Ganz versunken in den Anblick seiner geliebten Mauern und Türme, nahm er das Pärchen, das auf der Landstraße auf ihn zu kam, erst im letzten Moment wahr. Der Mann, ein gedrungener Typ mit ziemlich dunkler Haut- und Haarfarbe, fiel ihm durch sein weichliches, südländisches Gesicht auf, das einen verschlagenen Eindruck machte. Er trug einen eleganten, hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd mit offenem Kragen und um den Hals eine dicke Goldkette. Beim Vorbeigehen schaute er starr gerade aus und beachtete den dicken, weißen Mercedes ebenso wenig, wie den Mann, der danebenstand. Dieser wollte gerade höflich „bonjour“ sagen, doch als er die offensichtliche Ignoranz bemerkte, verzichtete er darauf. „Was für ein Arschloch, vermutlich ein Zuhälter“, dachte er stattdessen. Aber der Mann interessierte ihn ohnehin nicht, weil seine ganze Aufmerksamkeit der jungen Frau an seiner Seite galt, der er einen Arm um die Schulter gelegt hatte und die sich, Halt suchend, dicht an ihn schmiegte und ihrerseits einen Arm um seine Hüfte gelegt hatte. Sie brauchte diesen Halt, um mit dem Mann Schritt zu halten, was ihr aber oft misslang. Denn sie stolperte immer wieder und klammerte sich dann noch fester an die Anzugjacke. Das Stolpern sah zwar lächerlich aus, aber der Grund ihrer Unsicherheit faszinierte den Beobachter am Straßenrand. Sie stakste auf bleistiftdünnen, hochhackigen Stilettos über die Unebenheiten des Pflasters. Diese mörderischen, knallroten Schuhe zogen seinen Blick magisch und lenkten ihn auf die langen, wohl geformten Beine. An diesen wanderte er hoch, über die schlanken Fesseln, die festen Waden zu den Knien, die einen kleinen Knick der Symmetrie verursachten, dann weiter auf die auf strammen Oberschenkeln bis zum Saum eines engen, zitronengelben Kleids, das ihren aufreizend hin und her wackelnden Po nur sehr knapp bedeckte. Es war ein auffallendes Kleid, das mehr enthüllte als verbarg und unter dem sich die tadellose Figur seiner Trägerin höchst attraktiv abzeichnete und auf dem eine Fülle schwarzer, lockiger Haare lag.
„Mein Gott, sieht die gut aus“, dachte der Mann bei diesem Anblick. „Was für ein Arsch, diese Beine, diese Figur! Schade, dass ich sie nicht von vorne gesehen habe. Ob ihr Gesicht wohl auch…“ Er hatte seinen Gedanken noch gar nicht zu Ende gebracht, als sein Wunsch auf unerwartete Weise erfüllte wurde. Die junge Frau in Gelb drehte ihren Oberkörper halb nach hinten, in seine Richtung, was prompt dazu führte, dass sie noch unsicherer, noch staksiger dahinwackelte und sich nun mit beiden Händen am Jackett ihres Begleiters festkrallen musste. Das Gesicht war nicht übel, nicht ganz das, was er erwartet hatte, aber dennoch faszinierend. Es war schmal, mit einer etwas zu breiten Nase, einem etwas zu starken Kinn und mit vollen, sinnlichen Lippen, malerisch umrahmt von diesen langen, schwarzen Haaren. Was ihn jedoch ganz durcheinander brachte, ja geradezu erschauern ließ, waren ihre schwarzen Augen, besser gesagt der Blick, den sie ihm zuwarf und der nur ihm galt, ihm allein. Es war nicht zu fassen, wie diese Frau ihn anschaute, ihn, einen alten, langweiligen Mann, der Wert auf exakte Bügelfalten legte und zu hause graue Strickjacken bevorzugte. Ihr Blick war nicht neugierig, sondern eindeutig herausfordernd, auf eine Weise provozierend, dass der Getroffene ihn gar nicht missverstehen konnte. „Du gefällst mir, alter Mann! Ich will dich kennen lernen“, das wären die Worte gewesen, wenn sie geredet hätte. Das oder so etwas Ähnliches hätte sie gesagt, da war er sich ganz sicher. Nach ein paar Sekunden drehte sie sich wieder um, stelzte ein Stück weiter und redete auf ihren Begleiter ein. Und noch einmal wendete sie den Kopf dem verdatterten Mann zu, der sich an seinen Mercedes gelehnt hatte und seine Mauern und Türme fast vergessen hatte und nur dieser Erscheinung nachstarrte. Diesmal lächelte sie und er meinte nun herauszulesen: „Komm nach! Folge mir! Such mich! Du wirst es nicht bereuen.“ Er war verwirrt und atmete auf einmal schneller, ein Kloß steckte in seinem Hals. Er war so verwirrt, wie ein Mann über sechzig nur sein kann, wenn ihn eine schöne, junge Frau mit gerade mal Anfang zwanzig, mit einem solch unverhohlenen Interesse anschaute. „Das darf nicht wahr sein. Wenn das eine Sinnestäuschung war, war es eine schöne“, ging es ihm durch den Kopf, als sie auf dem Weg in Richtung Altstadt immer kleiner wurden und bald aus seinem Blick verschwunden waren.
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schreibt Huldreich