There are more things in Heaven and Earth, Horatio,
than are dreamt of in your philosophy
William Shakespeare - Hamlet
Seit längerer Zeit schon fühlte er sich krank. Es war keine kleine Magenverstimmung, keine harmlose Sommergrippe, nein, ein allgemeines Unwohlsein hatte sich in ihm breit gemacht, häufiges Kopfweh, regelmäßiger Durchfall, Gliederschmerzen, depressive Stimmungen, quälend lange, schlaflose Nächte, all das wechselte sich ab und plagte ihn, mal mehr mal weniger. Hinzu kam, dass ihm seit seiner Scheidung jegliche Libido, jegliche Lust auf Sex verloren gegangen war. Er konnte und wollte sich nicht aufraffen, eine Frau zu treffen, ja überhaupt eine kennenzulernen bereitete ihm Unbehagen, und um eine professionelle Leistung in Anspruch zu nehmen, fehlte ihm der Mut, er fürchtete, im entscheidenden Moment zu versagen und ausgelacht zu werden, obwohl das gerade bei diesen Damen unwahrscheinlich war, denn in vielen Fällen waren sie ja angewandte Psychiaterinnen und mit den männlichen Unzulänglichkeiten durchaus vertraut. Sein Hausarzt untersuchte ihn gründlich, konnte jedoch nichts feststellen. Er sei körperlich gesund, keine Infektion, das Blutbild sei in Ordnung, mehr könne man in seinem Alter nicht erwarten. Es sei sehr angespannt, überreizt, gestresst, die Scheidung stecke ihm in den Knochen. Er werde ihm ein paar Pillen verschreiben, die helfen könnten, ihn zu beruhigen, ansonsten würden ein paar Tage Entspannung in einer schönen Umgebung ihm bestimmt gut tun, das sei das Beste, was er als Arzt empfehlen könne. Warum nicht, überlegte er, als er wieder daheim war und es ihm bei der Vorstellung grauste, dass alles so weitergehen würde. Er war ja jetzt ungebunden, Geld spielte keine Rolle und auch die Zeit war kein Problem mehr, seit Kurzem standen sie ihm voll und ganz zur Verfügung. Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm das wie und wo. Ein Wellnesshotel kam nicht infrage, er hasste diese Einrichtungen, eine Kur- oder Reha-Klinik noch weniger, schließlich war er laut Aussage des Arztes gar nicht krank. Allein der Gedanke, seine Zeit in einem Kurmilieu zu verbringen, war ihm ein Gräuel. Er hasste derartige Einrichtungen und noch mehr die Orte, in denen sie sich befanden. Seine Ex-Frau musste öfters kuren und durch seine Besuche und ihre Erzählungen hatte er vieles sehr hautnah mitbekommen. Aber einfach nur Urlaub machen, ohne Betreuung, ohne Programm, war auch nicht das Richtige, schließlich wollte er seine Plagen loswerden und positiv gestärkt zurückkommen. Er besorgte sich ein paar geeignete Zeitschriften, zappte sich im Internet durch entsprechende Angebote und Kurse, es gab viele, die das Wohlbefinden stärken sollten, las die euphorischen Berichte der Teilnehmer über Kreativkurse, Einführungskurse in vegane Ernährung, Yoga für Anfänger und war schon fast entschlossen einen Crashkurs für autogenes Training zu buchen. Nichts sagte ihm voll zu, irgendwo war immer ein Haken und so wollte er schon seine Aversion gegen Wellnesshotels überwinden, als ihm eine sehr schlichte, etwas ungeschickt gemachte Anzeige in einem Wohlfühlblättchen auffiel. Es war eigentlich nur der Name der Einrichtung, der seine Aufmerksamkeit fesselte: "Maria Trost". Diesen Namen kannte er gut, aber er hatte ihn schon lange nicht mehr, fast seit seiner Jugend, nicht mehr bewusst wahrgenommen. Aber damals war er ihm sehr vertraut. Als er ihn jetzt wieder las, erinnerte er sich sofort, wie er auf dem mühsamen Weg am frühen Morgen aus dem hochgelegenen Dorf, in dem er aufwuchs, hinab in das Tal zum Bahnhof immer an Maria Trost vorbei kam und nachmittags, auf dem Weg zurück nach Hause, natürlich noch einmal. Er musste, außer in den Ferien, an jedem Werktag in das Gymnasium in der Kreisstadt, Schulbusse waren damals weitgehend unbekannt und die einzige regelmäßige Verbindung zur Stadt war die Eisenbahn im Tal. Mit diesen Erinnerungen kamen weitere nostalgische Gefühle auf. Er sah die Dampflocks wieder vor sich, einmal hatte er ein kurzes Stück in der Lok mitfahren dürfen, weil er dem Lokführer Zigaretten besorgt hatte. Dann die Wagen der dritten Klasse mit Holzbänken, die beigen Plüschbezüge in der ersten Klasse, auf die er sich manchmal heimlich setzte, wenn der Schaffner weit weg war. Er erinnerte sich an den roten Schienenbus und die Möglichkeit, sich neben den Zugführer zu stellen, und die wohlbekannte Strecke aus dessen Perspektive zu erleben. Er erinnerte sich an die berühmte alte, überdachte Holzbrücke, die auf seinem Weg lag und die später durch eine neue ergänzt und unter Denkmalschutz gestellt wurde. Dass sogar die Schnellzüge, wie sie damals hießen, in einem Ort mit nur wenigen Einwohnern hielten, hatte den einfachen Grund, dass sich dort ein berühmtes Kloster und eine bekannte Wallfahrtskirche befanden. Das ganze Jahr über kamen Pilger mit der Bahn, denn Busse und Privatautos waren damals noch ziemlich rar. Das Kloster war auch der Grund, dass es Maria Trost gab, eine eigenartige Mischung aus Hotel, Exerzitienhaus und Erholungsheim. Es lag in einiger Entfernung zum Bahnhof und zum Kloster, etwas erhöht im Wald und an dem Forstweg, der zu seinem Dorf hinauf führte. Es wurde seinerzeit von Nonnen bewirtschaftet, die in ihren Habits wie große schwarze Raben mit weißen Köpfen aussahen und ihm manchmal auf seinem Weg begegneten. Die Menschen, die sich dort einquartierten, suchten neben der Ruhe vor allem spirituelle Betreuung, sie nahmen an Exerzitien teil, belegten Kurse zur Stärkung ihres Glaubens und fanden vielleicht sogar den Trost, den der Name versprach. Allerdings hörte man schon damals seltsame Geschichten über das Nonnenheim, junge Mädchen sollen dort gegen ihren Willen gefangen gehalten worden sein, es habe sogar Teufelsaustreibungen gegeben, aber auch positive Nachrichten, von Menschen die von weither gekommen seien, um sich erfolgreich heilen zu lassen und von Frauen, die von Kindern gesegnet wurden, nachdem sie sich hier aufgehalten hatten. Das Gebäude war schon von seinem Aussehen her ziemlich geheimnisvoll, um nicht zu sagen unheimlich, ein dunkel angestrichener, wenig strukturierter Block, umgeben von hohen Fichten. Er war jedenfalls immer froh gewesen, wenn er das seltsame Haus hinter sich gebracht hatte.
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