Klavierstunde

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Klavierstunde

Klavierstunde

Tigresse

„Nein, so müssen Sie die Finger aufsetzen!“
Der alte Mann, der neben ihr saß, griff mit dem Arm von hinten um sie herum nach ihrer Hand und formte ihre Finger zu fragilen Bögen, die bei jeder schnelleren Bewegung wieder einzuknicken drohten.
Magdalena wünschte, die Stunde wäre bald vorbei. Zum 15. Geburtstag hatte sie endlich die langersehnten Klavierstunden geschenkt bekommen, doch die Lust daran war ihr schnell vergangen. Der alte Mann hieß Lehmann, Dr. Lehmann, darauf bestand er, doch Magda wußte nicht, wofür der Doktor stand. Er roch nach Rauch und Pfefferminz; mit dem einem versuchte er wohl, das andere zu bekämpfen, doch die Aromen verbanden sich nur zu einer unangenehmen Kombination, die Magda beständig den Atem anhalten ließ, wenn er, wie so häufig, mit dem Arm um sie herumgriff, ihre Taille streifte und dicht an ihrem Ohr sprach.
Er lobte sie selten, eigentlich fast nie, wenn sie darüber nachdachte, statt dessen fand er nur allzu häufig einen Grund, ihr tadelnd ins Ohr zu seufzen und korrigierend nach ihrer Hand zu greifen.

„Magdalena, Magdalena, wo sind Sie nur mit Ihren Gedanken?“
Magda schrak auf aus ihrem Wunschtraum, der sie gerade ins sommerlich überfüllte Freibad zu ihren Klassenkameraden gebracht hatte.
„Ich... es tut mir leid, Herr Lehmann, ich habe bloß... an meine Schularbeiten gedacht, die ich noch machen muß.“
„So, Magdalena, haben Sie das?“
Er machte eine Kunstpause, und Magda hielt wieder den Atem an, als er sich vorbeugte, so daß sein Gesicht viel zu dicht bei dem ihren war und ihr sein warmer, abgestandener Atem entgegenschlug.
„Sagen Sie, Magdalena, warum sieze ich Sie eigentlich?“
„Weil Sie es so wollten, Herr Lehmann.“
„Weil ich es so wollte...“, wiederholte er langsam, fast genüßlich die Worte im Mund herumwälzend.
„Und wie sollst Du mich nennen?“
„Dr. Lehmann. Es tut mir leid, Dr. Lehmann!“
„Schon gut, mein Kind.“
Er schenkte ihr ein überraschendes Lächeln, das seine gelben Zähne prächtig zur Geltung brachte und genau so falsch wirkte, wie sein freundlich-väterlicher Tonfall.

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