte ihr Vater sie immer als Kind damit aufgezogen, dass es zischen würde, wenn die Sonne im Meer versinkt.
Auch wenn sie nun schon erwachsen war, so lauschte sie jedes Mal und dachte dabei an ihren viel zu früh gegangenen Vater.
Während sie so im warmen Sand stand und mit den nackten Zehen im Sand wühlte, gingen ihre Gedanken zurück an eine schönere Zeit. Sie erinnerte sich an das Glücksgefühl, das sie mit ihrem Vater zusammen, immer empfunden hatte.
Er hatte sie immer ermuntert mutig zu sein und wenn es dann doch mal schief ging und sie sich verletzt hatte, sagte er immer: „Bis du Mama bist, ist es wieder heil!“
Er hatte sich immer schon so auf Enkelkinder gefreut, doch für Regine war die Zeit noch nicht gekommen, sich zu binden. Jetzt, mit 28 Jahren, konnte sie es sich vorstellen, doch vor 4 Jahren war etwas anderes wichtiger.
Die Kunsthochschule forderte sie und außer flüchtigen Liebeleien, hatte sie noch kein großes Interesse am anderen Geschlecht.
Schon als kleines Mädchen hatte sie gerne gemalt und als ihr Vater ihr einen Tuschkasten und Pinsel schenkte, war sie nicht mehr zu halten. Ihr Vater erkannte ihr Talent sofort. Er forderte und förderte sie, wo er nur konnte, deshalb war es für seine Tochter eine Selbstverständlichkeit, Kunst zu studieren.
Als ihr Vater dann bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kam, brach für Regine eine Welt zusammen. Sie schmiss zwei Semester und erst als ihre Mutter sie eines Tages fürchterlich zusammenstauchte und ihr sagte, dass ihr Vater sehr von ihr enttäuscht wäre, wenn er sie so sehen würde, riss sie sich zusammen.
Heute war sie eine gefragte Künstlerin, die für ihre, mit Akryl Farbe gemalten Landschaften, schon mehrere tausend Euro verlangen konnte.
Zusätzlich hatte sie sich darauf spezialisiert Empfangshallen und Eingangsbereiche von Firmen mit Wandbildern zu verschönern.
Deswegen war sie jetzt an der Nordsee, weil sie den Auftrag erhalten hatte, im hiesigen Kurhaus ein typisches Wandbild an die Wand zu malen. Den Krabbenkutter hatte sie fertig, nur noch einige landschaftliche Details fehlten noch.
Heute am Samstag hatte sie sich frei genommen, um noch ein paar Inspirationen zu bekommen und auch um das schöne Wetter zu genießen.
Ihr Auftraggeber, Herr Sörensen, hatte sie auch gedrängt mal Pause zu machen: „Frau Regine!“, sagte er in seinem friesischen Tonfall, weil er wohl lieber Platt schnacken würde. „Sie müssen unbedingt das schöne Wetter ausnutzen, morgen Nachmittag ist Sturm angesagt und viel Regen! Gehen sie mal zum Strand und legen sie sich in die Sonne oder wandern etwas ins Watt! Aber nicht den Tidekalender vergessen!“, schob er noch hinterher.
Regine hatte es sich zu Herzen genommen und ihre Malutensilien zusammengepackt und war seinem Ratschlag gefolgt. Nach zwei Stunden kehrte sie um, holte sich an einem Coffeeshop einen Cappuccino und setzte sich an der Promenade auf eine Bank.
Es war schon Ende September und nur noch wenige Touristen liefen an ihr vorbei.
Wie gewöhnlich hatte sie ihren Skizzenblock dabei. Nachdem sie einen Schluck von dem heißen Cappuccino getrunken hatte, begann sie die Promenade zu skizzieren. Regine hatte sich angewöhnt, schnell zu zeichnen. Für sie war nur wichtig die Proportionen und Perspektiven für ein späteres Bild parat zu haben, alles andere kam aus ihrer Fantasie.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein kleiner Junge mit zögernden Schritten näherkam und versuchte einen Blick auf ihren Block zu erhaschen. Regine kannte das schon, deshalb drehte sie sich langsam so, dass er auf ihren Block schauen konnte.
„Was malst du da?“, fragte er plötzlich und kam noch etwas näher.
„Ich versuche die Promenade zu zeichnen, damit ich nicht vergesse, wie es hier aussieht, weil ich davon ein Bild malen möchte, wenn ich wieder zuhause bin!“
Der Junge, Regine schätzte ihn so auf sechs Jahre, er ging wohl gerade in die erste Klasse, stellte sich jetzt direkt neben sie und schaute zu wie sie mit wenigen Bleistiftstrichen einen Passanten auf das Papier zauberte.
„Darf ich mir das Bild mal anschauen, wenn es fertig ist?“, fragte er und schaute sie bittend an.
„Das geht leider nicht, ich bin hier nur zum Arbeiten und wohne ganz weit weg von hier. Aber wenn du dir ein großes Bild von mir anschauen willst, dann musst du deine Mama oder deinen Papa fragen, ob sie mit dir mal zum Kurhaus gehen, dort male ich gerade ein großes Bild an die Wand.“
Er senkte abrupt den Kopf und flüsterte leise: „Meine Mama ist ein Engel!“
Regine lief ein Schauer über den Rücken, was hatte der kleine Mann gerade gesagt? Dann kam ihr eine Idee: „Möchtest du dieses Bild haben? Ich schenke es dir!“
Er schaute sie mit leuchtenden Augen an, wandte dann aber ein: „Aber dann weißt du ja nicht wie es hier aussieht, wenn du wieder zuhause bist?“
„Das Bild kann ich noch mal zeichnen, ich bin ja noch länger hier!“
Regine riss das Blatt vom Block ab und fragte den kleinen Mann: „Soll ich meinen Namen drauf schreiben, damit du weißt, von wem du das Bild bekommen hast?“
Er nickte eifrig!
„Verrätst du mir deinen Namen?“
„Ich heiße Kevin!“
Regine wollte gerade sagen: >Kevin allein Zuhause?< Schwieg dann aber.
Auf das Blatt Papier schrieb sie jetzt: >Für Kevin von seiner besten Freundin Regine< Sie fügte noch das Datum hinzu und reichte es Kevin. Der hielt es mit beiden Händen und drückte es sich dann wie einen Schatz an die Brust.
„Wohnst du hier in der Nähe?“, fragte sie ihn, weil es ihr komisch vorkam, dass er hier so alleine auf der Promenade war.
„Ja, dort bei Brodersen!“ Er zeigte auf das Fischrestaurant, keine zwanzig Meter von ihnen entfernt.
„Mein Papa arbeitet dort und wir wohnen genau über Papas Arbeit, das ist toll!“
„Als was arbeitet dein Papa dort? Ist er Kellner?“
„Neeein, Papa ist doch der Koch!“, sagte er mit etwas Empörung in der Stimme.
„Dein Papa ist der Koch! Dann muss ich ja unbedingt mal zum Essen zu euch kommen!“
Regine folgte ihrem kleinen Freund mit den Blicken, als er mit seinem Schatz zum Haus seines Vaters lief. Am Aufgang zum Restaurant drehte er sich noch mal um und winkte ihr zu. Ihr wurde es warm ums Herz. `Was für ein süßer, kleiner Kerl´. Der hätte ihrem Vater als Enkel sicher gut gefallen, schoss es ihr wehmütig durch den Kopf.
Schnell skizzierte sie die Szene von eben noch mal, fügte aber noch einen kleinen Jungen hinzu, der sehnsüchtig aufs Meer hinausschaute.
-*-
Als Regine am Montag ihre Arbeit fortsetzte, hatte sie ihre Begegnung mit Kevin schon fast vergessen. Wie Herr Sörensen schon angedeutet hatte, war das Wochenende verregnet und stürmisch gewesen, sodass sie die Zeit lieber bei ihrem Auftrag verbracht hatte und zügig vorangekommen war.
Heute hatte sie sich einen Schwarm Möwen vorgenommen, die über dem Heck des Krabbenkutters schwebten. Die mit Bleistift vorgezeichneten Vögel, in ihren verschiedenen Flugphasen, galt es nun möglichst naturgetreu auszumalen.
Sie hatte sich einen Hocker auf das kleine Rollgerüst gestellt und war sehr konzentriert bei der Arbeit, als sie plötzlich ein feines Stimmchen hörte: „Regine!“
Da in der Empfangshalle immer reger Betrieb herrschte, reagierte sie erst beim zweiten, etwas lauteren Ruf: „Regine, ich bin es!“ Hörte sie und entdeckte Kevin, der unten am Gerüst stand und strahlend zu ihr hinaufschaute. Neben ihm stand ein stämmiger Mann anscheinen Kevins Vater. Ein attraktiver Mann! Sehr groß, mit einem kleinen Bäuchlein, dunkle Haare und einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. „Hallo!“, sagte er und meinte dann: „Sie sind also die Künstlerin, die meinen Sohn so verzaubert hat, dass er jetzt auch Maler werden will.“    
Regine hatte sich erhoben, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und stellte den Pinsel ins Wasser, damit er nicht eintrocknete. „Ich komme runter!“, sagte sie überflüssigerweise, als sie schon auf der Leiter stand.
Kaum hatte sie die letzte Sprosse verlassen, umklammerte sie Kevin und presste sich an sie.
„Oha, da haben sie aber eine Eroberung gemacht!“, sagte Kevins Vater und reichte ihr die Hand.  
„Ich bin Bertram, mein Sohn hat jeden Tag auf sie an der Promenade gewartet. Nicht mal der Regen und der Sturm hat ihn davon abgehalten, nach draußen zu gehen. Ich musste ihn förmlich zwingen reinzukommen. Dabei hatten wir am Wochenende, wie gewöhnlich bei schlechtem Wetter, volles Haus. Bis ihm heute Morgen beim Frühstück wohl plötzlich einfiel, dass sie ihm gesagt hätten, wo sie arbeiten und er sich dort ein großes Bild anschauen kann.“
Regine war von der Offenheit von Kevins Vater sehr angetan.
„Ja stimmt, das hatte ich ihm gesagt. Er wollte so gerne das fertige Bild sehen, von dem ich die Skizze gemacht hatte. Da ich aber aus Hannover komme und nur hier ein paar Wochen arbeite, würde das nicht gehen. Deshalb hatte ich ihm den Tipp mit dem Kurhaus gegeben.“
Kevin der ihr Gespräch aufmerksam verfolgte, sagte plötzlich: „Papa und ich wollen jetzt Eis essen gehen, kommst du mit?“ Dabei legte er seine kleine Hand in ihre und zog sie förmlich Richtung Eingangstür.
Regine bremste ihn etwas. „Ich komme gerne mit, wenn dein Papa das auch möchte!“ Bertram schmunzelte leicht, noch nie seit dem Tod seiner Mutter hatte Kevin einer anderen Frau seine Zuneigung so deutlich gezeigt.
„Ich würde mich sehr freuen, wenn sie der Einladung meines Sohnes folgen würden!“, sagte er etwas gestelzt, verzog dabei aber seine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln.
„Dann komme ich gerne mit, so eine nette Einladung kann ich natürlich nicht ablehnen! Ich muss aber erst meine Pinsel säubern und die Farben abdecken, damit sie nicht eintrocknen! Wartest du einen Moment auf mich?“ Dabei hatte sie sich vorgebeugt und Kevin die Hand auf den Kopf gelegt. Der strahlte über das ganze Gesicht.
„Darf ich auch mal da oben rauf und mir dein Bild von Nahem ansehen?“
Überrascht schaute Regine Bertram an und als der nickte, sagte sie zu Kevin: „Aber nur wenn du oben meine Hand nicht loslässt und auch alleine die Leiter rauf und wieder runter klettern kannst!“
Kevin nickte eifrig und wollte schon zur Leiter gehen, doch Regine stoppte ihn: „Lass mich mal vorgehen und ich helfe dir dann, wenn du oben ankommst.“
Als Regine sich oben umdrehte, war Kevin schon die halbe Leiter hochgeklettert, aber Bertram stand hinter ihm, dabei schaute er Regine so intensiv an, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Sein Blick verriet Erstaunen, Wärme und Ungläubigkeit? Scheinbar war er vom Verhalten seines Sohnes überrascht worden.

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