Dann zuckten beide zusammen.
Im Hintergrund liess sich Bundesrat Alain Berset vernehmen, wie immer mit ernst-verhaltener Stimme. „Ein Mundschutz muss jetzt auch in der Wohnung, innerhalb der Familie, getragen werden. Die Verordnung gilt per sofort.“ Mariangela und Marco waren es sich gewohnt, dass solche Erlasse immer erst ab der Folgewoche in Kraft traten. Aber per sofort? Die Lage musste ernst sein. Sehr ernst. Kurz darauf standen sich die beiden gegenüber, noch immer nackt, aber mit Mundschutz. Mariangela war die Erste, die losprustete.
„Ehm… ja… ich weiss… er ist nicht riesig… aber auszulachen brauchst Du mich deswegen nicht“, sagte der errötende Marco. „Oh nein, darum geht es nicht, entschuldige…“ Mariangela gluckste. „Es ist nur… ich habe mir gerade vorgestellt, was jetzt gerade abgeht. Schweizweit. Möglicherweise sogar weltweit. Millionen von Menschen stehen, sitzen oder liegen sich jetzt mit Mundschutz gegenüber. So was von bizarr…“ Das konnte Marco nachvollziehen und stimmte ins Gelächter mit ein.
Dann starrte er gebannt auf den Balkon gegenüber. Einer der Bewohner machte sich daran, das Geländer zu überklettern. Er hielt sich am Eisengerüst fest und wirkte, nackt und nur mit Socken bekleidet, wie ein Stunt aus einer französischen Komödie. Etwa, wenn sich ein Liebhaber auf den Hotelbalkon flüchtet, weil der Ehemann früher als angekündigt von der Geschäftsreise zurück ist und ahnungslos das Schlafzimmer betritt, seine Frau mit glänzenden Augen vorfindend. Und in der Annahme, ihre Augen würden wegen seines unerwarteten Erscheinens glänzen. Dem Liebhaber bleibt in einem solchen Fall nichts anderes übrig, als sich übers Balkongeländer zu schwingen, weil die meisten schauspielernden französischen Ehemänner irgendwann auf den Schlafzimmerbalkon hinaustreten, um sich eine Zigarette zu genehmigen.
Marco sah sich in Mariangelas Wohnung um. Das war nun der Ort, an dem er eine unbestimmte Zeit verbringen würde. Wie lange es wohl dauerte, bis er Mariangela auf die Nerven ging? Die beiden sahen sich bloss gelegentlich, in erfreulichen Momenten, etwa zum Pizza Essen in einer Trattoria. Aber jetzt? Marcos persönliche Maslow-Pyramide geriet ins Wanken. Fundamentale Werte wie Selbstbestimmung und Sicherheit bröckelten weg, als hätte es sie nie gegeben. Werte, an die sich die gesamte westeuropäische Gemeinschaft über Jahrhunderte gewöhnt hatte. Insbesondere seit dem Ende des zweiten Weltkriegs waren Selbstbestimmung und Sicherheit nie mehr in Frage gestellt worden. Trotzdem – hatte sich die Gesellschaft wirklich so entwickelt, wie sie es hätte tun sollen? War sie offen, liberal, egalitär, ausgeglichen, pazifistisch und auf die Umwelt Rücksicht nehmend? Nahm sie die Hilfsbedürftigen und Gebrechlichen liebevoll in ihre Mitte und bot ihnen den benötigten Schutz? Trug sie gebührend Sorge zu diesem reichlich seltsamen, aber doch liebenswerten Planeten mit seinen Schmetterlingen, Orchideen, Quallen und Schlingpflanzen?
Nein, das war sie eben nicht – durchseucht vom giftigen Gedankengut misogyner Psychopathen wie etwa Sigmund Freud, bedroht von Strahlemännern wie seinerzeit John F. Kennedy, einem Womanizer erster Güte, der aber der US-Armee gleichzeitig den Auftrag gegeben hatte, über Vietnam hochgiftiges Dioxin abzuwerfen. So sinnierend, merkte Marco zuerst gar nicht, wie Mariangela hinter ihn trat und mit ihren nackten Brüsten wie zufällig seinen Rücken streifte. Sofort durchzuckte ihn ein Stromschlag, und das Verlangen nach ihrem warmen, weichen Körper wurde wieder wach. Mariangela tat so, als wäre es das Natürlichste der Welt, eine nackte Gastgeberin zu sein. Vom sehr gut erzogenen Marco brauchte sie sich nicht zu fürchten, er bedrohte sie ja in keiner Art und Weise, und sie blickte belustigt auf seine Körpermitte, die er schamhaft von ihr abwendete. Eigentlich waren sie ja nur Kollegen, und erneut ging Marco das Bild durch den Kopf, dass das filigrane Spinnennetz einer langjährigen kollegialen Beziehung durch ein einziges falsches Wort, durch eine einzige unbedachte Handlung wie mit einer Schere durchtrennt werden könnte.
Dann klingelte Mariangelas Handy. Freudig erregt grüsste sie ihren kleinen Sohn, der sich aus dem Lager meldete, in dem er nun die nächsten Wochen verbringen würde. „Alles gut, Mama“, sagte er, „mir gefällt es hier, und wir haben genügend zu Essen. Es hat einen grossen Keller mit Apfelmus und Raviolibüchsen.“ Mariangela seufzte. Ihr geliebter Sohn, eigentlich, wie sie, locked down, eingesperrt. Aber er war unter seinen Kollegen und wurde von sympathischen Lagerleiterinnen betreut. Eine Welle der Eifersucht brandete in Mariangela hoch, was auch mit ihrem italienischen Gemüt zu tun hatte. Niemand durfte ihr den Sohn wegnehmen. Niemand!
Sie legte das Handy auf den Klubtisch und wandte sich lächelnd Marco zu, der es tunlichst vermied, sie anzustarren. „Und was nun?“, fragte sie. „Das Telefon“, sagte er. „Ich muss doch… mit meiner Familie…“
„Gar nichts musst Du, mein Lieber“, wiederholte sich Mariangela, trat auf ihn zu und strich ihm über die Schulter. „Setz Dich hin, schliess die Augen und warte, bis ich Dich rufe.“ Geräuschlos verschwand Mariangela im Badezimmer, schloss die Tür und liess Badewasser in die Wanne. Sie summte leise vor sich hin und schüttete eine wohlduftende Essenz, Sandelholz, dazu. Als es ihr schien, dass das Wasser gut temperiert war, stand sie vor den Spiegel und richtete ihr Haar. Sollte sie das, was ihr vorschwebte, wirklich tun? Sollte sie ihren langjährigen Kollegen zu einem gemeinsamen Bad verführen? Wie er wohl reagieren würde? Konnte es das geben? Ein kollegiales gemeinsames Bad, während draussen die Welt unterging? Bei diesem Gedanken verspürte Mariangela ein angenehmes Kribbeln im Bauch, öffnete die Tür und kletterte in die Wanne.
„Marco…“, rief sie, und harrte der Dinge, die da kommen sollten. „Was zum…“, hörte sie ihn und wusste, dass er dem Sandelholzduft nicht widerstehen konnte. Kein Mann konnte das. Jetzt war sie Aphrodite, Skylla und Charybdis gleichzeitig und fühlte all das in sich, was weibliche Kraft ausmacht. Vom schmalen Lichtschimmer im Bad wurde Marco magisch angezogen und trat in den Türrahmen. „Ach…“. Er konnte sich ein Strahlen nicht verkneifen, als er sie sah, Mariangela, in Schaum verpackt, und zwei neckische Schaumkrönchen reichten ihr bis zum Hals. Ein wahrhaft züchtiges Bild. Nun war es um Marco geschehen. Er wollte Teil dieses Bildes werden. Warum nicht? Er hatte nochmals einen Blick auf die Nachbarn auf dem gegenüberliegenden Balkon geworfen, war sich bewusst geworden, was das Covid-20 Virus mit ihnen anstellte und wusste, dass ihm nur noch eines blieb: Das Leben zu geniessen, so lange noch eines vorhanden war. So stieg er wortlos zu Mariangela in die Wanne, schob seine Beine an ihr vorbei und machte es sich so gemütlich, wie es in der engen Wanne eben ging.
Aus der Ferne war das Gebrabbel aus dem Radio zu hören, das in diesem Moment aber unerheblich war. Steigende Infektionszahlen und Anzahl Tote pro Kanton. Welch ein Aufreger! Die Wärme von Mariangelas Oberschenkeln übertrug sich auf Marco und schoss ihm direkt ins Gehirn, das in diesem Moment nahezu blutleer war. Neckisch spielte Mariangela mit dem Badeschaum, blies ihn von sich weg und gönnte Marco grosszügig einen Blick auf ihre vollen Brüste. Er griff nach der Flüssigseife am Badewannenrand, füllte sich damit die Hände und rieb Mariangelas Schultern und Oberarme ein. „Heeey…“, sagte diese leise. Was sie nicht wusste: Marco, dessen Erfahrung mit Frauen nicht unbeträchtlich war, hatte eines Tages entdeckt, dass die Oberarme eine Frau im Grunde das waren, dem das Streben und Sehnen der Welt gelten sollte. Feste, runde Oberarme, jeden Sommer millionenfach dargeboten an den Stränden des Planeten, auf Shoppingmeilen und Parkbänken. Fast alle Frauen gingen von der irrigen Annahme aus, dass es die Brüste und der Hintern waren, mit denen sie Männer verrückt machen konnten. Aber nein. Es sind die runden, appetitlichen Oberarme, die die Welt und mit ihr das männliche Zentralorgan augenblicklich zum Stehen bringen können.
Marco häufte einen kleinen Badeschaumberg vor sich auf – er wollte Mariangela während dieses kollegialen Badeabenteuers keineswegs kompromittieren und ihr nichts von sich zeigen, das sie eventuell beunruhigen könnte. Er genoss es, wie sie sich hingab und die Augen schloss. „Hast Du genügend Platz?“, flüsterte sie und richtete sich ein bisschen auf. Mariangelas Scham. Glitzernde, tiefschwarze, von Badeschaum durchsetzte Härchen liessen Marcos Blut in Wallung geraten. Bald würde es mit seiner Beherrschung vorbei sein, und die philosophischen Gespräche, die er in seinen Träumen schon oft in einer Badewanne mit ihr geführt hatte, konnten warten. Lange. Warten.
Marco griff sich den Duschkopf, drehte an der Batterie und temperierte das Wasser. Dann richtete er den warmen, weichen Strahl direkt zwischen Mariangelas Beine. „Ahhh…“, stöhnte sie. Marco verstärkte den Wasserstrahl ein wenig. Es dauerte nicht lange, bis Mariangela sich in den Hüften zu winden begann. Marco ahnte, dass er alles richtig machte. Er liess den Strahl über Mariangelas Oberschenkel gleiten, ihren Bauch, richtete ihn gezielt auf ihren Nabel… und dann auf ihr hübsches Dreieck, das ihn vor Lust beinahe das Bewusstsein verlieren liess.
Wenig später hatte sich der kleine Schaumberg, unter dem sein Geschlecht verborgen gewesen war, aufgelöst, und sein kleines Seeungeheuer reckte neugierig den Kopf, was Mariangela nicht entging. Mit einem Seufzer senkte sie ihr Becken auf Marcos Zentralorgan und schob es in ihre Mitte. Nun war es Marco, der stöhnte. Trotz der räumlichen Enge schaffte es Mariangela, mit kleinen kreisenden Bewegungen aus ihrem Becken heraus Marco immer näher ans Nirwana heranzuführen, an den Urknall, an den Moment, in dem alles begann, an die Hundertstelsekunde, in der das Universum explodierte, damals, vor ein paar Jahren. Marco genoss die schaukelnden Bewegungen ihrer natürlichen, schweren Brüste und wusste, dass er sich nicht mehr lange würde zurück halten können.
„Eingeschränkte Mobilität“, keuchte Mariangela. Eingeschränkte Mobilität wäre die Pflegediagnose, die ein Wissenschaftler uns stellen würde, könnte er uns zusehen, wie wir hier das Badewasser überschwappen lassen.“ Sie gehörte offenbar zur raren Spezies von Frauen, die sich selbst in Momenten höchster Lust noch humorvoll äussern – daran musste Marco sich erst gewöhnen, aber sofort sprang sein Kopfkino an. Er stellte sich einen Pflegewissenschafler in weisser Schürze mit Nickelbrille vor, der am Badewannenrand sass und ihnen beiden bei ihrem glückbringenden Treiben zuschaute. Wie wohl Mariangela auf Marcos Gedanken reagieren würde? Ob sie es mochte, wenn ihr ein anderer Mann beim Sex zuschaute?
Allmählich fanden beide ihren Rhythmus, und man hörte nur das leise Schwappen des Wassers und das heftige Atmen der beiden Liebenden. Marco schob sich eine von Mariangelas drallen Brustwarzen in den Mund und nuckelte genussvoll, während er sie mit langsamen, kräftigen Stössen nahm.
Mariangelas Orgasmus war gewaltig. Sie klammerte sich an den Badewannenrand, und Wellen der Erregung durchfluteten ihren Körper. Sie brannte lichterloh, und Marco stiess in sie, wieder und wieder, bis sie nahezu das Bewusstsein verlor.
Dann liess er von ihr ab, kletterte aus der Wanne, reichte ihr ein Badetuch und frottierte sich selbst trocken. „Baden ohne Mundschutz ist doch wohl noch erlaubt, oder?“, meinte er trocken und nahm einen flauschigen Bademantel vom Bügel hinter der Tür. Er war blau, mit aufgenähten güldenen Sternen. „Hier – sonst erfrierst Du mir noch“, sagte er fürsorglich und schaute in den Spiegel. Keine eingefallenen Wangen, kein Haarausfall, nichts. Marco war noch immer erfreulich gesund, sollte doch Covid-20 mit den anderen Menschen machen, was es wollte.
Dann zog es ihn, Mariangelas Verlockungen zum Trotz, zu seiner Familie nach Hause. Er umarmte seine Kollegin innig, drückte ihre Hand und zog sich an. Als er sich seufzend ins Freie begab, ahnte er, dass er einen Fehler begangen hatte, aber es war zu spät. Die untere Eingangstür schloss sich, die Klingeln waren ausser Kraft gesetzt. Es gab kein Zurück, Marco konnte Mariangela durch nichts auf sich aufmerksam machen.
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Ein einzelnes Auto mit kroatischer Kennzahl näherte sich langsam. Ahnend, dass alle Verkehrsmittel stillgelegt waren, stellte Marco sich dem Subaru verzweifelt in den Weg. Die blonde Fahrerin mit den eingefallenen Wangen öffnete schweigend die Tür. „Belp“, sagte Marco zu ihr. „Ich muss nach Belp“. Mit glasigem Blick fuhr die Frau Richtung Ausserholligen, wo sie abbog.
Auf der Höhe von Wabern begannen Marcos Atembeschwerden. Gleichzeitig stellte er fest, dass ihm das Haar büschelweise ausfiel. Die Frau richtete den Blick auf die Strasse, nahm den Weg nach Kehrsatz, und kaum verliessen sie den Ort, rang Marco zum ersten Mal intensiv nach Atem. Seine Hände krallten sich am Beifahrersitz fest. Das Rauschen in seinen Ohren wurde lauter. Sein Blick verschwamm. Nur noch schemenhaft nahm er den Belper Bahnhof wahr, wo die Frau die Tür öffnete und ihn aus dem Auto stiess, so, als müsste sie sich seiner entledigen.
Vor dem Restaurant Puccini brach Marco zusammen. Heftige Schneewehen hatten eingesetzt und deckten den am Boden liegenden Mann zu. Seine letzten Gedanken galten dem Mädchen mit den Sterntalern. Unnatürlich grosse Schneeflocken wandelten sich in Goldstücke, die um den erfrierenden und noch immer um Atem ringenden Marco herabrieselten.
Dann spürte er noch einmal die Wärme von Mariangela in ihrer Badewanne und dann nichts mehr.
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