Wir schreiben das Jahr 1500 und befinden uns somit in der Hochrenaissance. Ich bin ein nahezu mittelloser Maler und lebe in Siena. Ich weiss, dass ich diese Stadt nie verlassen werde. Ich liebe sie über alles, und seit wenigen Tagen lebe ich in einem kleinen Dachzimmer gleich gegenüber dem Torre di Mangia. Jeden Tag plagt mich ein leichtes Hungergefühl, aber ich will nicht klagen. Oft wird mir die Kunde von wütenden Pestepidemien zugetragen – ich bin wenigstens kerngesund. Mein ganzes Leben gehört der Malerei, und besonders intensiv beschäftige ich mich mit dem Mischen des Hauttons, dieser Farbe, die sich nur schwerlich einer bekannten Kategorie zuordnen lässt. Nicht beige, nicht weiss, nicht orangefarben, sondern eine Mischung von allem. Leonardo da Vinci, ein Maler, der in Paris lebt und den ich ausserordentlich verehre, kam vor kurzem nach Siena. Ich durfte ihm über die Schulter schauen und weiss jetzt, dass er ein Magier ist. Er soll, wie gesagt wird, an einem berückenden Portrait arbeiten, das eine Frau zeigt. Eine Frau, die nicht lacht und nicht traurig ist. Eine Frau mit einem geheimnisvollen, in die Ferne gerichteten Blick. Mich magnetisiert der Gedanke, dass sich Malerei auch mit Frauen beschäftigt – ich habe hier in Siena nur Kontakt mit langweiligen Mosaikherstellern, Freskenmalern und Bleigiessern, die unsere Kirchenfenster zum Strahlen bringen sollen. Ich aber wünsche mir nichts sehnlicher als eine Frau, die sich von mir malen lässt.
Dann kommt dieser Montag, an dem bereits in den frühen Morgenstunden die Sonne den Palazzo Pubblico zum Leuchten bringt. Ich weiss dass dieser Tag in meinem Leben irgendetwas verändern wird. Der Hunger treibt mich in die einzige Bäckerei an meiner Strasse, und ich hoffe auf ein Panino. Schon der Gedanke lässt mir das Wasser in den Mund zusammenlaufen– vom Duft, der vom Frischgebäck ausgeht, gar nicht zu reden.
Und da steht sie. Mariateresa. Die Tochter des Panettiere. Er hat sie bisher immer verborgen gehalten, aber ich konnte ab und zu einen Blick auf sie erhaschen, wenn sie etwa im Hinterhof mit anderen Frauen zusammen die Wäsche auswrang. Jetzt steht sie einfach da, am Verkaufstresen, und ist eifrig damit beschäftigt, die Kundschaft zufrieden zu stellen. Panini und Biscotti, und diese Biscotti durfte ich noch nie kosten, was mich traurig macht. Aber ich darf wenigstens den Mandelduft atmen, wenn ich langsam an der Panetteria vorbeischlendere. Mariateresas Vater ist ein netter Kerl, und er musste noch nie Hunger leiden. Er hat ja immer reichlich Mehl, Mandeln, Salz und Wasser. Dennoch scheint er sich in mich versetzen zu können und wirft mir ab und zu eines seiner herrlichen, wohlduftenden Panini zu.
Ich glaube, dass Mariateresas Blick den meinen kurz kreuzt – und es ist sofort um mich geschehen. Ich habe mich noch nie einer Frau genähert, und eine käufliche Hübschlerin kann ich mir ebenfalls nicht leisten. Aber dieser eine Sekundenblick setzt sich in meinem Herzen und in meiner Seele fest, und ich weiss: Ich muss Mariateresa, die Bäckerstochter, um jeden Preis malen. Wie ich das allerdings anstellen soll, ist mir vollkommen schleierhaft.
Dann hilft mir, wie so oft in meinem unsteten Künstlerleben, der Zufall. Signor Damato, Mariateresas Vater, kommt aus der Backstube und hilft beim Verkauf. Als er mich sieht, strahlt er, wirft mir, wie schon so oft, ein Panino zu und macht mir ein unmissverständliches Zeichen: Er will mit mir reden. Ich gehe nach draussen und erwarte ihn in der schattigen Hausecke bei der Pergola, denn es gehört sich nicht, dass ein angesehener Bäckermeister sich öffentlich mit einem wie mir abgibt. Schon kommt er und klopft sich das Mehl von seiner langen weissen Schürze. Er sieht aus wie ein Medicus, und die Sonne bringt sein silbernes Haar zum Leuchten. «Amico mio», begrüsst er mich. «Hai visto la mia ragazza?» Ich erröte und beantworte damit bereits seine Frage. Signor Vito kommt rasch auf den Punkt: Er möchte, dass ich seine Tochter male. Sie ist dem Sohn des Bürgermeisters versprochen, sagt er mir, und in wenigen Wochen soll eine rauschende Hochzeit stattfinden. Maurizio! Maurizio ist also der Verlobte von Mariateresa. Das trifft mich wie ein Stich ins Herz, aber ich lasse mir nichts anmerken und höre ihrem Vater aufmerksam zu. Er wünscht, dass ich seine Tochter male, denn er schätzt mich als Künstler. Von einem Moment auf den andern geht es mir wieder sehr gut, umso mehr, als ich meinen Lohn in Erfahrung bringe. «Una bottiglia di vino, Brunello di Montalcino, e trè panini ogni settimana ». Darüber hinaus will er mir die Leinwand schenken, auf der ich seine Ragazza verewigen soll. Ich verzweifle fast vor Glück, wäre ihm beinahe um den Hals gefallen, nicke eifrig und mache mich auf den Weg zur Piazza del Campo. Was ich jetzt brauche ist Luft, Licht und Sonne. Ich schliesse die Augen, lasse mich bescheinen und sehe mich vor meinem geistigen Auge bereits die Farben mischen, den Lichteinfall, «la luce» in ihrem glänzend schwarzen Lockenhaar.
Noch nie hat eine Frau meine Dachkammer betreten, und ich muss leider gestehen, dass sie entsprechend aussieht. Das Fenster ist verklebt, der Boden staubig, und das einzige Prunkstück, der fleckige Divan in der Ecke, den mir mein Vorgänger überlassen hat, macht aus meinem Zimmer ebenfalls keinen Salon. Wie sehr hätte ich der armen Mariateresa ein lichtdurchflutetes Atelier gegönnt, mit mehreren spanischen Wänden, hinter denen sie in immer neuen Kleidern hätte hervortreten können. Ich hatte aber nur diesen einen, tristen Raum. Obwohl mich bereits wieder der Hunger plagte, machte ich mich voller Energie ans Aufräumen. Von der mürrischen «Vecchia» im Erdgeschoss erbat ich mir einen Eimer mit Wasser, reinigte das kleine Fenster, lüftete und schrubbte den Boden. Den Gedanken, dass Mariateresa versprochen war, verdrängte ich geflissentlich und dachte nur noch an die Staffelei, die Farbpaletten und den Lichteinfall.
«Vorbereitung ist alles», das war ein Grundsatz, den ich mir in den Kopf und ins Herz geschrieben hatte – sei es nun, dass ich Kirchenfenster kopierte, Bäume in allen denkbaren Grüntönen erscheinen liess oder Tiere, etwa Katzen, festhielt, die mich natürlich immer verliessen, bevor ich das Bild fertig gemalt hatte. Ich verfüge aber über eine für Künstler lebenswichtige Eigenschaft: Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Ich halte die Dinge fest, stelle mir Konturen vor, Farbverläufe, zitternde Äste… und kann weitermalen, auch wenn das Objekt nicht mehr zur Verfügung steht.
Es ging gegen Abend, und die Sonne versank hinter dem Palazzo Pubblico in magischem Rot. Es war Zeit, mit Signor Vito Kontakt aufzunehmen, denn jetzt ging es um die Details. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich sah, wie er, in Eintracht mit seiner Tochter, die Bäckerei aufräumte, Regale reinigte und die kleine Steintreppe wischte. «Amico!», rief er erfreut, als er mich sah. Er machte mich mit Mariateresa bekannt, und sie aus der Nähe zu sehen, übertraf mein Vorstellungsvermögen bei weitem. «Comminciamo domani!», entschied ihr Vater – ich sollte für das Gemälde genügend Zeit haben, auf dass es am Hochzeitstag zur Verfügung stünde. Mariateresa sagte nicht viel, und ich ahnte, dass sie genauso verlegen war wie ich. Signor Vito drückte mir das Herzstück für das Bevorstehende in die Hand, nämlich eine wertvolle, gerollte Leinwand, aus festem Material, und ich wusste gleich, dass ich mir so etwas in meinem Leben nie würde leisten können.
Wir vereinbarten einen Zeitpunkt für Dienstagmorgen, neun Uhr, wenn Siena in sein mesmerisierendes Morgenlicht getaucht war. In jener Nacht tat ich kein einziges Auge zu, einerseits, weil ich aufgeregt war wie noch nie zuvor, andererseits, weil ich im Cortile ein smaragdgrünes Tuch gestohlen hatte, das ich auf dem fleckigen Diwan drapierte – Mariateresa zu Ehren. Wem es gehörte, wusste ich nicht, sehr wohl ahnte ich aber, was einem «Ladro», wie ich einer war, blühen könnte.
Endlich dämmerte der Morgen. Die Hälfte des Panino, das mir Mariateresas Vater geschenkt hatte, hatte ich mir aufgehoben und kam so zu einem halbwegs anständigen Frühstück. Ich füllte unten im Cortile meine Wasserkaraffe, denn mein Modell sollte keinen Durst erleiden, keineswegs. Die mittlerweile trockene Wäsche hing immer noch dort, aber da war diese leere Stelle, und mein schlechtes Gewissen wegen des smaragdgrünen Tuchs nagte an meiner Seele.
Pünktlich um neun Uhr stand Mariateresa am Eingang, allein, denn ihr Vater hatte den Verkauf für den ganzen Tag allein übernommen. Mariateresas Mutter lebte seit langer Zeit nicht mehr und war einer mysteriösen Krankheit erlegen, bei der die Frauen immer ausgezehrter und bleicher wurden und unversehens in den ewigen Schlaf hinüberglitten. Gott halte sie in Ehren – aber sie lebte in ihrer wundervollen Tochter weiter – einer Frau, der ich nun künstlerische Ewigkeit verleihen würde.
Ich gebe es zu: Ich bin nicht ganz frei von Eitelkeit, und diese kleine Prise Narzissmus ist die Essenz eines jeden Künstlers. Mit andern Worten bedeutet das, dass ich an mich glaubte. Nicht dass ich mich mit einem Leonardo da Vinci verglichen hätte, oh nein, so weit ging meine Vermessenheit nicht, aber ich hielt mich für einen ganz passablen «Pittore».
Ohne viele Worte geleitete ich die Bäckerstochter die vielen Treppen nach oben und stellte einmal mehr fest, dass es immer wärmer und enger wurde, je weiter sich die Treppen nach oben wanden. Die frühmorgendliche Hitze kulminierte dann in meiner Dachkammer. Mariateresa trug ein atemberaubendes schwarzes Kleid, das ihre Knöchel umspielte, und ein kleines rotes Jackett kontrastierte mit dem dunklen Haar. Fast hätte ich sie berührt, so begeistert war ich von ihrem Charisma, das sie sogar ausstrahlte, während sie vor mir das Zimmer betrat – aber ich bin ein hochanständiger Mann und hütete mich, ihr zu nahe zu treten. Mariateresa sollte sich trotz meiner offensichtlichen Armut wohl fühlen. Wir hatten ein hartes Stück Arbeit vor uns. Mein Dachfenster gibt den Blick auf drei grosse, alte Pappeln frei, und das war der erste Kommentar, den sie in meinem Zimmer äusserte. «Che bello…», sagte sie ergriffen, wandte sich zu mir um und strahlte mich an. Ich muss gestehen: Ich war wie gelähmt, aber ich meisterte meine Aufregung und bat sie, auf dem Diwan Platz zu nehmen, während ich die Farben zu mischen begann. Ich drückte ihr ein «Bicchiere d’acqua» in die Hand und genoss den Anblick dieser Frau auf dem smaragdgrünen Tuch, das Falten warf und die Sonnenstrahlen aufnahm.
Dann konzentrierte ich mich ganz auf die Farben, das Schwarz, das Rot, das Mischen des Hauttons, der sich, wie bereits gesagt, nur schwerlich einer bekannten Kategorie zuordnen lässt. Die Zeit verflog, und die Bäckerstochter sass geduldig auf dem Diwan und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Dann war ich allmählich bereit. Ich verfüge über drei Pinsel in verschiedenen Stärken, einen für die Grobskizzen, einen für Einzelfiguren und einen für Details, die das Licht etwa auf Kirchenfenster oder Bäume zauberte. Etwas Anderes hatte ich ja noch nie gemalt. Dann stutzte ich. Bisher hatte ich Mariateresa im Seitenblick wahrnehmen können, ruhig auf dem Diwan sitzend, aber jetzt war sie verschwunden. Ich vernahm nur leise Schritte. Ich wischte mir den Schweiss von der Stirn und wusste, dass ich meine Farbmischungen keine Sekunde sich selbst überlassen durfte. Die kleinste Unaufmerksamkeit hätte dazu geführt, dass zu viel Weiss, zu viel Rot beigemischt würde, was den Hautton augenblicklich ruiniert hätte. Dann vernahm ich hinter mir ein Rascheln, so, als würde sich Stoff bewegen, so, als würden feine Fäden aufgeschnürt, so, als möchte sich jemand erfrischende Kühle verschaffen. Ich wagte nicht, mich umzudrehen.
Das Licht füllte mittlerweile den gesamten Raum, und eine kleine Zirrhe dehnte sich über den drei Pappeln. Das Leben konnte schön sein – «La Vita potrebbe essere bella».
Da hörte ich Mariateresas leise Stimme: «Sono pronta», sagte sie, und es war dieser eine Satz, der wie ein Blitz auf offenem Feld durch meinen armen und hungrigen Körper fuhr. Ich drehte mich langsam um, und da stand sie – so, wie Zeus sie erschaffen hatte. Ihr müsst wissen, dass ich mich nebenbei auch mit Altphilologie befasse, ich kenne alle Götter, und für mich war immer klar, dass es nur Zeus gewesen sein konnte, der Frauen wie Mariateresa erschaffen hatte. Nur er hatte dieses Gespür, diesen Blick für das gewisse Etwas, nur er konnte Pallas Athene, Eirena, Helena und Artemis gezeugt haben.
Noch nie hatte sich mir eine Frau in ihrem Urzustand gezeigt, obwohl ich mit anatomischen Skizzen durchaus vertraut und zudem fantasiebegabt bin. Ich erahne geschwungene Schultern, Brüste, Bauchnäbel, Hüften, Schenkel und weibliche Füsse – aber das, was sich hier meinem Auge darbot, liess beinahe meine Sinne schwinden. Ich rette mich in einen heftigen Hustenanfall, was der nackten Mariateresa ein sibyllinisches Lächeln entlockte. Dann war der Spuk vorbei und sie fand zurück zu ihrer Ernsthaftigkeit. Sie stand hier Modell, um ihren zukünftigen Gemahl zu erfreuen, keineswegs aber mich. Ich liess meinen Blick an ihr entlang gleiten, mehrmals, «lo confesso», und ich hoffte inständig, dass sie meine Betrachtungen nicht als lüstern, sondern als fachlich-künstlerisch-kritisch interessiert wahrnahm. Zu ihren Füssen lag das schwarze Kleid, wie ein dunkler See, und ebenso verstreut lagen da geheimnisvolle Kleidungsstücke, hinter denen sie ihren Busen und ihre Hüften verborgen hatte, verborgen vor hungrigen Männerblicken, die im Siena der Hochrenaissance nicht allzu selten waren.
Dann war ich an der Reihe. Ich hatte einen Auftrag. Ich musste handeln. Die Zeit lief uns davon, und die Farben warteten darauf, verarbeitet und auf die Leinwand aufgetragen zu werden. So aber, mit geschwungenen Schultern und hängenden Armen im Raum stehend, mit kleinen Schweisstropfen auf der Stirn, konnte ich ihr auf der Leinwand kein Leben einhauchen. In meiner Dachkammer stand die wohl schönste Frau der Welt, aber nicht in der Position, in der ich sie mir wünschte. Daher komplimentierte ich sie auf den Diwan, und ich verdankte das smaragdgrüne Tuch, das die unappetitlichen Flecken verdeckte, Zeus, Jupiter und allen Göttern, die da jemals waren.
Sie fand eine natürliche Position, nahm einen weiteren Schluck Wasser zu sich und schaute mich erwartungsvoll an. Jetzt war der Moment, jener magische Moment, der bestimmt auch Leonardo da Vinci widerfährt: Der Augenblick, in dem der Pinsel, «la Spazzola», zum ersten Mal die Berührung mit der Leinwand aufnimmt, diese kitzelt, mit ihr redet… und sie mit einem kommenden Meisterwerk in Licht taucht, färbt und belebt.
Ich kam zügig voran. Meine Schläfen pulsierten, ich konnte mich an der Bäckerstochter niemals sattsehen, aber die Grundskizze der liegenden Mariateresa war ein Meisterwurf ohnegleichen, wenn ich das hier so sagen darf. Die Grundskizze ist die Essenz jedes Aktgemäldes, denn in ihr steckt das Leben, die Bewegung, die Authentizität der Abgebildeten. Was auf meiner Leinwand entstand, war aber weit mehr als ein Akt. Die Lebendigkeit von Mariateresas Augen, ihr malerisch geschwungener Körper, der aufregende Hautton ihres Ausschnitts, ihrer Ellenbogen, ihrer Schenkel übertraf die zeitgenössische Malerei bei weitem. Wieviel Zeit ich für die Abbildung ihres Haars benötigte, hätte ich nicht zu sagen vermocht. Sie öffnete sich mir in ihrer gesamten seelenvollen Schönheit, und wir, das Licht, Mariateresa, ich, «la Spazzola» und das smaragdgrüne Tuch, das die Bäckerstochter umflutete, waren eins.
Wir verbrachten den Tag, ohne einen einzigen Bissen vertilgt zu haben, und wieder stand die rote Sonne über Siena. Ich wusste, dass ich jede Minute genutzt hatte, und ich wusste, dass es wohl das einzige und letzte Mal gewesen sein würde, dass die Bäckerstochter mir in künstlerischer Absicht ihren Körper offenbart hatte – um Maurizio, ihren künftigen Gemahl, zu erfreuen. Ich mochte mir nicht vorstellen, wo mein Werk dereinst hängen würde – es schmerzte zu sehr.
Ich betrachtete versonnen das Abendrot, während die Schöne sich in meinem Rücken wieder ankleidete, und verfluchte Zeus, dass sich an der Rückseite meines Kopfes keine Augen befanden. Aber ihr Bild hatte sich unauslöschlich in meinen Kopf, mein Herz und meine Seele eingebrannt. Ich führte die Bäckerstochter nach unten, geleitete sie über die Strasse, wo sie freudig von ihrem Vater empfangen wurde – und bekam den ersten Teil meines Lohns: Eine Flasche «Brunello di Montalcino» und eines meiner begehrten und geliebten «Panini». Um nicht gierig zu erscheinen, steckte ich es in eine Seitentasche meines Malerschurzes, den ich noch immer trug. Ich war in einer völlig anderen Welt und hätte Signor Damatos Frage, wann er das Kunstwerk denn sehen dürfe, beinahe überhört. «Domani», krächzte ich. Siedendheiss durchfuhr es mich. Bestimmt erwartete der ehrenwerte Vater nicht ein Aktbild seiner Tochter, sondern ein huldvolles Porträt. Mariateresa hatte sich bestimmt der Hitze wegen entkleidet, und es war jetzt an mir, ihre Blösse zu verbergen. Noch während ich die Treppen zu meinem Dachzimmer erklomm, sah ich mich mit einem Mal als Beschützer der Bäckerstochter. Womöglich hatte nicht einmal Maurizio, der Sohn des Bürgermeisters, die nackte Mariateresa zu Gesicht bekommen. Auf mich wartete also viel Arbeit.
Als Künstler verstehe ich es aber, mit dem kleinen Glück umzugehen, welches das Leben ab und zu auch einem wie mir beschert. Ich verrückte die Staffelei so, dass ich mich auf dem Diwan ausstrecken und mein Werk ausgiebig bewundern konnte. Noch immer war meine Dachklause von abendlichem Sonnenlicht durchflutet. Ich öffnete den «Brunello», verspies das «Panino» und legte mich auf den Diwan. Genussvoll setzte ich die Flasche an, und je mehr ich trank, desto lebendiger wurde mein Gemälde. Ich wischte mir den Mund mit einem Zipfel des smaragdgrünen Tuches ab, auf dem Mariateresa vor einer Stunde noch gelegen hatte. Es duftete nach ihr, zweifellos, und sie war nicht nur visuell, sondern auch olfaktorisch bei mir. Mariateresa, die Bäckerstochter. Ich gebe zu, dass es mich sehr gereizt hat, an mir zu spielen, was ich aber tunlichst unterlassen habe. Ich bin ein anständiger Mann, und mein Modell ist vergeben. Sie hatte sich mir zwar offenbart, aber zur Freude und Erbauung eines anderen, nämlich zum privaten Glück von Maurizio, dem Sohn des Bürgermeisters.
Um Mitternacht machte ich mich an die Arbeit. Seufzend übermalte ich Mariateresas Füsse, ihre Schenkel, ihre Hüften, und zwar so lange, bis das Schwarz vom dunklen Haar ihrer Venus nicht mehr zu unterscheiden war. Ich arbeitete mich nach oben, bepinselte ihren geheimnisvollen Nabel, ihre vollen Brüste, bis nur noch ein kleiner, züchtiger Halsausschnitt zu sehen war. Ich liess das zerstörte Gemälde trocknen, nahm eine grosse Schere und durchtrennte die Leinwand. Dann fasste ich sie neu, und zwar so, dass Mariateresa wirkte wie ein Porträt meines grossen Vorbildes, Leonardo da Vinci. Es zeigt eine Frau, die nicht lacht und nicht traurig ist. Eine Frau mit einem geheimnisvollen, in die Ferne gerichteten Blick. Mariateresa, die Bäckerstochter.
Dann schlafe ich den Schlaf des unschuldigen Malers. Die Realität hat mich wieder.
Im Sommer 1501, ein Jahr nach dem Ereignis in der Dachkammer, stirbt Marco Serafino, der Kunstmaler aus Siena, völlig verarmt in seinem Bett, kurz bevor in seiner geliebten Stadt die Pest ausbricht. Um die Seuche auszurotten, wurde das Haus, in dem er wohnte, niedergebrannt.
Das Porträt von Mariateresa, das zweifellos die Welt erobert und Mona Lisa zu bedeutungslosem Staub hätte zerfallen lassen, wurde von ihr selbst an einen unbekannten Ort gebracht, kurz nachdem ihr Gatte Maurizio an der Pest verstarb und sie sein Haus aus ungeklärten Gründen verlassen musste
Aber bis heute weht über Siena die Magie des kreativen Verlangens, die Seele von Marco Serafino, dem Mann, welcher der Bäckerstochter auf einer Leinwand Leben eingehaucht hat.
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