Knocked out

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Knocked out

Knocked out

Yupag Chinasky

Die Rache ist mein; ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und ihr Künftiges eilet herzu. (5. Moses 32:35)

1

Als der blaue Kastenwagen in der späten Dezembernacht an dem Aussichtspunkt vorbeifuhr, dachte er an seine erste Begegnung mit der kleinen Stadt A., an den phantastischen Blick auf die malerische Altstadt, an die Vorfreude, durch die engen Gassen zu streifen und natürlich an das schöne Mädchen in dem gelben Kleid. Die Sonne hatte geschienen, seine Stimmung war heiter und die Welt noch in Ordnung gewesen.

An jenem Sonntag im Juni hatte er in einer Haltebucht geparkt, auf die ein Schild mit der Aufschrift „belle vue“ hinwies. Vor ihm lag die romantische Silhouette der kleinen Provinzstadt A., die sich den Berg hinaufzog, eine ineinander verschachtelte Ansammlung von Türmen, Giebeln, geduckten Häusern, rot-braunen Ziegeldächern, ein harmonisches Ensemble von Häusern, alten Mauern und vereinzelten, hohen Bäumen. Er liebte diese alten Städtchen, die im Reiseführer kaum erwähnt wurden, die aber alle eine lange Geschichte und manche Geheimnisse hatten, die zu entdecken und zu erforschen sich lohnte: sei es eine vergessene Wallfahrtskirche, ein romanisches Tympanon, verblasste Mosaiken aus der Römerzeit, gotische Türme oder barocke Gewölbe. Er sammelte diese alten, verwunschenen Städte regelrecht und freute sich, wenn er wieder eine entdeckt hatte, die „niemand“ kannte. Er atmete die warme Luft des Sommers ein und genoss den Duft der Linden, deren dichtes Blattwerk den weniger attraktiven Blick auf die neuen Stadtteile schamhaft verbarg, auf die Lagerhallen, die Industriebauten, die Brachflächen, einen Schrottplatz und die Kleingärten. Dieser Teil der Stadt interessierte ihn nicht, warum sollte er auch.

Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, dem der Erfolg jedoch nicht in die Wiege gelegt worden war. Er hatte sich durch harte Arbeit hoch geschafft und die Zeit, die ihm für den Rest des Lebens blieb, war karg bemessen. Um so mehr war er darauf bedacht, diese Zeit effizient zu nutzen. Denn er war nicht nur der clevere Macher, den die Kunden und Kollegen kannten und schätzten, sondern auch ein Schöngeist und Genießer, ein Bonvivant. Wenn immer es möglich war, verband er seine Geschäftsreisen mit Entdeckungen in der Provinz und dem Besuch guter Restaurants. Seine Sammlung von Sternerestaurants war recht ansehnlich, fast so groß, wie die seiner „verwunschenen Romantikstädte“, wie er sie nannte. Doch nur selten gelang es ihm, beide Leidenschaften auf einer Reise zu befriedigen, denn in diesen Städtchen waren in der Regel keine herausragende Lokale angesiedelt. Die Liebe zu Coquillages und Coq au vin, zu Bordeaux und Burgunder sah man ihm durchaus an. Er hatte meist einen freundlichen, heiteren Ausdruck in seinem rosa Gesicht, den allerdings manche Geschäftspartner falsch interpretierten. Eine randlose Brille ließ ihn viel seriöser erscheinen als er war. Nicht dass er ein Betrüger wäre oder einer, der richtig krumme Sachen machte, nein, dass nicht, aber er war knallhart, skrupellos und scheute sich nicht, haarscharf an der Grenze zu Illegalität zu agieren. Ein deutlicher, wenn auch nicht üppiger Bauchansatz, kündete von seiner Liebe zur „grande cuisine“. Stets gut und geschmackvoll gekleidet, war er der Prototyp eines soignierten Gourmets, der in jeder Talkshow über Kunst und Küche einen guten Eindruck hinterlassen hätte. Und für die, die ihn nicht so recht kannten, stellte er einen grundsoliden Händler dar, von dem man bedenkenlos jeden Gebrauchtwagen gekauft hätte.

Ganz versunken in den Anblick seiner geliebten Mauern und Türme, nahm er das Pärchen, das auf der Landstraße auf ihn zu kam, erst im letzten Moment wahr. Der Mann, ein gedrungener Typ mit ziemlich dunkler Haut- und Haarfarbe, fiel ihm durch sein weichliches, südländisches Gesicht auf, das einen verschlagenen Eindruck machte. Er trug einen eleganten, hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd mit offenem Kragen und um den Hals eine dicke Goldkette. Beim Vorbeigehen schaute er starr gerade aus und beachtete den dicken, weißen Mercedes ebenso wenig, wie den Mann, der danebenstand. Dieser wollte gerade höflich „bonjour“ sagen, doch als er die offensichtliche Ignoranz bemerkte, verzichtete er darauf. „Was für ein Arschloch, vermutlich ein Zuhälter“, dachte er stattdessen. Aber der Mann interessierte ihn ohnehin nicht, weil seine ganze Aufmerksamkeit der jungen Frau an seiner Seite galt, der er einen Arm um die Schulter gelegt hatte und die sich, Halt suchend, dicht an ihn schmiegte und ihrerseits einen Arm um seine Hüfte gelegt hatte. Sie brauchte diesen Halt, um mit dem Mann Schritt zu halten, was ihr aber oft misslang. Denn sie stolperte immer wieder und klammerte sich dann noch fester an die Anzugjacke. Das Stolpern sah zwar lächerlich aus, aber der Grund ihrer Unsicherheit faszinierte den Beobachter am Straßenrand. Sie stakste auf bleistiftdünnen, hochhackigen Stilettos über die Unebenheiten des Pflasters. Diese mörderischen, knallroten Schuhe zogen seinen Blick magisch und lenkten ihn auf die langen, wohl geformten Beine. An diesen wanderte er hoch, über die schlanken Fesseln, die festen Waden zu den Knien, die einen kleinen Knick der Symmetrie verursachten, dann weiter auf die auf strammen Oberschenkeln bis zum Saum eines engen, zitronengelben Kleids, das ihren aufreizend hin und her wackelnden Po nur sehr knapp bedeckte. Es war ein auffallendes Kleid, das mehr enthüllte als verbarg und unter dem sich die tadellose Figur seiner Trägerin höchst attraktiv abzeichnete und auf dem eine Fülle schwarzer, lockiger Haare lag.

„Mein Gott, sieht die gut aus“, dachte der Mann bei diesem Anblick. „Was für ein Arsch, diese Beine, diese Figur! Schade, dass ich sie nicht von vorne gesehen habe. Ob ihr Gesicht wohl auch…“ Er hatte seinen Gedanken noch gar nicht zu Ende gebracht, als sein Wunsch auf unerwartete Weise erfüllte wurde. Die junge Frau in Gelb drehte ihren Oberkörper halb nach hinten, in seine Richtung, was prompt dazu führte, dass sie noch unsicherer, noch staksiger dahinwackelte und sich nun mit beiden Händen am Jackett ihres Begleiters festkrallen musste. Das Gesicht war nicht übel, nicht ganz das, was er erwartet hatte, aber dennoch faszinierend. Es war schmal, mit einer etwas zu breiten Nase, einem etwas zu starken Kinn und mit vollen, sinnlichen Lippen, malerisch umrahmt von diesen langen, schwarzen Haaren. Was ihn jedoch ganz durcheinander brachte, ja geradezu erschauern ließ, waren ihre schwarzen Augen, besser gesagt der Blick, den sie ihm zuwarf und der nur ihm galt, ihm allein. Es war nicht zu fassen, wie diese Frau ihn anschaute, ihn, einen alten, langweiligen Mann, der Wert auf exakte Bügelfalten legte und zu hause graue Strickjacken bevorzugte. Ihr Blick war nicht neugierig, sondern eindeutig herausfordernd, auf eine Weise provozierend, dass der Getroffene ihn gar nicht missverstehen konnte. „Du gefällst mir, alter Mann! Ich will dich kennen lernen“, das wären die Worte gewesen, wenn sie geredet hätte. Das oder so etwas Ähnliches hätte sie gesagt, da war er sich ganz sicher. Nach ein paar Sekunden drehte sie sich wieder um, stelzte ein Stück weiter und redete auf ihren Begleiter ein. Und noch einmal wendete sie den Kopf dem verdatterten Mann zu, der sich an seinen Mercedes gelehnt hatte und seine Mauern und Türme fast vergessen hatte und nur dieser Erscheinung nachstarrte. Diesmal lächelte sie und er meinte nun herauszulesen: „Komm nach! Folge mir! Such mich! Du wirst es nicht bereuen.“ Er war verwirrt und atmete auf einmal schneller, ein Kloß steckte in seinem Hals. Er war so verwirrt, wie ein Mann über sechzig nur sein kann, wenn ihn eine schöne, junge Frau mit gerade mal Anfang zwanzig, mit einem solch unverhohlenen Interesse anschaute. „Das darf nicht wahr sein. Wenn das eine Sinnestäuschung war, war es eine schöne“, ging es ihm durch den Kopf, als sie auf dem Weg in Richtung Altstadt immer kleiner wurden und bald aus seinem Blick verschwunden waren.

Das Hotel, in dem er ein Zimmer gebucht hatte, der Aigle noir, hatte zwar nur zwei Sterne und es war sogar recht klein, laut Prospekt hatte es nur zehn Zimmer, aber es lag mitten in der Altstadt und war grundsolide, wie er gleich beim Eintreten merkte. Das Zimmer war eng, aber sehr sauber und geschmackvoll eingerichtet, mit Blick auf den Marktplatz mit seinem Kopfsteinpflaster und der gotischen Kirche. Er war sehr zufrieden mit seiner Wahl. „Nehmen sie unbedingt ihren Schlüssel mit, wenn Sie ausgehen“ sagte die Madame an der Rezeption, vermutlich die Eigentümerin. “Ich wohne nicht hier und gehe abends nach hause, meist schon so gegen acht Uhr. Nachts ist dann niemand mehr da. Wenn Sie etwas brauchen, dort drüben steht ein großer Kühlschrank mit Getränken und im Frühstücksraum ist ein Kaffeeautomat. Sie können sich gern bedienen, schreiben Sie bitte auf, was Sie entnommen haben.“

Etwas problematischer war es, an ein gutes Essen zu kommen. Dass kein herausragendes Lokal in der Gegend angesiedelt war, wusste er aus seinem Michelinführer. Dass aber viele Lokale nicht nur am Montag, sondern schon am Sonntag Abend geschlossen waren, überraschte ihn immer aufs Neue. So war es auch hier und es bedurfte einiger Anrufe von Madame, um ein akzeptables, Restaurant, den Faisan d’or, ausfindig zu machen, das geöffnet war. Es lag etwas außerhalb der Innenstadt, am Rande eines kleinen Parks, war aber immer noch gut zu Fuß zu erreichen. Auf der Speisekarte bot es die traditionelle Küche der Region und damit war man, so seine Erfahrung, in der Regel auch ganz gut bedient. Das Essen war nicht überragend, aber gut, der Wein gepflegt und bezahlbar und das Ambiente gefiel ihm, es lud zum Verweilen ein, obwohl er der einzige Gast war und sich in der Tat fragte, warum es nicht ebenfalls geschlossen war. Aber das sollte sein Problem nicht sein. Als er seinen Kaffee trank und einen zweiten Cognac bestellte, ging er lieber noch einmal den Tag in Gedanken durch. Er dachte an die schöne Kirche mit ihren interessanten Fresken und Skulpturen, an das prächtige Rathaus, das von einer glorreichen Vergangenheit zeugte. Aber auch an die vielen leeren, aufgegebenen Geschäfte in den engen Kopfsteingassen, an die oft marode Bausubstanz der alten Gebäude, die bröckelnden Fassaden und die Schutthaufen in manchen Höfen. Er beneidete die Menschen nicht, die dort wohnen mussten. Romantik und Lebensqualität waren oft nicht deckungsgleich. Aber diese weniger schönen Details verdrängte er erfolgreich und rief sich stattdessen das wunderschöne Panorama der Altstadt in Erinnerung. Und natürlich ging ihm die schöne Frau in Gelb nicht aus dem Kopf, schon die ganze Zeit nicht.

2

Als er beim besten Willen keinen Grund mehr hatte, länger zu bleiben und auch merkte, wie der Kellner dezent auf seine Uhr schaute und den Feierabend herbei sehnte, bezahlte er, ließ ein großzügiges Trinkgeld zurück und machte sich auf den Weg in sein hübsches, langweiliges Hotel, um dort die restlichen Stunden des Sonntagabend zu verbringen. Auf einer Bank, die bereits zu dem kleinen Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehörte, sah er eine Gestalt sitzen, die ihm heftig zu winkte, als er die ersten Schritte auf die Straße gemacht hatte. Zu seiner Überraschung erkannte er beim genaueren Hinsehen die junge Frau wieder, die ihn am Nachmittag in solche Verwirrung gestürzt hatte. Sie trug zwar nicht mehr das gelbe Kleid, sondern Jeans und eine dunkle Bluse und statt der knallroten Stilettos hatte sie nur einfache Sandalen an, aber es war ohne Zweifel dieselbe Person. Das Gesicht mit den langen Haaren hatte er ebenso in seinem Gedächtnis gespeichert, wie die langen, schlanken Beine und dieses enge, aufregende, gelbe Kleid. Das Mädchen schien auf ihn gewartet zu haben, denn die Zeichen, die sie ihm gab, waren eindeutig, er solle zu ihr herüberkommen. Etwas irritiert winkte er zurück, überquerte aber dann doch die Straße. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und die Front der Bäume im Park war dunkel und abweisend. Auch die junge Frau war dunkel, mit ihrer schwarzen Mähne, den Jeans und der dunklen Bluse, aber abweisend war sie auf keinen Fall.

„Wollen Sie sich nicht ein Weilchen setzen?“ sprach sie ihn ohne Umschweife an. Und wieder waren es ihre Augen, die ihn diesmal neugierig und erwartungsvoll anschauten und die ihn erneut so faszinierten, dass er sich über das unerwartete Angebot keine Sekunde lang wunderte. Als sie kurze Zeit später durch den Park gingen, erst züchtig nebeneinander, dann, auf Initiative des Mädchens, Hand in Hand, wusste er, dass sie Janine hieß, dass sie ihn schon beim ersten Blick „très interessant“ gefunden hatte und ihn deswegen, nur deswegen, kennen lernen wollte. „In dieser Stadt ist nie was los. Hier kommt doch kein Mensch her. Wenn mal jemand auftaucht, so wie du, ist das ein Glücksfall.“ So plapperte sie munter drauf los und zerstreute mit ihrem Charme und ihrer natürlichen Ausstrahlung von vorne herein alle Zweifel und Ungereimtheiten, die ihn wegen dieser ungewöhnlichen, direkten Anmache hätten überkommen können. Er wollte wissen, wie sie ihn ausfindig gemacht habe. „In so einer kleinen Stadt ist das kein Problem“ meinte sie „ich habe dein Auto vor dem Aigle noir gesehen und die Madame hat mir gesagt, dass sie für dich im Faisan d’or angerufen habe. Voilà, das hat gestimmt. Ich musste nur ein Weilchen warten. Das war doch genial von mir, oder?“ Sie lachten. Etwas später legte er seinen Arm um ihre Schulter und sie gingen nun genauso eng aneinandergeschmiegt, wie er sie am Nachmittag gesehen hatte. Dass sie den Abend und, so seine zunächst noch vage Hoffnung, auch die ganze Nacht miteinander verbringen wollten, war klar, die Frage war nur wie und wo. Er hätte seine Eroberung am liebsten gleich in das Hotel abgeschleppt und unterwegs irgend etwas Trinkbares besorgt. Doch sie schlug vor, eine Bar aufzusuchen, die auch am Sonntag Abend geöffnet sei. Sie kenne eine. Das „Dernier cri“. Sie sei klein und intim, ideal, um den Tag ausklingen zu lassen. Sie könnten dort einen apéritif trinken, sie korrigierte sich lachend, er habe ja schon gegessen und deswegen sei es wohl ein digestif, jedenfalls könnten sie einen Cocktail oder ein Glas Champagner oder was auch immer trinken und in Ruhe miteinander reden. Und dann, sie zwinkerte ihm zu und er wurde daraufhin ganz hibbelig, könne man ja noch etwas Schönes aus dem Abend machen. Er sei ein so netter Mann und sie sei froh über die Abwechslung in diesem öden Kaff, sie musste dies noch einmal ausdrücklich betonen, um ihr Vorgehen, wie ihm schien, zu rechtfertigen. Und er habe doch sicher auch nichts gegen einen netten Abend. „Pas vrai, mon chèri? »

Auf die beiden Fragen, die ihn am brennendsten interessierten, hatte sie plausible Antworten parat. Der Mann von heute Mittag, das sei ihr Cousin gewesen. Sie kenne ihn schon lange. Sie seien von Kind an vertraut und würden daher oft eng aneinander geschmiegt spazieren gehen, aber sonst sei nichts zwischen ihnen. Nur Verwandtschaft, nur Freundschaft. Keine Liebe. „Non, non, non – pas d’amour avec Guy“ kicherte sie. Er solle nicht denken, dass sie eine pute sei, eine, das Geld wolle oder sich gar auf die Straße stelle. „Non, non, non – pas d’argent“. Ob er es denn noch nie erlebt habe, dass ihn eine Frau anspräche? Er sei doch attraktive, ja wirklich, und seriös. Sie liebe seriöse, ältere Männer, mit denen könne man reden, die seien verständnisvoll, würden zuhören und einen nicht gleich ins Bett abschleppen. Sie liebe gepflegte Gespräche und entspannte Spaziergänge und das Schöne im Leben. Bei diesen Worten schaute er sie etwas zweifelnd und spöttisch an. So ein junges Ding und so viel Abgeklärtheit. Sie bemerkte seinen Blick und beeilte sich, ihm ihre Haltung zu erklären. Ja, sie wisse, dass es ungewöhnlich sei, wenn eine junge Frau einen älteren Mann anspräche, aber heute habe man doch mehr Freiheiten als früher „n’est-ce pas?“. Männer würden doch immer nur an das eine denken und könnten sich gar nicht vorstellen, dass Frauen auch etwas anderes als Sex haben wollten. Sex sei bestimmt nicht ihre primäre Absicht, aber, sie lachte und drückte sich an ihn, wenn sich aus einer netten Bekanntschaft so etwas ergäbe, pourqoui pas, sie sei keine Heilige. Aber jetzt, jetzt wolle sie nicht über sich, sondern über ihn und mit ihm reden und das könne man am besten im „Dernier cri“.

„Die Bar liegt ziemlich außerhalb“, sagte sie, als sie am Hotel angekommen waren, „sie liegt sogar weit außerhalb. Um diese Zeit gibt es hier kein Taxi mehr und natürlich auch keinen Bus. Nehmen wir doch deinen Mercedes. Ich wollte schon immer mal in so einem chicen Auto fahren.“ Janine dirigierte ihn durch die Straßen und Gassen. Die Fahrt kam ihm erstaunlich lang vor, zwischendurch hatte er sogar das Gefühl, im Kreis zu fahren, aber vermutlich lag es daran, dass er die Gegend nicht kannte und es mittlerweile dunkel war. Aber vielleicht kannte auch das Mädchen den Weg nicht genau oder sie war nicht geübt, jemanden zu lotsen. Doch dann hatten sie endlich ihr Ziel erreicht. Die Bar lag in einer höchst unattraktiven Gegend, zwischen einer Schnellstraße und einer Eisenbahnlinie, umgeben von Gewerbebetrieben, Lagerhallen, einzelnen Wohnhäusern und in der Nähe eines Schrottplatzes. Dass es eine Bar war, vielleicht sogar ein Etablissement mit weitergehenden Dienstleistungen, wie er vermutete, war von außen nicht zu erkennen, keine rote Lampe, kein eindeutiges, zweideutiges Neonlicht, kein Schild. Es war ein gewöhnliches Wohnhaus. Möglicherweise sollten nur Stammkunden und Eingeweihte das Lokal finden. Als sie vor der Tür standen schlug sich Janine an die Stirn. „Jetzt fällt es mir wieder ein. Das Dernier cri ist doch am Sonntag geschlossen. Wie konnte ich das nur vergessen? Aber ich komme so selten hier her und am Sonntag schon gar nicht.  Aber, chèri, das macht nichts, ich kenne den Wirt gut, der ist nett und lässt uns bestimmt rein.“ Sie drückte auf den Klingelknopf und murmelte ein paar Worte in die Sprechanlage.

Kurz darauf öffnete der Besitzer die Tür. Er war ein ähnlicher Typ wie Guy, der Begleiter seiner Schönen vom Nachmittag. Kompakt und zugleich drahtig, aber mit einem wesentlich dickeren Bauch, einer blank polierten Glatze und einem dünnen, affigen Backenbart. In den Ohrläppchen glitzerten kleine Brillianten und an den Fingern steckten protzige Ringe. Nur die Kleidung wollte zu diesem Mann nicht passen, zu diesem – ihm fiel auch jetzt nichts anderes ein – zu diesem Zuhälter. Er trug ein ausgebleichtes, schlabberiges Sweatshirt, verwaschene Jeans und, er musste zweimal hinsehen, Pantoffeln mit gelb-schwarz kariertem Opamuster. Janine stellte ihn als Marcel vor. Nein, sagte Marcel, es würde ihm nichts ausmachen, die Bar für die beiden zu öffnen. Geschäft sei Geschäft und lieber nur ein paar Drinks verkaufen als keine. Ihm sei es egal, ob er sich in seinem Wohnzimmer oder hinter der Theke langweilte. Marcel gehörte zu den Menschen, die immer einen flotten Spruch auf der Zunge haben. Sie seien zwar allein, die einzigen Gäste, aber sie würden ja aussehen, als ob sie die einsame Zweisamkeit suchten, dabei zwinkerte er Janine verschwörerisch zu. Nur den Striptease, er grinste breit, den müsse Janine schon allein machen. Seine Stripperinnen seien in der Gewerkschaft und die achte darauf, dass am Sonntag nicht gearbeitet würde. Er lachte meckernd über seinen eigenen Witz. „Glaub ihm nichts“ sagte die Angesprochene, „hier gibt es nie Striptease, nur langweilige Pornos auf seinem Superbildschirm.“

Die Bar war, wie Bars nun einmal sind. Eng, schummeriges Rotlicht, eine Theke auf der einen Seite, auf der gegenüberliegenden vier kleine Separées mit Vorhängen, die, wenn man sie zuzog, diskret verbargen, was dahinter geschah. In der Mitte eine winzige Tanzfläche und als beherrschenden Blickfang, den schon erwähnten Superbildschirm neben der Theke. Die Einrichtung war kitschig und ziemlich billig, ja nahezu schäbig. Nichts wollte so recht zueinander passen. Die Stühle waren nicht einheitlich, die Vorhänge zu den Séparees von verschiedener Farbe und Machart, der rote Teppichboden fleckig, die Bilder an den Wänden einfallslos – spärlich bekleidete Schönheiten, die sich lüstern auf einem Stuhl, einem Bett oder dem Fußboden räkelten. Selbst die Theke, an sich das Schmuckstück einer jeden Bar, sah irgendwie verpufft aus, trotz der Spiegel, der vielen Gläser, der dekorativen Zapfhähne und der Flaschenbatterien. Seine Vermutung, dass hier mehr als Drinks und Glotze angeboten wurden, bestätigte sich, als er im Laufe des Abends auf die Toilette ging. Von dem kleinen Flur aus, wo die Toiletten lagen, führte eine Treppe nach oben. Auf einem pfeilförmigen Holzschild stand „aux chambres“, dahinter war ein rotes Plastikherz aufgeklebt. „Wollt ihr Pornos oder Musik?“ fragte Marcel und als sie keines von beiden wünschten, fuhr er fort „aber einen Drink müsst ihr schon bestellen, sonst muss ich euch wieder rausschmeißen.“ Sie setzten sich an die Theke. Er bestellte Gin tonic, sie wollte Fernet branca. Dann stießen sie auf ihr neues Glück an, das für ihn unerwartet kam, für sie aber durchaus geplant war.

„Salud! Ich kann es noch gar nicht fassen, mit einer so schönen Frau in einer Bar zu sitzen“ begann er das Gespräch und sah lange in ihre nachtschwarzen Augen, direkt in die Pupillen, die sich im Schummerlicht weit geöffnet hatten. Sie hielt seinem Blick stand und das verwirrte ihn auch jetzt wieder. Sie lachte und beide tranken. Ihr nichtssagendes Geplänkel ging hin und her. Janine war nett, charmant, sympathisch und durchaus nicht dumm, wenn auch ohne ausgeprägte Allgemeinbildung, wie er schnell merkte. Aber die brauchte sie hier nur ansatzweise, dafür verstand sie es, ein Gespräch aufrecht zu halten, obwohl dabei nichts wesentliches gesagt wurde und sie vermittelte ihrem Gegenüber den Eindruck, aufmerksam zuzuhören. Es schien sie zu interessieren, was er sagte. Sie nahm Anregungen auf, spielte den Ball zurück, war schlagfertig, neugierig, stellte Fragen. Alles Eigenschaften, die sie in einer zwielichtigen Bar zu einer angenehmen Gesprächspartnerin machte. Doch ihre Fähigkeiten waren damit noch lange nicht erschöpft, wie er später noch schmerzhaft erfahren sollte.

Leere Gläser wurden durch volle ersetzt und nach einiger Zeit schlug Janine vor, in eines der Séparées zu wechseln, dort sei es viel gemütlicher. Das Sofa mit dem roten Samtbezug war so schmal, dass sie jetzt dicht nebeneinandersaßen. Janine hielt in der rechten Hand ihr Glas und versetzte dessen Inhalt permanent in eine rotierende Bewegung. Ihre Linke hatte sie auf sein Knie gelegt, das sie nun sanft drückte. Das war für ihn das Signal, nun seinerseits zum Angriff überzugehen. Seine linke Hand rutschte auf ihrem Oberschenkel langsam immer höher, immer näher in Richtung ihres Schoßes. Aber Jeans sind nun mal kein Negligé und auch kein Rock, den man hochschieben kann. Es sind grobe, blaue Flächen, unter denen man allenfalls das weiche Fleisch spürt, aber bestimmt nicht die aufkommende Hitze einer beginnenden Erregung. Daher war gleichzeitig seine rechte Hand tätig und die war erfolgreicher. Sie fuhr erst über ihren Rücken, streichelte den angenehm weichen, kühlen Stoff ihrer Bluse, tastete sich dann hinunter bis zum Gürtel, zog und zerrte an der Bluse, bis diese zum Teil über dem Gürtel hing. Dann fand sie unter dem Stoff ihren Weg wieder den Rücken hinauf bis zu ihrem BH, um schließlich vor einem der Körbchen halt zu machen. Nach kurzem Verweilen und nach einem etwas fahrigen Abtasten des bestickten, dünnen Stoffs, bemühten sich Daumen und Zeigefinger hineinzukriechen. Dann endlich hatten sie ihr Ziel erreicht und widmeten sich einer erwartungsfroh aufgerichteten, erregten Brustwarze.

3

Janine ließ das alles ohne Widerspruch, ohne Zurückweichen, ohne Zicken mit sich geschehen. Sie war offensichtlich nicht nur auf ein geistreiches Gespräch aus. Im Moment jedoch schaute sie faszinierte auf die Hand, die auf ihrem Oberschenkel lag. Sie schaute auf den kleinen Finger, an dem sie etwas vermisset. Das letzte Glied mit dem Fingernagel. Es war weg. Da war nur noch ein Stumpf, nur noch eine Narbe. Janine war neugierig, die Sache mit dem kleinen Finger ließ sie nicht in Ruhe und nach einer Weile fragte sie „Wie ist das denn passiert, chéri? Willst du es mir erzählen? Ich bin so neugierig.“ Etwas widerstrebend, aber gleichzeitig durch ihr Interesse geschmeichelt - kann man einer schönen Frau etwas abschlagen? – begann er zu erzählen, von einer Zeit, die längst vergangen war, einer Zeit als in Jugoslawien Krieg herrschte und er als Berufssoldat in der Armee einen ziemlich langweiligen Dienst schob.

Nachdem der Krieg bedrohliche Dimensionen erreicht hatte, wurden Freiwillige für den NATO-Einsatz gesucht. Er meldete sich. Ihn reizte sowohl die Aussicht auf ein Abenteuer als auch die Möglichkeit, das so oft Geübte anzuwenden, die Aufgaben eines Soldaten nicht nur durchzuspielen, sondern sich im richtigen Kampf zu beweisen. Er verhehlte aber auch nicht, dass der zusätzliche Sold ein wichtiges Argument für die Entscheidung gewesen war. Er kam in eine Elitetruppe und erhielt zunächst eine besondere Ausbildung als Einzelkämpfer, Scharfschütze und Spezialist für Minenräumung und Sprengkörperbeseitigung. Die tägliche Aufgabe seiner Einheit war es, verdächtige Objekte zu kontrollieren, Bomben zu entschärfen oder notfalls zu sprengen. Doch der mit Abstand interessanteste und begehrteste Job war der Personenschutz. Wenn VIPs kamen, hochstehende Militärs und Politiker auf Truppenbesuch, mussten sie rund um die Uhr bewacht und ihr Umfeld beobachtet werden. Jeder Beschützer war mit einem Präzisionsgewehr ausgerüstet und sie hatten nicht nur die Freiheit, sondern sogar den Befehlt, verdächtige Personen kampfunfähig zu machen, ja notfalls zu erschießen. Die Sicherheit ihrer Schutzobjekte hatte höchste Priorität.

Ja, er habe mehrfach geschossen. Ob er jemanden getötet habe, wisse er nicht, aber er habe mehrfach Angriffe abgewendet. Ja, das Entschärfen von Bomben sei sehr gefährlich, man brauche gute Nerven und eine ruhige Hand. Was mit dem Finger geschehen war? Nun ja, eines Tages waren sie von einer Gruppe Serben überrumpelt worden, als sie gerade bei einer kleinen Feier waren. Ihr Kommandant hatte Geburtstag und er hatte seine Leute zu einer Grillparty eingeladen. Es gab Lamm am Spieß, ein Fass Bier, Musik und Frauen, junge Mädchen. Im Krieg fände man immer welche, die man nicht lange überreden müsse. Sie feierten abseits des Lagers auf einer Wiese an einem kleinen Fluss. Es war Sommer, wie jetzt, ein schöner, milder Abend. Die Wache, die sie aufgestellt hatten, war leider auch abgelenkt, durch Bier und Weiber. Jedenfalls sei plötzlich diese Gruppe Serben aufgetaucht, aus dem Nichts. Es gab einen kurzen Kampf, ein paar Schüsse, Gerangel Mann gegen Mann. Die Partisanen seien schnell wieder verschwunden, ohne viel Schaden anzurichten. Aber die fehlende Fingerkuppe sei ihm als Andenken geblieben.

Er schwieg. Während er erzählte, er sprach leise und eindringlich, hatte er sich verändert. Aus dem jovialen, charmanten älteren Herrn, der auf der Suche nach einem kleinen Liebesabenteuer eine willige Partnerin gefunden hatte, war ein kalter, harter Soldat geworden. Sein Blick war starr in die Ferne gerichtet, sein Gesichtsausdruck verhärtet. Janine hatte fasziniert zugehört, war jedoch noch nicht zufrieden, nachdem er geendet hatte. „Aber wie ist das denn mit deinem Finger passiert? Warum hast du ihn verloren?“ Er schwieg immer noch, wollte offensichtlich nicht mit der Sprache heraus. Aber dann räusperte er sich, schien seine Bedenken weggewischt und Vertrauen zu der jungen Frau gefasst zu haben. Er nahm einen Schluck und fuhr fort.

„Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden und ich mache es auch sonst nicht, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn ich die alte Geschichte mal jemandem erzählen kann. Ich bin, ehrlich gesagt, auch heute noch nicht darüber hinweggekommen, nach so langer Zeit. Also ich - er zögerte erneut -, ich war einer derer, die zur Wache eingeteilt waren. Meine Schicht begann recht spät und ich hatte bereits einige Bier intus. Der Beobachtungsposten war auf einer kleinen Anhöhe, von der aus man den Zugang zu der Wiese und dem kleinen Bach gut kontrollieren konnte. Einem aufmerksamen Beobachter wäre niemand entgangen, der sich den feiernden Kameraden nähern wollte. Ich hatte meinen Platz kaum eingenommen, mein Vorgänger hatte sich gerade mit den Worten „keine besonderen Vorkommnisse, alles ruhig“ auf den Weg zu den Kameraden gemacht, da raschelte es im Gebüsch und eine Frau stand plötzlich vor mir. Es war eine von denen, die wir eingeladen hatten, mit uns zu feiern. Ich kannte sie vom Sehen. Sie tauchte immer mal wieder vor unserem Lager auf oder in einem der Lokale, in dem wir etwas Entspannung und Zerstreuung suchten. Ich wusste ihren Namen nicht und ich hatte auch noch nie etwas mit ihr gehabt. Sie lachte mich an und flüsterte mir zu, wie es denn mit uns beiden sei, ob wir nicht zusammen etwas machen wollten, er wisse schon was.

Sie wollte mich, vielmehr mein Geld und ich wollte sie. Ja, ich war wild darauf, es mit einer Frau zu treiben. Der tägliche Stress forderte einen Ausgleich, Entspannung gab es nur selten, zudem hatte mich das Bier angetörnt und die laue Sommernacht heiß gemacht und ich hatte schon länger nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Die unerwartete Gelegenheit das langweilige Wacheschieben etwas kurzweiliger zu gestalten, wollte ich jedenfalls nicht ungenutzt verstreichen lassen. Diese Frau kam mir gerade gelegen. Wache hin, Wache her. In den paar Minuten, die wir brauchten, würde bestimmt nichts passieren.

Wir reden kurz miteinander und sind uns im Prinzip einig, aber sie zögert, besser gesagt, sie verzögert. Erst handelt sie mit mir wegen dem Geld rum. Eigentlich gab es einen Einheitspreis, den alle kannten und an den man sich hielt. Sie will mehr, ich will ihr aber nicht mehr geben. Sie jammert, dass sie ein Kind zu versorgen habe und all den Scheiß, den die Weiber immer sagen. Wir zackern eine Weile herum, schließlich willige ich ein. Dann will sie unbedingt wissen, ob ich ein Kondom dabeihabe. Mehr noch, sie will es sehen, ob es ein gutes sei, das nicht reißt. Wir hatten nur gute, wir kauften sie in unserem kleinen Truppenladen, nicht das billige Zeug, das auf den Märkten oder an den Straßenecken angeboten wurde. Ich krame in meinen Taschen herum und zeige ihr die Packung. Aber auch dann kommen wir noch nicht zur Sache. Plötzlich fällt ihr ein, dass sie Pipi machen muss. Sie schlägt sich hinter die Büsche und wird ewig nicht fertig. Ich frozzele, als sie endlich wieder auftaucht, ob sie gerade eine Geburt gehabt oder ein großes Geschäft gemacht habe und drängle sie, endlich voranzumachen. „Leg dich hin, Rock hoch, Hosen runter.“ Aber das verdammte Weib will immer noch nicht zur Sache kommen und langsam werde ich sauer. Sie merkt es und schluchzt. „Ich weiß nicht, ich glaube ich habe meine Tage.“ Darauf ich. „Spinnst du, du Schlampe, warum bist du denn hier, wenn du nicht kannst?“ Sie. „Nein, ich kann ja. Ich glaube bloß, ich bin kurz davor und da muss ich immer ganz vorsichtig sein. Da brauche ich immer Zeit.“ Endlich hat sie keinen Grund mehr, die Sache noch länger hinauszuzögern. Sie legt sich auf das Gras und fängt an ihren Rock hochzustreifen und ich bin gerade dabei, die Hosen runterzulassen, da kommen die Serben.

Es geht alles so schnell, dass ich nicht weiß, wie mir geschieht. Im Nu bin ich überwältigt und gefesselt und geknebelt und dann sind sie am Bach und fangen dort mit ihrem Affentheater an, das ja schnell beendet war, wie ich schon gesagt habe. Leider haben sie mich auf dem Rückzug mitgenommen. Geiselnahme kam damals öfters vor. Ich lebte ein paar Tage in einer Höhle, mit Wasser und Brot, wirklich nur Wasser und Brot und sie versuchten für mich Lösegeld einzutreiben. Weil das nicht auf Anhieb funktionierte, brauchten sie ein besseres Argument. Das Argument war das äußerste Glied meines kleinen Fingers. Mit einem Messer hat mir einer die Fingerkuppe abgeschnitten, nein, regelrecht abgehackt. Hand auf einen Baumstamm, einer hält sie fest, der andere schlägt zu. Zack. Geht schnell. Sie haben mir noch angedroht, dass dann das nächste Glied und dann der nächste Finger dran sei und so weiter, bis sie ihr Geld hätten. Zum Glück hat mein Kommandant rasch gehandelt und gezahlt und dann haben sie mich tatsächlich frei gelassen. Doch für mich kam jetzt erst das dicke Ende. Militärgericht, Anklage wegen Vernachlässigung meiner Dienstpflicht, Verhandlung, Verurteilung. Leute wie mich, könne man in einem Kampfgebiet nicht gebrauchen. Ich wurde umgehend in die Heimat zurückgeschickt. Ich habe dann meine Entlassung eingereicht, ich hätte keine Zukunft mehr beim Militär gehabt.“

4

Er saß ruhig da. Die Erinnerung an die Vergangenheit hatte ihn sichtlich getroffen und davon schien er selbst überrascht zu sein. Doch ein kräftiger Schluck brachte ihn zu sich und aus dem Soldaten wurde wieder der nette, ältere Herr, der andere, bessere Dinge zu tun hatte, als in seiner Vergangenheit zu kramen und unangenehmen Gedanken nachzuhängen. Und das sagte er ihr auch. „Jetzt ist Schluss mit den alten Geschichten. Erzähl du mir mal etwas. Wo kommst du eigentlich her? Von hier bist du doch nicht, oder?“ Aber Janine war nicht nach Reden zu Mute oder sie wollte nichts über sich Preis geben. Sie bevorzugte es zu schmusen und überzeugte ihren Lover mit einem langen, feuchten Kuss, dasselbe zu wollen.

Als der Kuss zu Ende, die Gläser leer, er schon ziemlich benebelt und die romantische Stimmung leicht angeknackst war, fragte er Janine, was denn nun als nächstes passieren sollte. Sie könnten doch nicht den ganzen Abend hier in der Bar sitzen. Ob sie jetzt in sein Hotel gehen sollten oder ob es einen besseren Vorschlag gäbe und wie, er räusperte sich etwas verlegen, wie das mit der Bezahlung sei. Janine, der man in keiner Weise anmerkte, dass sie genauso viel getrunken hatte wie er – später, als er den Abend rekonstruierte, kam er zu dem Schluss, dass sie wohl immer alkoholfreie Drinks bekommen hatte – flötete. „Gleich mein Schatz, wir gehen gleich. Wenn du willst, in dein Hotel, aber wir können auch hier ein Zimmer mieten. Mir ist es egal, Hauptsache wir sind noch eine Weile zusammen. Ich freue mich, glaub mir, mein Held! Wegen irgendwelchem Geld brauchst du dir doch gar keine Gedanken machen. Hast du denn schon vergessen, dass ich dir gesagt habe, dass ich kein Geld will? Wenn du mir ein Geschenk machen willst, na gut, ich will dich ja nicht beleidigen, das nehme ich an. Aber wie viel du mir gibst, liegt ganz an dir. Du wirst mich schon nicht enttäuschen.“ Aber, fuhr sie aufgekratzt fort, bevor sie jetzt gehen, müssten sie unbedingt noch den Spezialcocktail des Hauses bestellen. Zum Abschluss dieses schönen Abends und bevor eine noch schönere Nacht begänne, müsse er unbedingt einen „Sudden death“ probieren, eine eigene Erfindung von Marcel. Der Cocktail sei ganz, ganz prima, ziemlich stark, aber große Klasse. Sie würde ihn immer trinken, wenn sie hier sei. „Ohne einen Sudden death können wir unmöglich, unmööööglich, die Bar verlassen.“ An sich hatte er schon mehr als genug getrunken und fahren musste er ja auch noch, denn irgendwie widerstrebte ihm der Gedanke, mit Janine in eines der Zimmer dieser billigen Absteige zu gehen, da war das Hotel allemal besser. Also gut, willigte er ein, man müsse die Feste feiern, wie sie fallen, das sei schon immer einer seiner Leitsprüche gewesen und er wollte nur wissen, ob dieser schnelle Tod süß sei, süße Drinks möge er nicht. Aber nein, beruhigte ihn Janine, die möge sie doch auch nicht. Er habe doch gesehen, was sie bestellt habe, oder nicht?

Der Wirt brachte zwei „Sudden deaths“ und sagte, als er das langstielige Glas vor ihn auf den Tisch stellte, der hier sei ganz besonders „nicht süß“ und es sei auch mehr Gehaltvolles drin als normal, extra für ihn. Dabei lachte er wieder, sein seltsam obszönes, meckerndes Lachen. Es war ein rötliches Zeug, das nach Chili und Mokka und Wodka schmeckte, als er daran nippte, eine Mischung, die er sich freiwillig nie hergestellt hätte und die er freiwillig lieber nicht hätte trinken sollen. Janine schaute ihn neugierig an, gespannt auf seine Reaktion. Als sie die Skepsis in seinem Gesicht aufkommen sah, lachte sie und belehrte ihn. „So trinkt man den aber nicht. Man muss ihn rasch auszutrinken, ex, auf einen Zug, so wie Schnaps oder Wodka, dann ist der Geschmack am besten.“ Hatte sie Geschmack oder Wirkung gesagt? Sie hielt ihm ihr Glas hin. Sie stießen an, es schepperte dissonant. Janine kippte ihr Glas auf einen Zug hinunter. Er zögerte immer noch. Warum bestellt man sich einen Long-drink wenn man ihn so rasch austrinken soll? Doch er wollte seiner neuen Flamme nicht nachstehen und zeigen, dass ihm Chili und andere heiße Sachen nichts ausmachten und vor allem wollte er endlich, endlich mit Janine dahin, wo er von Anfang an hin gewollt hatte. Er schaute sie über den Rand seines Glases schelmisch an, setzte an und schon war es leer. Dann begann die Malaise.

Nach wenigen Augenblicken wurde er müde, sehr müde, er sah noch, wie Janine sich ihm näherte, ihm einen Kuss auf die Wange drückte und irgend etwas sagte, das in seinem umnebelten Hirn – hatte er denn wirklich schon so viel gesoffen? – als „pardon chèri et au revoir“ registriert wurde. Und noch etwas nahm sein Restverstand wahr. An der Theke standen plötzlich zwei Männer. Nicht nur Marcel, der ihn gespannt beobachtete, sondern auch der Mann von heute Nachmittag, Guy, an den sich seine Schöne so festgeklammert hatte. Jetzt sah Guy zu ihm hin und grinste ihn breit an. Dann verschwamm alles um ihn herum und nacheinander verschwanden das leere Glas, der kleine Tisch, das rote Licht und schließlich auch die süße Janine, die neben ihm saß und seinen Kopf hielt, um zu verhindern, dass sein bleischwerer Schädel auf dem Tisch aufschlug.  

5

Er wachte auf, weil Regen auf sein Gesicht tropfte. Er wusste nicht, was los war und wo er war, nur dass er fürchterliches Kopfweh hatte, das merkte er sofort. Er schlug die Augen auf und obwohl es noch dunkel war, stellte er fest, dass er auf einem Stück Rasen lag, am Rand einer Straße, besser gesagt im Straßengraben. Dann fühlte er, dass seine Jacke ganz nass war und auch seine Hose und dass diese nicht nur vom Regen, sondern auch von seiner Pisse nass war und dass er ganz schön stank. Er musste würgen und erbrach sich. „Verdammt, verdammt, was ist nur los?“ Er zwang sich, die letzte Zeitspanne zu rekonstruieren, an die er sich noch erinnern konnte. Rotes Licht, ein enger Raum, ein rotes Sofa, eine Theke, dahinter ein Mann, nein, zwei Männer. Neben sich auf dem Sofa dieses Mädchen - wie hieß sie doch gleich? – ach ja, Janine. In ihrer Hand ein hochstieliges Glas und noch so ein Glas in seiner. Das war der rote Drink mit dem komischen Namen. Delirium tremens? Nein, wie hieß er doch gleich?... Sudden death, richtig, so hieß das Zeug. Wie sinnig, wie unheimlich sinnig, dachte er jetzt. Ja, das war der entscheidende Moment gewesen, als er diesen Drink in sich hineinkippte. Warum kippte? Ach ja, diese Janine, wollte es, sie drängelte ihn. Danach black out, sudden death. Man hatte ihn also gelinkt, verarscht, k.o. gemacht, knocked out. Ihn, den ehemaligen Einzelkämpfer und Elitesoldat, dem so etwas noch nie passiert ist, dem so etwas einfach nicht passieren durfte. Ihm, diesem ausgekochten Fuchs, der immer alles im Griff hatte, der alles durchschaute. Ihn hatte diese raffinierte Schlampe, der er vertraut hatte, der er, erst jetzt fiel es ihm wieder ein, sogar die dunkelste Geschichte aus seinem Leben anvertraut hatte, ihn hatte dieses Weib und ihre Macker gelinkt, betrogen, erniedrigt. Wut und Ärger stiegen in ihm auf und zugleich der Wunsch nach Rache, nach Vergeltung. Denen werde ich es zeigen! Da habt ihr euch den Falschen ausgesucht!

Mühsam rappelte er sich hoch und stand, wenn auch leicht schwankend, auf seinen Füßen. Erst jetzt merkte er, dass diese Ärsche ihm die Schuhe weggenommen hatten. Er fasste in seine Hosentasche. Leer! Hastig klopfte er alle Taschen nacheinander ab. Alle leer, alles war weg. Sein Geldbeutel mit Bargeld, Kreditkarten, Führerschein, Ausweis. Sein teures Handy, seine Rolex und natürlich alle Schlüssel, der Haustürschlüssel, der Hotelschlüssel und auch der für den Mercedes mit dem in Silber gefassten Glückspfennig am Schlüsselring. Er gab sich wegen des Autos keinen Illusionen hin, das war bestimmt auch weg. Ärgerlich war, dass mit dem Auto auch der Laptop und die wichtigen Geschäftsunterlagen weg waren. Nichts war mehr da, nur noch die Klamotten, die er an hatte und das bisschen Handgepäck im Hotel, nicht viel mehr als eine Zahnbürste und ein Rasierapparat.

Er fluchte und überlegte, wo er eigentlich war. Kein Haus weit und breit. Er war irgendwo auf freiem Feld. Die beiden Gauner hatten ihn hier her gekarrt, wahrscheinlich mit seinem eigenen Auto und ihn einfach in den Straßengraben geworfen, wie einen Sack in den Graben gekippt. Er ging los, aufs Geratewohl. Seine Sohlen schmerzten bereits nach kurzer Zeit. Kein Mensch begegnete ihm zu der frühen Stunde, kein Auto, nichts. Instinktiv war er aber in die richtige Richtung gegangen, denn nach einiger Zeit sah er im Dämmerlicht des aufkommenden Morgens das Panorama der Altstadt, das sich gegen den nachtdunklen Himmel abhob. Er war wieder an der Stelle, von wo aus er die Stadt zum ersten Mal gesehen hatte. Dann kamen bald die ersten Häuser und als die Straße anstieg, wusste er, dass er auf dem richtigen Weg war. Er überlegte, ob er versuchen sollte die Bar ausfindig zu machen. Vielleicht stand da doch noch sein Auto. Aber nein, das brachte nichts. In welche Richtung hätte er gehen müssen? Der Weg war ihm doch so kompliziert und lang vorgekommen. Er ging weiter, den Berg hoch und endlich hatte er es geschafft. Er stand vor dem Aigle noir. Das Hotel war so dunkel, wie sein Name. Um diese Zeit war es natürlich noch verschlossen. Er war mittlerweile völlig durchnässt. Der Regen, der ihn auf seinem Weg begleitet hatte, war nicht heftig, aber stetig gewesen. Er fror und nieste und schnupfte. Um wenigsten etwas Schutz zu finden, setzte er sich in einen Hauseingang.

In seinem Kopf rotierten die Gedanken. Die schmähliche Situation, die grandiose Verarschung, der Verlust all der Dinge, die er brauchte, all das trieben ihn um. Erst das Frühstück und ein doppelter Cognac brachten ihn dazu, wieder klar zu denken und zu handeln. Nach einigen Telefonaten mit seiner Firma, der er erklärte, dass er noch etwas länger bleiben müsse, mit seiner Bank, die ihm telegrafisch Geld schicken und die Kreditkarten sperren sollte und mit seiner Frau, der er die Sachlage richtig, die Ursache aber an der Wahrheit vorbei schilderte – er sprach von einem Überfall und von Raub auf offener Straße. Er bat sie, vorsichtshalber das Haustürschloss austauschen zu lassen, man wisse ja, wie schnell international agierende Banden auftauchen könnten, schließlich hatten die Räuber sowohl seine Adresse als auch seinen Haustürschlüssel. Dann rief er den Kunden an, den er am Nachmittag treffen sollte. Wegen eines Missgeschicks mit dem Wagen, einer dummen Panne, die ihn zwänge eine Werkstatt aufzusuchen, könne er erst am nächsten Tag kommen. Als letztes galt es noch, einen Mietwagen zu ordern, was nicht so ganz einfach war, weil ihm die Kreditkarte fehlte, aber ausnahmsweise würde Hertz auch Bargeld akzeptieren. Bevor er sich auf den Weg in das Polizeirevier machte, musste er abwarten, bis die Bestätigung der Geldüberweisung im Hotel eintraf und Madame ihm etwas Bargeld lieh, damit er sich neue, trockene Kleidungsstücke kaufen konnte.

Der lokale Polizeichef gab sich wenig kooperationsbereit. Nein, so ein Ereignis habe es hier noch nie gegeben, dies sei eine friedliche Stadt, ohne kriminelle Elemente. Nein, dieses junge Mädchen und der Mann, die er beide recht präzise beschrieben hatte, seien hier unbekannt. Durchreisende Gauner vermutlich. Die Bar? Nachtlokale und ähnliche Einrichtungen gäbe es hier nicht, Bordelle seien sowieso verboten. Den Wirt, nein den kenne er auch nicht. Vermutlich seien die Namen sowieso falsch. Ja, wenn er darauf bestehe, würde er versuchen, diese ominöse Bar mit Hilfe des Gastes zu finden, doch der müsse ihm sagen, wo er suchen solle. Ein Protokoll wegen des Diebstahls, ja natürlich und eine Fahndung nach dem Auto, aber sicher. Nur, das gehe alles nicht so schnell. Die Dienststelle hier sei unterbesetzt, einer seiner Beamten in Urlaub, eine junge Beamtin in Mutterschutz, er müsse alles allein machen und es stünden noch viele andere, wichtige Dinge an. Er solle doch später wieder kommen, so gegen Abend, dann könne er das Protokoll mitnehmen. Ja sicher, wenn er dann Zeit habe, könnten sie diese Bar - wie war der Name? Ach ja, Dernier cri, wie passend - zusammensuchen. Sei er sich denn sicher, dass er in dieser Bar betäubt und nicht auf der Straße überfallen worden war. Vielleicht sollte er zu einem Arzt gehen, wegen eines Attests und, nun ja, es könne sicher nichts schaden, wenn er dort seinen Blutalkohol bestimmen ließe, für alle Fälle, um Zweifel an seinen Angaben von vorneherein erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Damit schien für den Polizeichef die Sache erledigt zu sein, doch weil er nach eigenen Angaben ein hilfsbereiter Mensch sei, gab es als Dreingabe noch eine kostenlose Belehrung. Letztlich, so meinte der Beamte, solle er doch froh sein, dass ihm nur ein paar Dinge abhandengekommen seien. Dinge, die ihm die Versicherungen ja ersetzen würden. Er kenne Fälle, nicht hier, aber in anderen Städten, da seien die Opfer anschließend viel schlechter dran gewesen, Verletzungen, Verkrüppelungen bis ans Lebensende und sogar Raubmord. Ihn habe man doch noch nicht einmal bedroht oder geschlagen oder mit einer vorgehaltenen Waffe beklaut. Also nur einfacher Diebstahl. Und die k.o.-Tropfen? Der Polizeichef lachte laut. Wenn er mit dem Mädchen weiter gesoffen hätte, wäre er vermutlich in dieselbe Lage gekommen, mit den Tropfen sei es nur schneller gegangen. Aber im Ernst, so fuhr er fort, er könne nur wiederholen, dass er doch noch ganz gut aus der Sache herausgekommen sei, er habe doch nur materielle Schäden erlitten. Nach seiner Erfahrung, er flüsterte fast, so vertraulich war sein Ton geworden, nach seiner Erfahrung seien die Geschädigten finanziell meist besser dran, wenn ihr Eigentum, zum Beispiel ein Auto, nicht mehr auftauchen würde. Dann gäbe es eine „saubere Abrechnung“ und die Versicherungen würden alles komplett bezahlen. Aber, er solle sich das mal vorstellen, wenn so ein Auto wieder auftauche, demoliert, beschädigt, verhunzt, dann würden die Versicherungen sich drücken und er könne sehen, wie er klarkomme. Er hätte mit Sicherheit mehr Scherereien und Verluste, wenn man den Wagen wieder fände. Der finanzielle Aspekt der Wiedergutmachung, insbesondere des teuren Autos schien für ihn das Wichtigste zu sein und nicht das bisschen Black-out durch k.o.-Tropfen.

Er stand auf, zum Zeichen, dass er in diesem Fall momentan nicht mehr tun könne und die Sache für ihn vorerst erledigt war. Für den Geschädigten war es das jedoch keineswegs. Aber seine Einwände, dass die Einflößung von k.o.- Tropfen schließlich Körperverletzung sei, dass er sich beim langen Gehen mit nackten Füssen die Sohlen total kaputt gemacht habe, ein Märtyrergang gewissermaßen, und dass er sich durch die vielen Stunden in den nassen Klamotten eine veritable Grippe zugezogen habe, alles Dinge, für die ihm doch Schmerzensgeld zuständen, wollte der Chef du police gar nicht mehr hören. Auf ihn warteten wichtigere Arbeiten als solch ein banaler Fall von Belästigung in Verbindung mit einfachem Diebstahl.

Total frustriert verließ er das Revier, von dort würde er keine Hilfe bekommen. Am Nachmittag kam der Mietwagen, gegen Abend holte er das Protokoll ab und erwähnte seinen ursprünglichen Wunsch, die Bar zu suchen, erst gar nicht mehr. Der Polizeichef sprach ihn darauf auch nicht an. Ohne einen weiteren Besuch im Faisan d’or verließ er die ungastliche Stadt, die er nun völlig anders sah als an dem noch jungfräulichen Sonntagnachmittag.

6

Der weiße Mercedes wurde nicht gefunden. Er hatte wohl noch rechtzeitig, das heißt bevor die Fahndung einsetzte, die Grenzen in Richtung Afrika, Vorderer Orient oder Osteuropa überschritten. Der Wagen wurde, wie auch die anderen abhanden gekommenen Wertgegenstände, von der Versicherung anstandslos ersetzt. Von der Polizei aus A. hörte er nichts mehr, er erhielt nicht einmal die Nachricht, dass es nichts zu berichten gab und die Ermittlungen eingestellt worden seien und hatte guten Grund zu bezweifelte, ob sie jemals richtig aufgenommen worden waren. Der verschobene Geschäftstermin hatte keine weiteren Folgen und die Erklärungen gegenüber seinem Chef und seiner Frau erschienen plausibel und wurden akzeptiert. Aber sie waren für ihn sehr peinlich, denn er musste sich um die Wahrheit herum winden und deswegen schämte er sich. Dass er sich rechtfertigen und entschuldigen musste war für ihn schlimmer als der Schaden selbst und wurde nur noch von dem Knacks übertroffen, den sein Selbstbewusstsein erlitten hatte. Es wurmte ihn zutiefst, dass ihm dieser Mist zugestoßen war, ihm dem ehemaligen Einzelkämpfer und Elitesoldat, dem Durchblicker in jeder Lebenslage. Deswegen, vor allem deswegen, bekräftigte er noch mehrmals seinen Schwur auf Rache, den er schon im Straßengraben, kurz nach seinem Aufwachen, geleistet hatte.

In A. tauchte Anfang September ein stiller Gast auf, der sich für ein paar Tage im Aigle Noir einquartierte, verschiedenen Leuten eifrig Fragen stellte, sich viele Notizen machte, einige Objekte offen und verschiedene Leute diskret fotografierte und dann wieder verschwand. Es war ein erfahrener Detektiv, der sein Metier verstand und alle Informationen, die er benötigte, auch erhielt ohne Verdacht zu erregen. Das Dossier, das er seinem Auftraggeber Mitte September vorlegte, war umfangreich und die Stange Geld, die es gekostet hatte, durchaus wert. Die wesentlichen Beteiligten des Coups waren identifiziert, gut beschrieben und fotografiert worden. Einige sehr interessante Details ihrer Gewohnheiten waren aufgelistet. Die richtigen Namen waren nicht Janine, Guy und Marcel, aber lassen wir es dabei. Alle drei wohnten in A. Guy und Marcel waren Freunde, denen die Bar mit angeschlossenem Puff gemeinsam gehörte. Das Etablissement war in der Tat nur den Stammkunden bekannt. Die beiden bestritten ihren Lebensunterhalt mehr auf unehrliche, denn auf ehrliche Art und Weise. Von einigen Informanten wurden ihnen Kontakte zur organisierten Kriminalität unterstellt. Es schien ihnen jedenfalls nicht schlecht zu gehen, angesichts der Insignien des Wohlstands, die sie zur Schau stellten: schnelle Autos, teure Freundinnen, Goldkettchen, single malt Whisky und Markenklamotten. So richtig auffällig, polizeiauffällig, waren sie aber nicht geworden, vielleicht hatten sie bisher nur Glück oder gute Anwälte gehabt. Harmlose Zeitgenossen waren die beiden jedenfalls beileibe nicht. Janine, die selbstverständlich nicht Guy’s Cousine war, schien eher zufällig und nur zeitweise dazuzugehören. Sie war flatterhaft und immer darauf aus, an leicht verdientes Geld zu kommen, aber sie war keine Prostituierte. Ihre Freundschaft mit Guy war schon kurz nach dem Ereignis mit dem Mercedesfahrer beendet. Sie hatte angeblich im Lotto gewonnen, andere sagten, sie habe geerbt, jedenfalls war auf einmal genügend Geld da, um dem Trend der Zeit folgend, ein Nagelstudio aufzumachen, das ganz gut florierte. Sie hatte einen neuen Freund, Ricky, mit dem sie in einer kleinen Wohnung über dem Nagelstudio lebte. Ricky war ein Schluri, der genauso wie Guy und Marcel, dunklen Geschäften nachging. Eine Auflistung dieser Geschäfte hätte genügend Material ergeben, um ihn bei Bedarf in die Enge zu treiben.

Einige fast nebensächliche Details nahm der Auftraggeber des Dossiers ebenfalls mit großem Interesse zur Kenntnis. Demnach spielten Guy und Marcel regelmäßig in ihrem Club Tennis. Sie trafen sich jeden Montag Abend, an dem Tag, an dem die Bar geschlossen war, denn der Sonntag war keineswegs der Ruhetag. Das Spiel dauerte meist bis zehn Uhr, dann gingen sie gemeinsam essen. Ricky war wegen seiner dubiosen Geschäfte oft unterwegs, mit Sicherheit aber ebenfalls am Montag Abend. Dann suchte er seine Exfreundin auf, deren neuer Freund oder Mann um diese Zeit beim Sport war. Ein perfekter Reigen. Und auch über den Polizeichef hatte der Ermittlungsspezialist Informationen eingeholt. Er war ein häuslicher Mensch, der großen Wert darauflegte, um acht Uhr zum Abendessen daheim zu sein. Danach verließ er die Wohnung nur noch im äußersten Notfall. Er wohnte in einem schönen, einsamen, abgelegenen Haus am Rande der Stadt.  

Im Oktober geschahen in A. an ein und demselben Tag, einem Montag Abend, zwei rätselhafte Ereignisse, über die in der örtlichen Presse ausführlich berichtet wurde. Das eine war ein Anschlag auf das Privatauto des Polizeichefs. Er hatte es, wie jeden Abend, vor seinem Haus abgestellt. Kurz vor neun Uhr hörte er eine heftige Explosion und als er an das Fenster eilte, sah er, wie sein Auto in Flammen stand. Es brannte völlig aus. Die Ermittlungen ergaben, dass eine Plastikbombe in einer Einkaufstasche unter den Tank gelegt und mit Hilfe eines Handys gezielt gezündet worden war. Personen waren nicht zu Schaden gekommen.

Personenschäden in einem größeren Ausmaß waren dafür bei dem zweiten Anschlag zu beklagen, der sich etwa eine halbe Stunde später ereignete. Er galt zwei Personen männlichen Geschlechts, auf die mehrere Schüsse abgegeben worden waren. Sie hatten noch zu dieser späten Stunde im Freien unter Flutlicht Tennis gespielt. Der Attentäter musste sich allem Anschein nach aus dem nahen Wäldchen an den Tennisplatz herangeschlichen haben. Er hatte vermutlich ein Gewehr mit Schalldämpfer verwendet, denn niemand, auch die Getroffenen nicht, hatte Schüsse gehört. Die Spurensicherung stellte fest, dass es sich um eine Präzisionswaffe handelte, ein Repetiergewehr, das von Sportschützen verwendet wurde. Insgesamt waren mindestens 8 Schüsse abgegeben worden, soviele Kugeln konnten sichergestellt werden. Sechs davon hatten ihr Ziel getroffen, die Beine, besonders die Knie der beiden Tennisspieler. Bei dem einen waren beide Knie zertrümmert, er würde wohl für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt sein. Der andere hatte etwas mehr Glück, mit einem neuen Kniegelenk könnte er vielleicht wieder gehen. Tennis würden beide jedoch nie mehr spielen können. Perfide sei auch gewesen, dass der Täter ihre Sporttaschen mitgenommen habe, in denen ihre Handys waren. In dem abgelegenen Clubhaus gab es kein Telefon und deswegen habe es sehr lange gedauert, bis jemand auf die Tat aufmerksam geworden war. Ein zufällig vorbeikommender Radfahrer hatte die Hilferufe gehört und die Polizei und den Notarzt alarmiert. Erst eine Stunde nach der Tat wurden sie in das Krankenhaus eingeliefert. Mittlerweile hatten sie viel Blut verloren und ihr Zustand war ernst, aber nicht lebensbedrohlich. Die Polizei traf sogar noch später am Tatort ein, weil sie mit dem mysteriösen Brandanschlag auf das Auto ihres Chefs voll beschäftigt war. In einem der Presseberichte wurde mitgeteilt, dass es sich bei dem Täter um einen sehr guten Schützen gehandelt haben müsse, denn es sei äußerst schwierig, unter den gegebenen Bedingungen, derart präzise Schüsse abzugeben.

Der Attentäter, man nahm zunächst an, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte, wurde nicht ausfindig gemacht. Es gab keine Zeugen, keinerlei Hinweise, keine verwertbaren Spuren. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und wieder spurlos verschwunden. Um vom Tatort eins zum Tatort zwei zu gelangen, brauchte man etwa eine Viertelstunde mit dem Auto. Dieser Zeitraum sprach für die Ein-Täter-Theorie, aber um die fragliche Zeit hatte niemand ein verdächtiges Auto beobachtet. Genauso mysteriös schien zunächst das Tatmotiv zu sein. Warum gerade diese beiden jungen Männer, die sich anscheinend nichts zu Schulde kommen lassen hatten. Jedenfalls nichts, was eine solche Tat gerechtfertigt hätte? Doch dann durchleuchtete man im Zuge der Ermittlungen ihr Privat- und Berufsleben und stieß auf interessante Verbindungen und eindeutige Beweise, dass sie in engem Kontakt mit einer arabisch-maghrebinischen Gangsterband standen. Es ging bei ihren Geschäften um Drogen, Prostitution, Mädchenhandel, illegale Wetten und andere Betrügereien. Auf einmal hatte man eine Erklärung für den Reichtum der beiden. Sie wurden noch im Krankenhaus verhaftet, unter Anklage gestellt und wanderten, als sie von einem Amtsarzt für transport- und haftfähig erklärt worden waren, direkt in das Untersuchungsgefängnis. Die Ermittlungsspezialisten für organisierte Kriminalität hatten auch herausgefunden, dass es innerhalb dieser Gang zu Reibereien gekommen war, zu Verteilungskämpfen und dass schon mehrere „Unfälle“ in ihrem Dunstkreis stattgefunden hatten. Direkt beweisen konnte man zwar nichts, alle Beteiligten, einschließlich Guy und Marcel, schwiegen eisern, aber die Indizien waren plausibel und so ging man dem Attentat nicht weiter nach. Janine’s Name tauchte übrigens in keinem der Berichte auf.

Auch der Anschlag auf den Polizeichef fand einen plausiblen Grund und man rückte von der Vermutung wieder ab, dass ein und derselbe Täter beide Anschläge verübt habe. Die zeitliche Nähe schien doch eher ein Zufall gewesen zu sein. In letzter Zeit waren mehrere Anschläge auf Polizeistationen, Polizeifahrzeuge und andere staatliche Einrichtungen in der weiteren Umgebung durch islamistische Extremisten verübt worden. Die Täter waren immer nach demselben Schema vorgegangen, immer hatten sie eine Bombe gut platziert und durch ein Handy ausgelöst. In all diesen Fällen hatten sie sorgfältig darauf geachtet worden, dass keine Personen zu Schaden kamen. Man hatte zwar noch keine Täter für den Vorfall in A. und auch keine Geständnisse oder andere unwiderlegbaren Beweise, aber die Logik sprach dafür, dass dieses Attentat ebenfalls politisch motiviert war. Die Polizei gab in einer Erklärung zu verstehen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis man den Zusammenhang eindeutig belegen und die Täter dingfest machen könne. Der Fall galt damit als abgeschlossen. Nur eine Person im Ort fand die Erklärungen nicht sehr plausibel und bekam es mächtig mit der Angst zu tun.

7

Ebenfalls an einem Montag, jedoch im Dezember, hält ein sichtlich ramponierter Golf vor dem Aigle noir. Ein Mann mit einer Reisetasche betritt die Rezeption und sagt, er habe ein Zimmer reserviert. Die Madame am Empfang hätte ihn vielleicht wieder erkannt, sie war durchaus geübt im Erkennen von Menschen und im Abschätzen ihrer Eigenschaften, vor allem ihrer Bonität, doch sie hätte ihn sich schon sehr genau ansehen müssen, um darauf zu kommen, dass es derselbe Mann ist, der hier im Juni übernachtet und dem man damals so übel mitgespielt hatte. Vor ihr steht ein anderer Mann, zwar immer noch sehr kompakt und mit rosiger Gesichtsfarbe, aber jetzt mit dichten, schwarzen Haaren, einem Schnauzbart, dunklen, buschigen Augenbrauen und einer Hornbrille, die seinem Blick einen stechenden, bohrenden Ausdruck verleiht, jedenfalls ist darin nichts joviales und leutseliges. Der Name und die Adresse, die er auf das Anmeldeformular schreibt, sind nicht im Hotelcomputer verzeichnet. Für Madame ist die Kleidung ein wichtiger Wiedererkennungsfaktor, aber die hätte sie in diesem Fall vollends in die Irre geführt. Statt eines gediegenen, geschmackvoll gekleideten Seniors, dem man ansieht, dass er sich schlichte, aber teure Kleidung leisten kann, steht jetzt ein ziemlich heruntergekommenes Subjekt vor ihr, angetan mit einem alten Anorak, abgeschabten Cordhosen und dicken, klobigen Stiefeln. Er ist nicht schlicht, sondern einfach nur schlecht angezogen. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass das Hotel ausgebaucht sei. „Je suis désolé, monsieur, mais nous somme complet, totalement complet.“ Aber er hatte ja vorgebucht. Sie wird etwas versöhnlicher, als der Gast im Voraus bezahlt und ihr erklärt, er müsse am nächsten Morgen sehr früh weg, ohne Frühstück. Das sei für ihn kein Problem und für sie war es auch keins.

Er geht wieder in den Faisan d’or. Auch hier ein leicht zweifelnder Blick des Kellners, nicht weil er ihn wieder erkannt hätte, sondern weil er Zweifel hegte, dass dieser Gast überhaupt in der Lage sein würde, seine Rechnung zu bezahlen. Doch der Mann zerstreute diese Zweifel, weil er nur eine Suppe, einen Salat und ein Glas Wasser bestellt. Der schäbige Gast freut sich. Das war der zweite erfolgreiche Test. Als er das Lokal verlässt, schaut er auf die Parkbank auf der anderen Straßenseite. Sie ist leer, es wartet niemand. Er geht im Park spazieren. Er weiß, wo er hinwill, aber es ist noch zu früh. Dann geht er zum Hotel. Die Rezeption ist leer, Madame ist schon gegangen. Er zerwühlt das Bett, schafft im Bad etwas dezente Unordnung, indem er nasse Handtücher auf den Boden wirf. Dann nimmt er seine Reisetasche, deponiert den Schlüssel, wie mit Madame besprochen an der Rezeption und geht zu seinem Golf.

Er fährt am Nagelstudio vorbei. Es brennt noch Licht. Er stellt den Wagen ein paar Straßen weiter ab und geht, mit seiner Reisetasche, zurück zum Nagelstudio. In dem gegenüberliegenden Eingang eines Geschäfts findet er einen Platz, von dem aus er das Studio gut beobachten kann, ohne selbst gesehen zu werden. Er holt ein kleines Fernglas aus der Jackentasche. Durch die große Fensterscheibe, das Wort „Boulanger“ steht immer noch in verblassten Lettern über dem Laden, sieht er, was sich im Inneren abspielt. Janine hat noch eine Kundin. Er weiß aus seinem Dossier, dass sie bis spät in die Abendstunden geöffnet hat, weil viele ihrer Kundinnen berufstätig sind und abends kommen. Er sieht zu, wie die beiden Frauen miteinander reden, lachen, wie Janine sich über die Finger beugt, herumfeilt, etwas auftupft, mit einem Föhn trocknet. Die Kundin sieht sich ihr Werk an. Sie scheint zufrieden zu sein, nickt, steht auf, holt ihr Portemonnaie aus der Handtasche, bezahlt. Ein wechselseitiges Küsschen auf die Wangen und dann verlässt sie den Laden.

Er wartet, bis sie hinter der nächsten Straßenecke verschwunden ist, dann löst er sich aus seinem Versteck, überquert die Straße und betritt das Nagelstudio. Die Türglocke bimmelte und Janine schaute erstaunt hoch. Männliche Kunden kamen nie, allenfalls holte ein Mann seine Frau oder Freundin ab oder half beim Aussuchen der Muster für die Nägel. Der Mann, der vor ihr steht, passt absolut nicht in ihre Welt, es ist kein Mann für ein Nagelstudio. Sie fragt, was sie für ihn tun könne. Er antwortet zunächst nicht, sondern betrachtet interessiert den Raum und ihre Werkzeuge, die Tuben und Tiegel, die Lacke und Farben, die Sprays und Schablonen.

„Bitte einmal Maniküre“ sagt er endlich und setzt sich. Seine Tasche stellt er auf den Boden. Dann legt er langsam seine linke Hand auf die dunkle Ablage. Die Hand ist sehr gepflegt. Sie passt eigentlich gar nicht in das Erscheinungsbild dieses Mannes, der von seinem Aussehen her, ein Penner sein könnte. Aber mit der Hand stimmt etwas nicht und erst in diesem Moment, beim Anblick des kleinen Fingers mit dem gekappten Ende, geht Janine ein Licht auf und sie erkennt den späten Kunden. Kalte Angst greift nach ihr, sie schreit auf. Ihr Blick, gerade noch zwischen geschäftsmäßigem Interesse und verhaltener Neugier wechselnd, wird schlagartig düster, ja panisch. „Was, was wollen Sie hier? Machen Sie, dass Sie rauskommen. Ich habe schon geschlossen.“ „Aber Janine, wir sind doch per Du. Hast du das schon vergessen? Wenn du geschlossen hast, machst du eben wieder auf.“ Er wartet ein Weilchen, weidet sich an ihrem angstvollen Blick, ihrer abwehrenden Haltung. Sie ist immer noch verdammt schön, denkt er, selbst jetzt, da alles Sanfte und Verführerische aus ihrem Gesicht verschwunden ist. Eine schöne Frau, sogar in dieser weißen, völlig unattraktiven Kittelschürze und mit dem Mundschutz aus Papier um den Hals. Ihre langen, schwarzen Haare sind mit diversen Nadeln hochgesteckt. Die Pupillen in ihren schönen Augen sind wieder groß und weit, doch diesmal aus lauter Angst.

„Ich bin gekommen, um mir das zu holen, was du mir noch schuldest.“ „Was schulde ich Ihnen? Wer sind Sie? Gehen Sie oder ich ruf die Polizei.“ „Wie willst du die Polizei rufen, ohne Telefon?“ Er steht auf, nimmt das Handy, das auf einem kleinen Abstelltisch liegt, wirft es auf den Boden und tritt voller Wucht mit seinen unförmigen, klobigen Stiefeln darauf. Sie schreit wütend auf. „Was machen Sie da? Das werden Sie bereuen. Ich bin nicht allein. Kommen Sie mir nicht näher. Gleich kommt mein Freund und dann geht es Ihnen an den Kragen. Gehen Sie jetzt, schnell, dann passiert nichts.“ Der Mann lacht. „Du drohst mir? Weißt du wo dein Ricky ist und was er gerade macht? Er ist in G. und fickt seine Ex. Da ist er jeden Montag Abend und er kommt nicht vor Mitternacht zurück. Du weißt vielleicht nicht alles, aber dass er in den nächsten Stunden nicht da sein wird, das weißt du ganz genau.“ Sie fängt an zu schluchzen und verlegt sich aufs Betteln. „Ja, ich erkenne dich wieder. Es tut mir leid, was damals passiert ist. Ich konnte nichts dafür, glaub mir, Guy hat mich gezwungen. Er hatte mich in der Hand, hat mich erpresst und ausgebeutet und mich zu solchem Scheiß gezwungen. Ich wollte es nicht, glaub mir. Ich fand dich nett. Sonst hätte ich mich doch gar nicht auf dich eingelassen. Bestimmt.“ Er grinst sie an. Man merkt, dass er ihr kein Wort glaubt.

„Mach jetzt erst mal das Licht aus und schließ die Tür“, befiehlt er und sie gehorcht. Sie sitzen im Dunkeln, nur das kalte, weiße Licht der Straßenlampe erhellt schwach den Raum. Die Angst der jungen Frau ist auch im Dunkeln spürbar. Sie fragt sich, ob das wirklich derselbe Mann von damals ist, der vor ihr sitzt. Derselbe, nette, harmlose, blauäugige Mann, der nach ein paar Drinks, bei etwas schummerigem Rotlicht, nach ein wenig harmlosem Gefummel und wegen der vagen Aussicht, auf einen Fick, alle Vorsicht außer Acht gelassen hatte. Dann erinnert sie sich an seine Geschichte aus Jugoslawien. Ja, er ist derselbe, und jetzt sitzt der Soldat vor ihr. Der Soldat, der Menschen getötet hat und selbst verstümmelt wurde, der Scharfschütze und Bombenexperte. Der brutale Typ, dem sie einen Finger abgeschnitten hatten.

Es ist in der Tat der Soldat, der zurückgekommen ist. Der seine Rache hier und jetzt vollenden will. Der dieser attraktiven, jungen Frau, auf die er reingefallen war, der er vertraut hatte und die ihn schmählich verraten hatte, eine Lehre erteilen will. Ihr, wegen der er in diese Scheiße geraten ist und diese Demütigungen erdulden musste, diesen Gesichtsverlust vor sich selbst. Er will ihr eine Lehre erteilen, die sie nie mehr vergessen würde. „Ich will doch nur das haben, was du mir geben wolltest, bevor das kleine Missgeschick passierte. Du erinnerst dich doch? Ich will sehen, wie du aussiehst, wenn du nackt auf dem Bett liegst. Ich will deinen Körper spüren. Ich hatte erst angefangen, ihn kennen zu lernen und dann war alles so schnell zu Ende.“ „Was willst du?“ Neben der Angst keimt Hoffnung in ihr auf. „Wenn er nicht mehr will“, denkt sie, „geht diese Scheiße vielleicht noch glimpflich ab.“ „Du willst mich haben? Gut, komm mit, wir gehen hoch. Wenn du mir versprichst, mich dann in Ruhe zu lassen, kannst du mit mir schlafen. Ich werde niemanden etwas sagen. Ehrenwort.“

Überrascht über ihr schnelles Einlenken, nickt er, nimmt seine Tasche und sie gehen die schmale Treppe hoch, in ihre kleine Wohnung. Sie geht direkt in das Schlafzimmer. Er folgt ihr dichtauf. Sie macht die Nachttischlampe an. Das Zimmer ist popelig eingerichtet, altbacken. In der Mitte ein großes Bett mit eisernem Gestell. Er pfeift leise, wie anerkennend durch die Zähne, als er es sieht. Nichts in diesem Schlafzimmer deutet darauf hin, dass hier jede Nacht eine aufregende Frau schläft. Diese aufregende Frau ist wieder etwas sicherer, entspannter geworden. „Vielleicht ist das doch kein Alptraum?“ denkt sie. „Vielleicht will er mich bloß ficken und dann hat er erreicht, was er wollte und das Ganze geht gut aus, besser als für Guy und Marcel.“ „Wie geht es denn Guy und Marcel?“ fragt der Mann im selben Moment, als ob er Gedanken lesen könnte. „Oh, ich denke ganz gut, den Umständen entsprechend. Sie sind immer noch in U-Haft. Ich habe keinen Kontakt mit ihnen und weiß das nur von anderen. Guy ist schlechter dran, er kann gar nicht mehr gehen, braucht immer den Rollstuhl. Marcel ist wieder fast der alte. Die Bar ist geschlossen worden, zwangsweise. Sag mal, warst du das mit den beiden? Hast du da deine Finger im Spiel gehabt?“  Statt einer Antwort, nur ein leises Kichern.

Sie hat sich auf die Bettkante gesetzt. Er ist stehen geblieben. Eine Weile schweigen beide und starren sich nur an. Dann sagt sie „Also was ist jetzt? Willst du oder willst du nicht? Zieh dich aus.“ Sie drängelt, sie will es hinter sich bringen, sie will die Angst wieder vergessen können. „Zieh du dich aus. Na los, mach schon.“ Sie zögert. Ausgezogen hat sie sich schon oft vor anderen Männern, aber das war immer freiwillig. Hier weiß sie nicht, was auf sie zu kommt. Die Angst schleicht sich wieder ein. Sie fängt an zu schwitzen. „Hör auf zu schwitzen und zieh dich aus!“ Sein Ton ist scharf. Er wird ungeduldig. Sie schaut ihn ungläubig an. „Wie kann ich aufhören zu schwitzen, du Arsch.“ „Nenn mich nicht du Arsch und jetzt mach schon.“

Sie knöpft die hässliche Kittelschürze auf und legt sie ab. Darunter hat sie eine rote Bluse an und die bekannten Jeans. Sie knöpft als nächstes die Bluse auf, streift sie über die Schultern. Ein rosafarbener BH hebt sich von ihrer braunen Haut ab. Sie hält inne. „Mach weiter. Ich habe nicht endlos Zeit.“ Sie öffnet den Gürtel der Jeans, dann den Reißverschluss. Stellt sich hin. Streift die Hose über die Hüfte. Setzt sich wieder. Bückt sich, legt die Schuhe ab. Dann zieht sie das eine Bein durch die enge Röhre, dann das andere. Dann sind die Socken an der Reihe. Wie wirft die Hose auf den Boden, auch die Bluse und die Kittelschürze, die sie zunächst neben sich auf das Bett gelegt hatte. Dann wieder Zögern. Er schaut sie nur scharf an. Das genügt, damit sie weiter macht. Erst fällt der BH. Ihr Busen ist kleiner als er gedacht hatte und auch nicht besonders schön geformt, er hängt durch, zu deutlich für eine so junge Frau. Dann schlüpft sie aus dem Slip. Ihre Schamhaare sind rasiert, bis auf einen kleinen Flaum. Sie setzt sich wieder, erst auf die Bettkante, dann auf das Bett. Sie zieht die Beine hoch, beugt sich vor und umklammert sie mit ihren Armen. Sie will sich klein machen, sich schützen. Sie zittert.

„Die Haare“ raunzt er sie an. Sie weiß nicht, was er will. „Zieh die Nadeln aus den Haaren.“ Die Haare fallen auf ihre Schultern. Sie ist blass, ungeduldig. „Was ist jetzt mit dir? Komm, zieh dich auch aus!“ Sie drängt wieder, will das Spiel beenden, das kein Spiel ist. Statt einer Antwort holt er einen kleinen Photoapparat aus seiner Jackentasche. „Was soll das? Warum Fotos? Davon war keine Rede. Ich will nicht, dass du mich knipst.“ Er lacht wieder, dieses verhaltene, unheimlich Lachen. „Vielleicht willst du später mal sehen, wie du ausgesehen hast.“ „Was soll das Heißen, wie ich ausgesehen habe“ schreit sie. Die Angst hat sie wieder erfasst. Die kalte Angst. Erneut tritt Schweiß auf ihre Stirn. Er drückt ab. Es blitzt. Er macht einige Bilder. Wechselt seine Position. Dann gibt er ihr Anweisungen. „Leg dich auf den Rücken.“ Klick. „Die Beine breit.“ Klick. „Umdrehen.“ Klick. „Hintern in die Höhe“. Klick. Er schaut sich die Bilder auf dem Monitor an. Macht noch ein paar, dann ist er zufrieden und steckt die Kamera wieder ein.

Doch fertig ist er noch lange nicht. Jetzt zieht er ein Messer aus der Hosentasche. Ein schmales, langes, gefährliches Butterfly-Messer mit doppelseitig scharf geschliffener Klinge. Ein Messer, das eigentlich niemand braucht. Sie schreit wieder auf, als die kalte Klinge im Schein der Nachttischlampe aufblitzt. Langsam, fast in Zeitlupe, fängt er an, nicht vorhandenen Dreck unter seinen Fingernägeln hervorzupulen. Dabei beobachtet er sie scharf. Weidet sich an ihrer Angst. “Du wolltest mir ja keine Manikür geben. Deswegen muss ich es selbst machen.“ Er grinst zynisch.

Nachdem er fertig ist, legt er das geöffnete Messer auf den Nachttisch und auf einmal hat er ein Feuerzeug in der Hand, ein billiges, rotes Wegwerffeuerzeug. Er macht es ein paar mal an und wieder aus. Ihre Angst springt schlagartig an, steigert sich nochmals. „Nur kein Feuer, lieber Gott,“ betet sie, „nur kein Feuer.“ Sie schreit „Was soll, das jetzt? Spinnst du total?“ Sie ist an das äußerste andere Ende des Betts gerutscht. Schützt immer noch ihre nackten Brüste mit den gekreuzten Armen. „Komm her! Komm näher!“ blafft er sie an. Sie reagiert nicht. Er wird wütend. „Komm sofort her, du Schlampe oder ich werde richtig böse.“ Sie rutscht langsam in seine Richtung. Kaum ist sie in der Reichweite seiner Arme, greift er blitzschnell in ihre Haare. Zieht und zerrt. Sie fällt um, schreit. Brutal zieht er, zieht sie näher an sich heran. Dann schnappt er sich das Messer vom Nachttisch, schneidet ein Büschel Haare ab und lässt sie wieder los. Sie heult auf und rutscht zurück in die sichere Bettecke. Er grinst. Nimmt die Haare, schaut sie genau an, riecht daran. Dann entzündet er das Feuerzeug, hält die Flamme an das Büschel. Es kockelt und stinkt. Das brennende, glimmende Büschel legt er auf die Marmorplatte des Nachttischs.

„Du bist doch nicht ganz dicht“ keift sie, „mach doch, was du machen willst und hau endlich ab.“ „Ich mache doch, was ich will“ entgegnet er und holt einen neuen Gegenstand aus seiner Jackentasche. Ein paar dünne Latexhandschuhe. Er bläst sie auf und beginnt langsam sie überzustreifen. Sie starrt ihn an. „Wozu das?“ Sie ist verunsichert, ihre Stimme ist brüchig. Wie lange soll das noch weitergehen? „Spuren vermeiden. Du hast doch bestimmt schon mal im Film gesehen, wie man Fingerabdrücke vermeidet.“ Er ist fertig. Sie auch. Sie wimmert. Dann hebt er die Reisetasche vom Boden hoch und stellt sie auf das Bett. Kramt herum und holt ein Lederetui hervor, öffnet es. Ein metallfarbenes Gerät liegt darin. Er holt es heraus. Drückt auf einen Knopf. Es fängt an zu surren. Er legt es auf das Bett und das Etui auf den Nachttisch, neben das Häufchen grauer Asche. Es stinkt immer noch.

Die Frau beobachtet ihn und denkt „Was hat dieser Psychopath jetzt vor?“ Ihre Angst ist zum Greifen. „Hab keine Angst,“ beruhigt er sie, „ich tu dir nicht weh. Wenn du machst, was ich dir sage, tut es nicht weh.“ Sie hat aber Angst. Zittert immer stärker, schwitzt immer mehr. Ein nasser Fleck breitet sich unter ihr auf dem Laken aus, er wird immer größer. Sie schluchzt und schämt sich. Er ignoriert das Malheur, schaut sie ungerührt an, auf kalte, eigentümlich eindringliche Weise, die nichts Gutes ahnen lässt. „Tut mir leid,“ sagt er dann zu ihrer Überraschung und kramt wieder in der Reisetasche. „Was tut ihm leid? Wofür entschuldigt er sich?“ denkt sie und versucht herauszufinden, was das für ein Gerät ist, das auf dem Bett liegt. „Tut mir leid,“ sagt er, „aber ich weiß genau, dass du nicht machen wirst, was ich dir sage.“ Blitzschnell, wie beim Feuerzeug, so schnell, dass sie es kaum wahrnimmt, hat er eine kleine Sprühdose in der Hand und gibt zwei, drei Strahlen auf ihr Gesicht ab. Sie ist erschrocken und benommen und von jetzt auf nachher wie betäubt. Nein, sie ist betäubt, irgend wie weggetreten, aber trotzdem bei Bewusstsein, nur unfähig sich zu wehren, zu schreien, sich aufrecht zu halten. Sie sinkt auf das Bett.

Er beugt sich zu ihr und bettet sie sehr sorgfältig. Die Arme nach hinten, die Beine gespreizt. Geht zurück zu seiner Reisetasche und entnimmt ihr vier Handschellen aus Plastik. Schnallt sie um ihre Handgelenke und die Fesseln ihrer Füße. Die freien Enden befestigt er an den eisernen Pfosten des Betts. Sein Opfer liegt jetzt ausgestreckt da, benommen, apathisch, wehrlos. Er sieht sich suchend um. Geht an die Kommode, die neben der Tür steht. Öffnet eine Schublade, dann eine andere, kramt herum. Mit einem dünnen Seidenschal tritt er wieder an das Bett. Legt ihn sorgfältig zusammen und stopft ihn ihr in den Mund.

Dann greift er nach seiner metallenen Maschine. Schaut sie sorgfältig an, prüft, ob alles in Ordnung ist. Die Idee kam ihm durch eines der Bücher von Stieg Larsson. Nur dass er nicht so brutal sein wird, wie Lisbeth Salander es war, die Heldin von Larsson. Er tätowiert langsam und sorgfältig einige Worte quer über die Brust des Mädchens. Er fängt an ihrem linken Brustbein an, arbeitet sich über beide Brüste hinweg und endet ein paar Zentimeter rechts vom Bauchnabel. Nach ein paar Minuten richtet er sich auf. Schaut sein Werk an. Hält die Nachttischlampe so, dass er es besser erkennen kann. Er ist zufrieden mit dem, was er gemacht hat. In roter Schrift steht da „je suis uneputain de traître». „Jetzt hast du es schriftlich, du verdammte Verräterin“, sagt er halblaut vor sich hin und packt das Instrument wieder in das Etui.

Die Wirkung des Sprays hat nachgelassen. Janine ist inzwischen wieder bei vollem Bewusstsein. Sie zerrt an den Fesseln. Stöhnt, versucht den Knebel aus dem Mund zu schieben und schaut sich mit großen, fragenden, ängstlichen Augen im Raum um. Sie weiß nicht was passiert ist, weiß aber dass etwas passiert ist. Sie hat etwas gespürt, aber es hat nicht weh getan. Sie blickt auf ihre Brust. Sieht rote Streifen. Ein Tattoo? Eine Schrift? Doch sie kann sie nicht entziffern. Sie stöhnt wieder. Er nimmt ihr den Knebel aus dem Mund. „Was hast du da gemacht, du Mistkerl?“ japst sie und ringt nach Luft.

„Ich habe nur festgehalten, was du bist, damit das jeder weiß, der dich sieht, der dich nackt sieht. Und jetzt pass mal auf. Ich will nichts mehr von dir. Ich bin mit dir fertig und du wirst nie mehr etwas von mir hören. Es sei denn, du gehst zur Polizei. Dann komme ich wieder und ich finde dich, das verspreche ich dir und dann geht es dir schlecht, richtig schlecht. Und noch was. Wenn dein Freund kommt, zeig ihm deinen Körper, sag ihm was geschehen ist, erzähl ihm von mir. Aber wehe, er kommt auf die Idee zur Polizei zu gehen. Ich weiß so einiges über ihn. Er wird seines Lebens nicht mehr froh, sag ihm das auch. Und du, bleib vernünftig und leg nie wieder jemand so rein, wie du mich reingelegt hast.“ Sie antwortet nicht. Sie weiß immer noch nicht genau, was er mit ihr gemacht hat, aber sie lebt und ihr tut nichts weh. „Gott sei Dank, jetzt ist es endlich vorbei,“ denkt sie.

Doch zu ihrer Überraschung fängt der Mann auf einmal an, sich auszuziehen. Erst die Jacke, dann den Pulli, das Hemd, die Stiefel, die Hose. „Also doch, also doch noch eine Vergewaltigung.“ Sie schließt die Augen. Wartet, dass er sich auf sie wälzt, auf die Wehrlose, die Gefesselte. Dass er stöhnt, an ihr herumgrapscht, in sie eindringt, sie mit seinem widerlichen Sperma befleckt. Doch nichts dergleichen geschieht. Vorsichtig öffnet sie die Augen und sieht, wie er sich wieder anzieht. Doch es sind andere Kleider. Es sind die Sachen, die sie von ihrem ersten Zusammentreffen noch in Erinnerung hat. Ein elegantes Hemd, eine graue, gut geschnittene Hose, braune Halbschuhe. Dann sieht sie, dass seine Haare wieder weiß geworden sind. Die schwarze Perücke liegt auf dem Bett, daneben die Augenbrauen, der falsche Bart und die Hornbrille. Der elegante, ältere Herr stopft seine Pennerkleider und die Kostümierung in die Reisetasche. Er setzt sich seine randlose Brille auf und sieht sich sorgfältig um, ob er noch etwas liegen gelassen hat. Dann richtet er seinen Blick auf sie, lächelt sie an, ganz der freundliche, galante Lover und sagt „Es hätte schön sein können mit uns beiden. Ich hätte dir garantiert ein großzügiges Geschenk gemacht. Eines, über das du dich mehr gefreut hättest als über das, was ich dir heute Abend schenken musste. Aber du wolltest es ja so.“ Er zieht eine hellbraune Lederjacke an und zappt den Reißverschluss der Reisetasche zu.

„Ich geh jetzt. Dein Ricky wird bald kommen und dich befreien. Leb wohl und denk an meine Worte. Keine Polizei, keine Dummheiten“. Er löscht das Licht der Nachttischlampe, im Raum ist es stockdunkel.  „Lass bitte das Licht an“ wimmert sie. Er macht es wieder an. Bleibt in der Tür noch einmal stehen. Betrachtet sie eine ganze Weile, als ob er sich von ihrem Anblick, von diesem nackten, geschundenen und dennoch verführerischen Körper einfach nicht lösen kann. Er greift wieder in seine Jackentasche und holt den Photoapparat noch einmal hervor. „Ich hätte ja fast vergessen, mein Kunstwerk zu dokumentieren.“ Sein Blick wandert über ihren Körper. „Du bist immer noch eine verdammt schöne Frau. Pardon chérie et au revoir“. Dann ist er draußen

8

Er geht zu seinem Auto. Schon von weitem sieht er, dass ein Streifenwagen danebensteht. Er zögert, will umdrehen. Doch einer der Polizisten hat ihn entdeckt.
„Sind Sie der Besitzer?“ ruft er. Soll er leugnen, weiter gehen, tun, als ob ihn das nichts angehe? Nein, zu spät. „Ja, warum? Was ist los?“ „Es tut mir leid, monsieur, aber dies ist eine unsichere Gegend. Viele kleine Kriminelle, viele Ausländer. Einer von denen, ein Vierzehnjähriger, hat ihren Reifen zerstochen. Wir sind zufällig auf Streife vorbeigefahren und haben es gesehen. Wir konnten ihn sogar schnappen. Er sitzt im Wagen.“

„Ja, das ist ärgerlich. Aber ich wechsle den Reifen, dann ist für mich die Sache erledigt. Dummer Jungenstreich, was soll’s.“ „Nein, monsieur, Sie müsse Anzeige erstatten, wegen der Versicherung und weil wir ihm einen Denkzettel verpassen wollen. Er ist noch minderjährig und wir müssten ihn laufen lassen, aber wenn Sie Anzeige erstatten, müssen seine Eltern eine Strafe bezahlen und das wird sie ärgern und sie achten vielleicht in Zukunft mehr auf ihr Früchtchen. Wir helfen Ihnen beim Reifenwechsel, aber dann kommen Sie bitte mit, auf das Revier. Es dauert nicht lange, aber es muss sein.“

Widerwillig fügt er sich. Er holt das Reserverat aus dem Kofferraum. Der Reifenwechsel geht schnell und problemlos vonstatten. Er legt den kaputten Reifen in den Kofferraum und stellt seine Reisetasche daneben. „Jetzt lieber keinen Aufstand“, denkt er. „Sollen die doch ihre Anzeige haben.“

Er kennt das Revier. Er war schon einmal hier gewesen. Und er erkennt den Mann, der hinter dem Schreibtisch sitzt und sich die Erklärungen seiner Untergebenen anhört. Resigniert lässt er sich auf einen Stuhl fallen. Knocked out.

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Knocked out

schreibt Huldreich

Lieber Yupag Chinasky! Ihre Geschichte hat mir gefallen, samt dem Hinweis auf Stig Larrson's Lisbeth Salander, Danke sehr gut erzählt und spannend bis zum Schluß. Ich freu mich auf die nächste und grüsse Sie herzlich, Ulrich Hermann aus München

Gedichte auf den Leib geschrieben