Die Rache ist mein; ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und ihr Künftiges eilet herzu. (5. Moses 32:35)
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Als der blaue Kastenwagen in der späten Dezembernacht an dem Aussichtspunkt vorbeifuhr, dachte er an seine erste Begegnung mit der kleinen Stadt A., an den phantastischen Blick auf die malerische Altstadt, an die Vorfreude, durch die engen Gassen zu streifen und natürlich an das schöne Mädchen in dem gelben Kleid. Die Sonne hatte geschienen, seine Stimmung war heiter und die Welt noch in Ordnung gewesen.
An jenem Sonntag im Juni hatte er in einer Haltebucht geparkt, auf die ein Schild mit der Aufschrift „belle vue“ hinwies. Vor ihm lag die romantische Silhouette der kleinen Provinzstadt A., die sich den Berg hinaufzog, eine ineinander verschachtelte Ansammlung von Türmen, Giebeln, geduckten Häusern, rot-braunen Ziegeldächern, ein harmonisches Ensemble von Häusern, alten Mauern und vereinzelten, hohen Bäumen. Er liebte diese alten Städtchen, die im Reiseführer kaum erwähnt wurden, die aber alle eine lange Geschichte und manche Geheimnisse hatten, die zu entdecken und zu erforschen sich lohnte: sei es eine vergessene Wallfahrtskirche, ein romanisches Tympanon, verblasste Mosaiken aus der Römerzeit, gotische Türme oder barocke Gewölbe. Er sammelte diese alten, verwunschenen Städte regelrecht und freute sich, wenn er wieder eine entdeckt hatte, die „niemand“ kannte. Er atmete die warme Luft des Sommers ein und genoss den Duft der Linden, deren dichtes Blattwerk den weniger attraktiven Blick auf die neuen Stadtteile schamhaft verbarg, auf die Lagerhallen, die Industriebauten, die Brachflächen, einen Schrottplatz und die Kleingärten. Dieser Teil der Stadt interessierte ihn nicht, warum sollte er auch.
Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, dem der Erfolg jedoch nicht in die Wiege gelegt worden war. Er hatte sich durch harte Arbeit hoch geschafft und die Zeit, die ihm für den Rest des Lebens blieb, war karg bemessen. Um so mehr war er darauf bedacht, diese Zeit effizient zu nutzen. Denn er war nicht nur der clevere Macher, den die Kunden und Kollegen kannten und schätzten, sondern auch ein Schöngeist und Genießer, ein Bonvivant. Wenn immer es möglich war, verband er seine Geschäftsreisen mit Entdeckungen in der Provinz und dem Besuch guter Restaurants. Seine Sammlung von Sternerestaurants war recht ansehnlich, fast so groß, wie die seiner „verwunschenen Romantikstädte“, wie er sie nannte. Doch nur selten gelang es ihm, beide Leidenschaften auf einer Reise zu befriedigen, denn in diesen Städtchen waren in der Regel keine herausragende Lokale angesiedelt. Die Liebe zu Coquillages und Coq au vin, zu Bordeaux und Burgunder sah man ihm durchaus an. Er hatte meist einen freundlichen, heiteren Ausdruck in seinem rosa Gesicht, den allerdings manche Geschäftspartner falsch interpretierten. Eine randlose Brille ließ ihn viel seriöser erscheinen als er war. Nicht dass er ein Betrüger wäre oder einer, der richtig krumme Sachen machte, nein, dass nicht, aber er war knallhart, skrupellos und scheute sich nicht, haarscharf an der Grenze zu Illegalität zu agieren. Ein deutlicher, wenn auch nicht üppiger Bauchansatz, kündete von seiner Liebe zur „grande cuisine“. Stets gut und geschmackvoll gekleidet, war er der Prototyp eines soignierten Gourmets, der in jeder Talkshow über Kunst und Küche einen guten Eindruck hinterlassen hätte. Und für die, die ihn nicht so recht kannten, stellte er einen grundsoliden Händler dar, von dem man bedenkenlos jeden Gebrauchtwagen gekauft hätte.
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schreibt Huldreich