Seine Augen waren riesengroß und blau. Vielleicht war es nur die Leuchtreklame des Kettenkarussells gegenüber, die sich in ihnen spiegelte. Aber die Verzweiflung in den Augen war echt und eiskalt und glitzerte. Um sie rum war alles laut, bunt. Stylo-Jungs, Bitch-Mädchen in Neonfarben, Familien auf Ausgang, Kinder, die gebrannte Mandeln fraßen. Es roch nach Imbissbuden-Köstlichkeiten, nach altem Fett und Zucker, nach muffigem Lamafell und Ponykacke. Das Kirmesmädchen drehte den Paradiesapfel auf dem Holzspieß in seinen Händen. Der Apfel war knallrot und glänzend und duftete köstlich.
„Willst du?“ fragte es den Jungen mit den verzweifelten Augen und hielt ihm den Lackapfel unter die Nase.
„Ich habe ihr mein Herz geschenkt“, sagte der Junge da und sah das Kirmesmädchen an, das erschrocken zurückwich, weil der Blick aus den Verzweiflungsaugen sich anfühlte wie Todes-Laserstrahlen.
„Ist doch schön“, murmelte es und starrte auf seine Tasche mit dem Leopardenfell, die vom Schotterboden ganz staubig war.
„Sie ist damit weggerannt!“ Seine Stimme klang empört. „Hat’s einfach gestohlen."
Das Kirmesdings musterte den Jungen und dachte sich, dass der letzte Satz schrecklich nach deutschem Schlager klänge, piefig und pathetisch und so gar nicht schön. Dabei sah er so verboten hübsch aus, mit seinem Dreitagebart und der Röhrenjeans. Seine Wimpern waren lang und pechschwarz, seine Lippen schmal und weiß, weil er immer wieder darauf rumbiss.
„Wenn du ihr das Herz doch geschenkt hast?"
„Aber sie kann doch damit nicht einfach machen, was sie will!“
„Kann sie wohl. Gehört ihr ja jetzt.“
Der Augenjunge drehte sich zum Kirmesmädchen um, das aus Angst vor den Laserstrahlen of Death zitterte und zuckte wie eine Kaninchennase, griff nach den kalten Zitterhänden, packte den klebrigen Apfel und biss rein. Dann legte er sich auf die Parkbank, auf der sie beide saßen, und seinen Kopf in den Schoß des Mädchens, das vor Entzücken nicht wusste, wie ihm geschah.
Zum ersten Mal an diesem Abend traute sich das Kirmesdings, dem Jungen in die Augen zu sehen. Keine Laserstrahlen, keine Verzweiflung. Alles leer. Es sah, wie der Junge früher an diesem Abend hinter dem Tresen des Süßigkeitenstandes Erdbeeren mit Schokoladenhüten und Zuckerwatte verkaufte. Wie er den Atem anhielt, als er die Sirene mit dem pinken Haar entdeckte. Das Kirmesmädchen spürte die Aufregung, als die Sirene ihn zum ersten Mal ansah, ihm zulächelte mit ihrem Kirschmund, hörte, wie sie ihn lockte. Schon war es um ihn geschehen. Wie er sich verlegen durchs Haar fuhr, die Gänsehaut auf seinem Hals, die Röte seiner Wangen… all das konnte sie in dem matten Schwarz seiner Augen erkennen.
„Sie sah dir ein bisschen ähnlich“, sagte der Junge.
„Ach was. Das bildest du dir ein.“
Das Kirmesliebchen sah, wie die Sirene auf etwas im hinteren Teil des Wagens zeigte, konnte ganz genau hören, wie sie flüsterte „Das will ich haben.“ Ohne Zögern reichte der Junge ihr etwas. Ein Lebkuchenherz. „Philipp“ stand darauf. „Gib es mir…“ Die Sirene mit dem pinken Haar lispelte ganz leicht und liebreizend. Dann streckte sie die Kinderhand mit dem abgeblätterten Nagellack in Meerjungfrauenbleu nach der Beute aus.
„Ich hab nur das eine“, murmelte der Junge da, „mach’s nicht kaputt.“
Die Sirene, die eine sehr kleine Sirene war, weil ihre Mama in der Schwangerschaft Heroin geraucht hatte, stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn.
„Ui!“, sagte das Kirmesmädchen laut, als es das sah und schaute noch ein bisschen genauer hin. Es beobachtete, wie der Junge, dem mal das Lebkuchenherz gehörte, und die Sirene sich küssten und wollte am liebsten mitmachen, weil es doch so gerne küsste und der Himmel über dem Süßigkeitenstand voller Geigen hing. Als es sah, wie die Sirene mit einem gekonnten Move das Herz ergriff und lachend in der Menschenmenge verschwand, quiekte es leise vor Entsetzen.
„Wie konnte sie nur so gemein zu dir sein?“, fragte es den Jungen, dessen Augen jetzt wieder schwarz und leer waren, und strich ihm eine Strähne in die Stirn, weil das so hübsch aussah.
„Ich werde sie nie vergessen.“
„Nein. Ganz bestimmt nicht.“
„Du bist sehr nett. Werde ich dich denn wieder sehen?“
„Nun… nein. Das wäre wohl nicht klug.“
Als das Kirmesmädchen das sagte, fühlte es, wie ihm ein Tropfen Wehmut den Rücken hinunterrann. Also schüttelte es sich, sagte „Adieu!“, hob die Leopardentasche, aus der eine pinke Strähne hervorlugte, vom Boden auf und lief davon. Als es mindestens 520 Meter von dem Jungen entfernt war, blieb es stehen, , fasste es mit seiner Kinderhand mit dem abgeblätterten Nagellack in Meerjungfrauenbleu in die Tasche, holte das Lebkuchenherz, auf dem „Philipp“ stand, heraus und biss rein.
Leider schmeckte es scheiße. Also brach das Kirmesmädchen das Herz entzwei und warf es in den Mülleimer der Fischbude.
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