La Quebecoise

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La Quebecoise

La Quebecoise

Sweet Gwen

1) 14.05.1976, Nördliche Region Quebec, Kanada

Die Holzhütte lag einsam im Wald, ungefähr drei Kilometer ab von der Straße 175, die von Quebec aus nach Norden bis nach Chicoutimi führt. Die Abfahrt, 84,6 Kilometer ab dem Ortsausgangsschild von Stoneham, war leicht zu übersehen gewesen und hätte die Fahrerin des Chevrolets nicht mit dem Kilometerzähler genau auf den Moment gewartet, an dem der Weg links der Straße in den Wald führen mußte, sie wäre vorbei gefahren.

Jetzt stand der hellbraune Kombi vor der Hütte, schräg auf dem weichen Waldboden, an einer Stelle, wo offensichtlich seit Monaten kein Auto mehr geparkt hatte. In den Gipfeln der hohen, alten Bäumen raschelte das Laub und manchmal hörte man einen Vogel rufen, sonst herrschte Ruhe. Eine ungewöhnte Stille, die die Fahrerin einen Moment verstört hatte, als sie aus dem Wagen gestiegen war und mit ihren Plateaustiefeln in schrillem Orange zur Tür der Hütte gegangen war. Doch als sie Schritte hinter der Holztür vernahm, war die Umwelt vergessen. Sie ging noch einmal die Worte durch, die sie sich zurecht gelegt hatte. Die Alte mußte es ihr einfach beibringen!
Die Holztür öffnete sich leise knarrend. Die Blondine sah herab auf eine leicht gebückt stehende alte Frau. Angeblich sollte sie ein Mischling sein, teils Indianerin, teils Chinesin, doch auf die Frau aus der Großstadt wirkte sie wie eine Hexe aus ihrem alten Kinderbuch. Das graue lange Haar war zu einem Pferdeschwanz geknotet, der unordentlich nach hinten auf das einfache braune Leinenkleid fiel. Die blassen Augen im faltigen Gesicht gingen von den orangenen Stiefeln über den schwarzen Lackmantel herauf ins stark geschminkte Gesicht der Besucherin und sahen sie fragend an. Es war klar, daß sie selten Besuch in derart schriller Kleidung bekam.

**
„Die erste Nadel gehört in die Falte hinter dem Ohr, knapp unter die Stelle, an der man die Rundung des Schädelknochens fühlt, ungefähr einen Zentimeter über dem Ansatz des Ohrläppchens. Rechts oder Links ist einerlei.“

Die grauhaarige Frau erläuterte das, was sie tat, mit ihrer rauen, fast kratzigen Stimme, die den indianischen Akzent im Französisch noch härter klingen ließ. Nachdem sie die Akupunkturnadel hinter das Ohr der sitzenden Frau gesteckt hatte, ließ sie die dunkelblonden Haare wieder über das Ohr fallen und drehte sich umständlich zum Tisch herum, um eine neue Nadel in ihre faltigen Hände zu nehmen.

„Legen sie das Kinn auf die Brust.“

Die blonde Frau, sie wirkte in ihrem bunten, Fransenkleid jünger als sie tatsächlich war, tat was ihr gesagt wurde und spürte kurz darauf die kalten Finger der Alten im Nacken.

„Die zweite Nadel gehört links neben den zweiten Nackenwirbel, dort wo die wichtigen Nervenbahnen aus dem Kleinhirn führen. Das ist die Schwierigste!“ warnte sie ernst. „Man kann den Wirbel nur mit festem Fingerdruck spüren und darf nicht zu tief stechen...
Ich habe Monate gebraucht um den Punkt mit dem ersten Stich zu finden!“

Sie bohrte mit spitzem Zeigefinger im Genick der Frau herum und steckte schließlich die zweite Nadel mit einer ständigen, leichten Drehung neben ihre Wirbel.

„Die dritte Nadel ist ein Kinderspiel, der Papillion, der sich auf eine offene Blüte setzt oder wie ihr Städter sagen würdet...“ die Alte sprach das Wort `Städter` so abfällig aus, als würde sie über die personifizierte Dekadenz reden.

„..wie ihr Städter sagen würdet, der Knopf zum Anschalten. Das kannst du selbst tun..“

Sie reichte ihrer Besucherin die Nadel – den runden Kopf zwischen Zeigefinger und Daumen, mit der Spitze nach oben entgegen. Die Blondine sah sie zögernd an und nahm ihr ganz langsam, als würde sie nach einem wertvollen Schmuckstück greifen, die Akupunkturnadel vorsichtig aus den Fingern.

„Sie meinen...ich soll sie selbst..?“

„Ja. Ich sagte doch, es ist ein Kinderspiel.“

Die alte Indianerin sah der Frau in dem lächerlichen Kleid zu. Die Mundwinkel in ihrem faltigen Gesicht verzogen sich nur minimal, als sie sich dachte, daß sie sich bald nicht mehr so anstellen würde. Jetzt war es das erste Mal, aber so wie sie die Städterin einschätzte, würde sie bald nicht mehr damit aufhören können...

 

 

2) Juni 2004, Quebec, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz

Der alte Stadtkern liegt auf einer Anhöhe direkt am St.Lorenz-Strom. Darunter, am Fuß des steilen Hanges drücken sich seit Siedlungsbeginn die Hafenanlagen, Lagerhäuser und Handelsniederlassungen. Oben auf dem Plateau wurde die mächtige Citadelle im 19.Jahrhundert von den Engländern erbaut, die die alte französische Festung ablöste. Die Briten befürchteten einen Angriff der US-Amerikaner und bauten den wehrhaften Stern an der höchsten Stelle des Berges. Direkt an die Festung angrenzend liegt die Stadt geschützt hinter dicken Stadtmauern, die auch heute noch Besucher beeindrucken. Außerhalb der Mauer ist eine moderne Stadt gewuchert, aber es scheint, als hätte die Stadtmauer Quebecs Altstadt nicht nur vor Feinden geschützt, sondern auch vor Abrissbirnen und größenwahnsinnigen Architekten. Kaum ein modernes Gebäude stört den Eindruck des Städtchens aus 1810.

Paula Ciparou sieht neugierig aus dem Seitenfenster ihres Taxis auf die Häuserfronten der Altstadt. Der Fahrer muß langsam fahren, weil immer wieder Touristen oder Gäste irgendeines der vielen Restaurants über die holprigen Straßen laufen. Es ist kurz vor zwanzig Uhr, die Massen suchen noch nach einem gefälligen Platz zum Abendessen, das zudem noch einem Tisch frei hat. Vor manchem Lokal haben sich schon Schlangen gebildet. Die besten Restaurants sind so am einfachsten zu erkennen. Eine Kneipe, die in einer halben Stunde noch freie Tische hat, wird sie wohl für den Rest des Abends behalten. Wo es nicht voll ist, wird schlecht gekocht.

Das Taxi erreicht den Platz vor dem Fairmont Hotel oder wie es die Franzosen nennen, dem Chateau Frontenac. Dem größten und besten Hotel der Stadt. Um 1900 im Stil eines Loire-Schlosses errichtet, wurde es schnell zum beherrschendem Wahrzeichen der Stadt. Seine Türme sind die höchsten Punkte der Stadt und wenn sie abends angestrahlt werden, gibt es niemanden, der unbeeindruckt bleibt. Paula ist zum ersten Mal in der Stadt und auch sie sieht das gigantische Bauwerk mit großen Augen an. Der Fahrer fährt langsam durch einen Torbogen und hält vor dem Teppich, der zum Eingang des 5-Sterne Hotels führt.
Ein Mann in Uniform öffnet die Fondtür während Paula bezahlt. Obwohl sie schon viel gereist ist und Luxushotels in aller Welt nicht nur von aussen gesehen hat, hält sie in der Eingangshalle einen Moment inne und sieht sich um.
Viele Hotels, die einmal im Fernsehen gezeigt werden, wirken in der Realität dann fast enttäuschend natürlich. Hier geht es Paula anders. Die Pracht und der Luxus, der aus jedem Blumenkübel auf sie strahlt, ist überzeugend.
Sie sieht sich nach der Rezeption um und geht auf den imposanten Tresen zu, hinter dem mehrere Uniformierte Geschäftigkeit und doch eine elitäre Abgeklärtheit zeigen. Es dauert nur wenige Augenblicke, bis sie jemand anspricht. Sie reichen um einen Blick in einen Spiegel zu werfen, der in einem oberschenkeldicken Goldrahmen neben ihr an der Wand hängt. Paula ist erst Ende zwanzig, wird aber meist älter geschätzt. Wohl auch, weil sie ihre schwarzen langen Haare streng gescheitelt trägt und auch wenig Wert auf die wechselnde Mode legt, sondern seit Jahren in fast gleichen Kostümen in gedeckten Farben zu sehen ist. In ihrem Beruf als Beerdigungsunternehmerin wäre alles andere fehl am Platz. Und was erst nur berufliche Notwendigkeit war, ist ihr nun in Fleisch und Blut übergegangen.

„Madame, was kann ich für sie tun?“
Ein distinguierter Herr mit schmalen Oberlippenbärtchen sieht sie verbindlich, mit unbewegtem Gesicht an. Seine Hände ausgestreckt auf dem poliertem Tresen.

Paula hebt ihre Handtasche auf den Tresen und klappt sie auf.
„Ich möchte ein Zimmer....Zimmer 401.“

Sie zieht eine beige Visitenkarte aus der Tasche und legt sie vor den Hotelangestellten.
Auf der Karte steht in geschwungener Schrift „La Quebecoise – Frontenac, 401“.

Der Mann sieht auf die Karte und nimmt sie prüfend zwischen die Finger. Paula verfolgt interessiert, wie er die Karte etwas mit den Fingerspitzen reibt, als wolle er die Papierqualität prüfen. Als er zufrieden scheint, legt er sie wieder auf den Tresen und tippt auf einer Tastatur herum, die bisher unsichtbar hinter dem Tresen war.
„Das Zimmer kostet 600 Dollar. Wie wollen sie zahlen, Madame?“

Paula schluckt kurz. Irena hatte etwas von 500 Dollar gesagt – aber das war letztes Jahr. Sie entschließt sich nicht zu diskutieren und zieht eine goldene Kreditkarte aus ihrer Brieftasche.
„Visa...“

Der Manager nimmt die Karte entgegen und zieht sie durch einen Leseschacht. Dann ändert sich der gewöhnliche Ablauf beim Einchecken. Er fragt nicht mehr nach ihrem Namen, braucht keine Papiere, will nur noch eine Unterschrift auf einem kleinen Belastungsbeleg.
„Sie finden den Aufzug, wenn sie diesem Gang folgen. Gehen Sie durch die Tür mit dem silbernem Schmetterling und der Aufschrift Turm 4. Der Aufzug ist dann gleich rechts.“

Paula sieht seiner Handbewegung hinterher. Neben dem Tisch des Concierge beginnt ein Gang mit dickem Teppichboden, dessen Ende nicht zu erahnen ist.
„Diesen Gang?“

„Ja, diesen Gang, Madame. Bis zur Tür mit dem Schmetterling, Turm 4, Fahrstuhl ist rechts.“
wiederholt der Mann mit dem französischem Schnauzer.

„Danke.“ Paula steckt ihre Papiere wieder ein und verschließt die Handtasche. Als sie am Concierge vorbei geht, erwartet sie angesprochen, kontrolliert zu werden. Doch der Mann dort nickt nur sehr höflich und kümmert sich nicht weiter um sie. Sie betritt den langen Gang und bemerkt den dicken Teppichboden unter ihren Schuhen, während sie an kunstvollen Wandlüstern vorbei geht. Nach wenigen Minuten kommen die ersten Türen, meist unbeschriftet oder mit den üblichen Schildern beliebiger Hotelflure. Schließlich kommt sie an eine Tür, auf der ein silberner Schmetterling angebracht ist. Sie sieht sich kurz um ob jemand zuschaut, aber weit und breit ist niemand zu sehen, so drückt sie die Klinke und öffnet die Tür. Paula kommt in einen schummrigen kleinen Raum, keinen neuen Gang. Bis auf die Fahrstuhltür ist der Raum völlig leer.
Als die Tür hinter ihr zuklappt, drückt sie den Knopf am Fahrstuhl, dessen Türen sich sofort öffnen und steigt ein. Es gibt nur eine Auswahltaste: 401.

***
„Bitte treten sie ein, Madame.“ Die traditionell gekleidete Zofe weist mit ihrer Hand einladend an sich vorbei.
Paula zieht sich den leichten Morgenmantel über dem nackten Leib zusammen und verlässt barfuss das kleine Umkleidezimmer, in das man sie geführt hatte. Es erinnerte etwas an eine Umkleidekabine in einem öffentlichen Schwimmbad – auf der einen Seite der Eingang, auf der anderen der Ausgang, dazwischen eine Sitzgelegenheit mit Kleiderhaken. Der Unterschied zu den verkachelten Kämmerchen in einem Schwimmbad lag aber unter anderem darin, daß es hier fast wie ein normalesm, kleines Hotelzimmer wirkte. Mit Bad, bequemer Sitzgelegenheit und Kleiderhaken. Ein Bett gab es allerdings nicht.
„Kann ich meine Sachen hier lassen?“ fragt Paula unsicher.

„Natürlich, Madame. Bitte kommen sie.“

Paula tritt heraus in einen großen Raum mit gedämpften Licht – und bleibt gleich danach verblüfft stehen. Sie fühlt sich, wie eine Touristin aus Dummsdorf, die zum ersten Mal im Petersdom ist – erschlagen, eingeschüchtert, nur mühsam mit den Eindrücken fertig werdend.

Der Raum bildet ein langgezogenes Oval mit einer runden Kuppel, deren Decke ein Gemälde ziert, das Paula im Halbdunkel allerdings kaum erkennen kann. Rund um den Raum herum, an den Wänden, ziehen sich Nischen entlang, die mit offenen Vorhängen aus dickem Samt dekoriert sind. Neben jeder dieser Logen eine Tür, genau so eine, aus der sie gerade gekommen war. Demnach gehört anscheinend zu jedem Separee ein Zimmer dahinter. Das erstaunlichste, ja phantastischste sind allerdings die Vorgänge in den Logen.
Paula hat als Kind mal ein Bild von einer alten chinesischen Opiumhöhle gesehen, in der reihenweise Chinesen auf Pritschen und Matratzen lagen und im Rausch an ihren Pfeifen sogen.
Hier sind es keine Pritschen, sondern gepolsterte Liegestätten, die mit glänzendem Stofflaken bedeckt sind. Vermutlich Satin oder Seide. Wenn es im Raum dämmrig wirkt, so ist es in den Nischen duster. Trotzdem kann man überall nackte Körper erkennen. Verzückt stöhnende Männer und Frauen, die auf der Seite liegen und ihre Händen am Schritt haben, gerade an ihren Genitalien, als würden sie masturbieren.

Paula wird von der Zofe sacht am Arm gezogen, zu ihrer Loge, deren Liegefläche soeben von einer anderen Zofe frisch bezogen wird. Sie streicht das glänzende Laken akkurat glatt und zieht sich zurück. Paulas Morgenmantel wird ihr abgenommen und ein weiterer sanfter Druck führt sie auf das weiche Polster. Unsicher legt sie sich hin und guckt die Zofe vor ihr abwartend an. Natürlich weiß sie, was hier so ungefähr geschieht, sonst hätte sie nicht die lange Fahrt von Toronto hierher gemacht, aber die genauen Abläufe hat ihre Freundin ihr nicht erklärt. `Lass dich überraschen` hatte sie nur gesagt.

Die Zofe zieht sich zurück und Paula wird einen Augenblick allein gelassen. Zeit, sich wieder etwas umzusehen. Neugierig guckt sie aus ihrem Separee hinaus, in eine der anderen Nischen, was durch die Rundung des Raumes erleichtert wird. In einem Separee ist etwas los.

Zwei Zofen stützen einen Mann beim Aufstehen. Eine dritte Frau, nicht in Zofenuniform, sondern in einer Art Arztkittel steht bei Ihnen und schimpft leise aber streng mit der einen Bediensteten. Paula versteht nicht alles, aber scheinbar geht es um den geschwächten Mann. Er hängt fast mit seinen Armen auf den Schultern der beiden Zofen und trotz des schwachen Lichts kann Paula erkennen, daß sein kleiner, zusammen gezogener Schwanz vorn an der Eichel nass ist, nicht nur von Sperma, sondern auch von etwas dunklem. Es könnte Blut sein.
Die Ärztin wirft der Zofe offensichtlich vor, nicht auf den Mann aufgepasst zu haben.

Plötzlich ruckt der Kopf der Frau im Kittel herum, daß die blonden Haare fliegen. Sie sieht genau in Paulas Gesicht, als hätte sie sie bei etwas erwischt, daß man nicht tun darf. Paula zieht den Kopf zurück in ihre Loge und guckt weg. Abwartend lauscht sie und wie erwartet, ja auch etwas befürchtet, nähern sich Schritte. Die Ärztin steht kurz darauf vor ihr.

„Bonjour, Madame. Sie sind zum ersten Mal hier, nicht wahr?“

„Ja...“ gibt Paula zögernd zurück.

„Lassen sie sich nicht beängstigen. Es ist ganz ungefährlich. Der Kerl hat es nur übertrieben, sich nicht beherrschen können und das Mädchen hat nicht aufgepasst. Mehr als zehnmal verträgt nicht jeder Körper.“

`Mehr als zehnmal.?` wiederholt Paula ungläubig im Geiste und nickt dann nur, wie ein kleines Mädchen, das verstanden hat und gelobt alles richtig zu machen.

„Legen sie sich auf die Seite.“ Befiehlt die Frau im Kittel, in der Paula inzwischen die sagenhafte Quebecoise zu erkennen glaubt. Eine gepflegte, blonde Frau, Mitte Fünfzig mit klaren blauen Augen.

Kaum liegt Paula, da nimmt die Quebecoise eine Nadel aus einem Armpolster, das an die Nadelkissen von Schneidern erinnert. Sie hockt sich neben die Liegende und legt Paulas Haare zur Seite. Routiniert steckt sie die Nadel hinter das Ohr und nimmt gleich die nächste Nadel aus dem Kissen.
„Nehmen sie den Kopf vor.“

Paula nimmt den Kopf runter und spürt gleich darauf einen Finger der sich spitz in ihre Nackenwirbel bohrt, als würde er eine spezielle Stelle suchen. Den Einstich der Nadel merkt sie kaum.

„Hier bitte.“

Die Quebecoise reicht Paula eine Nadel entgegen.
Paula zögert sie entgegen zu nehmen. Wird sie ihr nicht erklären, was sie damit tun soll?
Als würde die Frau im Kittel ihre gedankliche Frage hören, erklärt sie:
„Möglichst auf der Seite liegen bleiben, die Nadel stechen sie vorsichtig in ihre Klitoris, ihren Kitzler.“

„Und dann?“

„Mehr ist nicht zu tun.“

Mit diesen knappen Worten streckt sie Paula wieder die Akupunkturnadel entgegen. Sie scheint es eilig zu haben und kaum hat Paula die Nadel angenommen, da verschwindet sie auch schon und lässt die Verunsicherte allein. Vermutlich auf dem Weg zu einer anderen Loge.

Paula sieht einige Zeit auf die Nadel, deren Metall etwas glitzert. Ein paar Blicke in den Raum, der sich unverändert gibt. Abgedunkelte Nischen, in denen sich Nackte Menschen Nadeln in ihre Genitalien stechen.

Irgendwann legt sie den Kopf auf die Matratze, öffnet ihre Beine und führt die Nadel langsam nach unten. Mit der einen Hand öffnet sie ihre Schamlippen und sucht die richtige Stelle. Einen Augenblick zögert sie, die Nadel tatsächlich dort hereinzustechen, wo ihre Spitze jetzt angelegt ist – dann schließt sie die Augen und tut sie es.

Die körperliche Explosion kommt dann doch völlig überraschend. Ein total untypischer Orgasmus lässt sie zusammenzucken und aufschreien. Erschrocken reisst die Paula die Hand zurück und zieht die Nadel mit heraus. Ungläubig guckt sie mit großen Augen an sich herunter.

Das gibt es doch gar nicht! Ohne jedes Vorspiel, völlig ohne das normale, langsame Aufbauen der Erregung, die sich dann mit dem erlösendem Orgasmus abbaut!

Paula weiß nicht, ob sie das gut finden soll. Gerade ein schönes Vorspiel, die Lust an der Erregung ist doch das schöne am Sex. Das hier ist.....ist keine Silvesterrakete, die hoch zischt und sich dann prächtig entfaltet – das ist ein Kracher auf Knopfdruck!

Sie sieht in den Raum. Ein Mann stöhnt irgendwo nebenan.

Klar, das kann ich mir vorstellen, daß Männer das geil finden und so lange auf das rote Knöpfchen drücken, bis sie glasige Augen bekommen und mit Feuchtigkeitsmangel eintrocknen.

Sie hebt die Nadel vor ihr Gesicht und überlegt.

Na ja, wenn ich schon mal hier bin.

Paula führt die Nadel wieder an Ihren Kitzler und macht sich bereit. Diesmal will sie sich wenigstens nicht wieder so überraschen lassen.
Und – Zack! – wieder schlägt der Blitz in sie ein.

Paula schluckt und zuckt mit den Beinen einmal nach. Sie sieht an sich herab. Der Orgasmus verging, aber sie hat die Nadel nicht herausgezogen. Damit hat es also nichts zu tun. Jetzt ist der Forschergeist in der Frau erwacht. Entschlossen zieht sie die feine Nadel wieder heraus – um sie gleich darauf wieder einzustechen.
Und wieder – wie auf Knopfdruck – ein Schlag, Zucken – ein weiterer Orgasmus. Paula atmet schneller. Wann hat sie schon jemals drei Orgasmen in so kurzer Zeit gehabt? Noch nie!

Hemmungslos, die Umgebung wegwischend, zieht sie die Nadel heraus und sticht sie gleich darauf wieder ein...

***
„Es reicht.“ Die Zofe wackelt an ihrer Schulter, nimmt ihr die Nadel aus den zitternden Händen. Lichtwirbel, verwischende Farben, Rauschen in den Ohren..
Langsam kommt Paula wieder zu sich. Sie keucht. Hechelt sich Luft in die Lungen. Es dauert Sekunden, bis ihr die Bedeutung der Worte klar wird und nickt langsam.

Die Zofe dreht ihren Kopf zur Seite und zieht die Nadeln am Ohr und Nackenwirbel heraus.
„Alles klar? Ca va bien?“ fragt sie.

Paula nickt wieder und legt ihre Hand vorsichtig auf den Unterleib. Sie spürt ihre Hand, aber sonst nur ein Kribbeln, als wäre ihre Scheide, der ganze Schritt taub wie ein eingeschlafenes Bein, gefühllos, wie ein Gummihandschuh.

Paula drückt die Augen zusammen um sich zu sammeln. Merkt nicht, wie sich die Zofe mit den Nadeln entfernt um ihr etwas Zeit zu geben wieder zu sich zu kommen. Immer wieder fährt Paula massierend mit den Händen über ihre Scham, als wollte sie sie mit dem Druck ihrer Hände wieder zum Leben erwecken. Die Haare kleben ihr am Gesicht. Wie lange hat sie hier gelegen? Wie oft hat sie die Nadel eingestochen?

Ungläubig nimmt sie eine Hand langsam vor das Gesicht. Etwas verwischtes Blut ist an den Fingern.
Mein Gott! Unglaublich! Wer soll mir das glauben?

3) Epilog

Der dunkle Mercedes biegt von der Hauptstraße 175 nach links ab, fährt langsam über einen befestigten Waldweg zwischen alten Bäumen hindurch bis eine verfallene Hütte zu sehen ist.

„Arret ici, Dennis!“


„Oui, Madame.“

Die Frau in schwarz öffnet die Tür des Fonds und steigt aus. Die sauberen schwarzen Lackpumps wirken unpassend auf dem Waldboden.
„Attendez ici, s´il vous plait. Je veus retourner tout de suite.“

Wieder nickt der Chauffeur und sieht seiner Arbeitgeberin vom Fahrersitz hinterher. Sie trägt ein schwarzes Kostüm mit Hut unter dem die blonden Haare hervorschauen, an der langen Hand trägt sie einen Blumenstrauß. Erst als sie aus dem Blickfeld ist, öffnet er seine Tür und zündet sich eine Zigarette an.
Er kann von seinem Standort nicht verfolgen, daß die Frau zu einem Grabhügel neben der Waldhütte geht und den Blumenstrauß dort nieder legt. Der Chauffeur muß es nicht sehen. Vor einigen Jahren war er mal mit ihr am Grab, es ist jedes Jahr dasselbe.

Seit nunmehr siebzehn Jahren - immer am 16.August. Die Quebecoise hatte das genaue Sterbedatum der alten Indianerin nie erfahren. Irgendwann vor siebzehn Jahren hatte man sie am 16.August tot aufgefunden, die Quebecoise hatte es erst viel später erfahren, aber zukünftig diesen Tag als den Todestag der alten Indianerin gefeiert.

Nach einigen Minuten geht sie zurück zur wartenden Limousine. Während der Fahrer umständlich wendet, wartet sie draußen und sieht beim Zurücksetzen auf das blaue Quebecer Nummernschild. Wie alle Nummernschilder steht ein Satz darunter, der zeigen soll, daß sich die Frankokanadier ihrer französischen Vergangenheit bewusst sind.

„Je me souviens“
In diesem Moment haben die Worte „Ich erinnere mich“ eine ganz persönliche Bedeutung für die Blondine, deren Geschäfte mehr als gut gehen. Sie erinnert sich an die Frau, der sie alles zu verdanken hat.

„On y va. Dennis!“

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