Maria Trost

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Maria Trost

Maria Trost

Yupag Chinasky

There are more things in Heaven and Earth, Horatio,
than are dreamt of in your philosophy

William Shakespeare - Hamlet

Seit längerer Zeit schon fühlte er sich krank. Es war keine kleine Magenverstimmung, keine harmlose Sommergrippe, nein, ein allgemeines Unwohlsein hatte sich in ihm breit gemacht, häufiges Kopfweh, regelmäßiger Durchfall, Gliederschmerzen, depressive Stimmungen, quälend lange, schlaflose Nächte, all das wechselte sich ab und plagte ihn, mal mehr mal weniger. Hinzu kam, dass ihm seit seiner Scheidung jegliche Libido, jegliche Lust auf Sex verloren gegangen war. Er konnte und wollte sich nicht aufraffen, eine Frau zu treffen, ja überhaupt eine kennenzulernen bereitete ihm Unbehagen, und um eine professionelle Leistung in Anspruch zu nehmen, fehlte ihm der Mut, er fürchtete, im entscheidenden Moment zu versagen und ausgelacht zu werden, obwohl das gerade bei diesen Damen unwahrscheinlich war, denn in vielen Fällen waren sie ja angewandte Psychiaterinnen und mit den männlichen Unzulänglichkeiten durchaus vertraut. Sein Hausarzt untersuchte ihn gründlich, konnte jedoch nichts feststellen. Er sei körperlich gesund, keine Infektion, das Blutbild sei in Ordnung, mehr könne man in seinem Alter nicht erwarten. Es sei sehr angespannt, überreizt, gestresst, die Scheidung stecke ihm in den Knochen. Er werde ihm ein paar Pillen verschreiben, die helfen könnten, ihn zu beruhigen, ansonsten würden ein paar Tage Entspannung in einer schönen Umgebung ihm bestimmt gut tun, das sei das Beste, was er als Arzt empfehlen könne. Warum nicht, überlegte er, als er wieder daheim war und es ihm bei der Vorstellung grauste, dass alles so weitergehen würde. Er war ja jetzt ungebunden, Geld spielte keine Rolle und auch die Zeit war kein Problem mehr, seit Kurzem standen sie ihm voll und ganz zur Verfügung. Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm das wie und wo. Ein Wellnesshotel kam nicht infrage, er hasste diese Einrichtungen, eine Kur- oder Reha-Klinik noch weniger, schließlich war er laut Aussage des Arztes gar nicht krank. Allein der Gedanke, seine Zeit in einem Kurmilieu zu verbringen, war ihm ein Gräuel. Er hasste derartige Einrichtungen und noch mehr die Orte, in denen sie sich befanden. Seine Ex-Frau musste öfters kuren und durch seine Besuche und ihre Erzählungen hatte er vieles sehr hautnah mitbekommen. Aber einfach nur Urlaub machen, ohne Betreuung, ohne Programm, war auch nicht das Richtige, schließlich wollte er seine Plagen loswerden und positiv gestärkt zurückkommen. Er besorgte sich ein paar geeignete Zeitschriften, zappte sich im Internet durch entsprechende Angebote und Kurse, es gab viele, die das Wohlbefinden stärken sollten, las die euphorischen Berichte der Teilnehmer über Kreativkurse, Einführungskurse in vegane Ernährung, Yoga für Anfänger und war schon fast entschlossen einen Crashkurs für autogenes Training zu buchen. Nichts sagte ihm voll zu, irgendwo war immer ein Haken und so wollte er schon seine Aversion gegen Wellnesshotels überwinden, als ihm eine sehr schlichte, etwas ungeschickt gemachte Anzeige in einem Wohlfühlblättchen auffiel. Es war eigentlich nur der Name der Einrichtung, der seine Aufmerksamkeit fesselte: "Maria Trost". Diesen Namen kannte er gut, aber er hatte ihn schon lange nicht mehr, fast seit seiner Jugend, nicht mehr bewusst wahrgenommen. Aber damals war er ihm sehr vertraut. Als er ihn jetzt wieder las, erinnerte er sich sofort, wie er auf dem mühsamen Weg am frühen Morgen aus dem hochgelegenen Dorf, in dem er aufwuchs, hinab in das Tal zum Bahnhof immer an Maria Trost vorbei kam und nachmittags, auf dem Weg zurück nach Hause, natürlich noch einmal. Er musste, außer in den Ferien, an jedem Werktag in das Gymnasium in der Kreisstadt, Schulbusse waren damals weitgehend unbekannt und die einzige regelmäßige Verbindung zur Stadt war die Eisenbahn im Tal. Mit diesen Erinnerungen kamen weitere nostalgische Gefühle auf. Er sah die Dampflocks wieder vor sich, einmal hatte er ein kurzes Stück in der Lok mitfahren dürfen, weil er dem Lokführer Zigaretten besorgt hatte. Dann die Wagen der dritten Klasse mit Holzbänken, die beigen Plüschbezüge in der ersten Klasse, auf die er sich manchmal heimlich setzte, wenn der Schaffner weit weg war. Er erinnerte sich an den roten Schienenbus und die Möglichkeit, sich neben den Zugführer zu stellen, und die wohlbekannte Strecke aus dessen Perspektive zu erleben. Er erinnerte sich an die berühmte alte, überdachte Holzbrücke, die auf seinem Weg lag und die später durch eine neue ergänzt und unter Denkmalschutz gestellt wurde. Dass sogar die Schnellzüge, wie sie damals hießen, in einem Ort mit nur wenigen Einwohnern hielten, hatte den einfachen Grund, dass sich dort ein berühmtes Kloster und eine bekannte Wallfahrtskirche befanden. Das ganze Jahr über kamen Pilger mit der Bahn, denn Busse und Privatautos waren damals noch ziemlich rar. Das Kloster war auch der Grund, dass es Maria Trost gab, eine eigenartige Mischung aus Hotel, Exerzitienhaus und Erholungsheim. Es lag in einiger Entfernung zum Bahnhof und zum Kloster, etwas erhöht im Wald und an dem Forstweg, der zu seinem Dorf hinauf führte. Es wurde seinerzeit von Nonnen bewirtschaftet, die in ihren Habits wie große schwarze Raben mit weißen Köpfen aussahen und ihm manchmal auf seinem Weg begegneten. Die Menschen, die sich dort einquartierten, suchten neben der Ruhe vor allem spirituelle Betreuung, sie nahmen an Exerzitien teil, belegten Kurse zur Stärkung ihres Glaubens und fanden vielleicht sogar den Trost, den der Name versprach. Allerdings hörte man schon damals seltsame Geschichten über das Nonnenheim, junge Mädchen sollen dort gegen ihren Willen gefangen gehalten worden sein, es habe sogar Teufelsaustreibungen gegeben, aber auch positive Nachrichten, von Menschen die von weither gekommen seien, um sich erfolgreich heilen zu lassen und von Frauen, die von Kindern gesegnet wurden, nachdem sie sich hier aufgehalten hatten. Das Gebäude war schon von seinem Aussehen her ziemlich geheimnisvoll, um nicht zu sagen unheimlich, ein dunkel angestrichener, wenig strukturierter Block, umgeben von hohen Fichten. Er war jedenfalls immer froh gewesen, wenn er das seltsame Haus hinter sich gebracht hatte.

Irgendwann, er hatte die Schule schon längst beendet und lebte weit weg von seinem Dorf, hatte er doch noch einmal etwas über Maria Trost gehört. Das Nonnenheim sei geschlossen worden, hatte ihm ein alter Schulfreund erzählt, zu dem er losen Kontakt pflegte. Es sei zu Unregelmäßigkeiten gekommen, ein Verwalter habe Gelder veruntreut. Aber das sei nicht das Problem gewesen, weil ja die reiche Kirche damals dahinter stand, nein, es sei zu einem seltsamen Todesfall gekommen. Es seien, wie er ja selbst noch wisse, nicht nur Exerzitien durchgeführt worden sondern auch Exorzismen, also nicht nur geistliche Übungen sondern auch Aktionen gegen den Teufel und bei solch einer Aktion, also unter sehr mysteriösen Umständen, sei eine junge Frau ums Leben gekommen. Der Staatsanwalt habe ermittelt und die Folge sei gewesen, dass der Betrieb, der ohnehin immer ein Zuschussgeschäft gewesen sei, eingestellt worden war. Das war der Stand seines Wissens, als er die Anzeige sah, aber anscheinend war das Haus wieder in Betrieb genommen worden und wurde als Stätte der Einkehr und der Heilung angepriesen. Es sei ein ganz besonderer Ort mit einer großen Wirkung auf Leib und Seele. Es sei ein power place, durchaus vergleichbar mit heiligen Orten im Fernen Osten. Es sei bewiesen, dass unter der kundigen Leitung des Pächters, eines ausgewiesenen Heilpraktikers, Leute genesen seien, die bereits alle Hoffnung aufgegeben hatten. Schon ein Aufenthalt von einer Woche könne Wunder bewirken, hinzu käme die wunderschöne Landschaft, die absolute Ruhe und eine biologisch ausgewogene Ernährung. Eine Kur in dem Haus sei ideal, um die Gesundheit wiederherzustellen, den Körper erfolgreich zu entschlacken und der Seele eine einzigartige, nachhaltige Tiefenentspannung zu spendieren, so der Werbetext. Eine solche Anzeige hätte ihn normalerweise eher abgestoßen, als angezogen, alles, was dort angeboten wurde, war ihm suspekt. Aber, wie unter einem unerklärlichen Zwang ging ihm die angepriesene Kur nicht mehr aus dem Sinn. Eine Woche in der Nähe seiner alten Heimat und dazu noch eine mysteriöse Erfahrung, mehr würde es wohl nicht seine, oder vielleicht doch? Vielleicht war ein solcher Ort tatsächlich hilfreich für seine dubiosen, unerklärlichen Leiden, denn dass er krank war, davon war er überzeugt, das hatte ihm sein Arzt nicht ausreden können und seien sie auch nur psychisch bedingt, aber sie waren da und vielleicht war Maria Trost tatsächlich ein Ort, wo ihm geholfen wurde. Nach einer schlaflosen Nacht, nach allerlei Abwägungen der für und wider, rief er die angegebene Telefonnummer an. Internet schien dort noch unbekannt zu sein, jedenfalls waren weder eine Homepage noch eine E-Mail-Adresse vermerkt. Er geriet an eine Frau mit einer dünnen Stimme, die ihm erklärte, wann die Termine für die Wochenkuren seien und dass es nur noch wenige freie Plätze gäbe, was die Vollpension kosten würde, man müsse immer Vollpension buchen, und dass er erst bei Abreise bezahlen müsse, man würde den Gästen in dieser Hinsicht trauen. Er sagte, dass er möglichst rasch kommen möchte, er fühle sich gar nicht wohl und setze große Erwartungen in den Aufenthalt. Die Frau erwiderte, dann sei er ja bei ihnen richtig aufgehoben und bat um einen Moment Geduld, sie müsse nachschauen, wann etwas frei sei. Ja, sage sie dann, sie habe einen Termin schon in zwei Wochen, eigentlich sei es Zufall, dass man so kurzfristig etwas bekommen könne, aber jemand habe abgesagt und er solle am besten gleich zusagen, denn sie habe eigentlich eine Warteliste, aber weil er nun mal am Telefon sei, würde sie ihn vorziehen. Als müsse sie seinen letzten Widerstand noch überwinden, fügte sie noch hinzu, dass die Kuren sehr gefragt seien und dass die Gäste ihr Kommen nicht bereuen würden, es sei wirklich so. Durch diese Worte doch ein wenig unter Druck gesetzt, überlegte er nicht länger und sagte zu.
Zwei Wochen später, an einem Samstagnachmittag, stand er vor dem ehemaligen Nonnenheim, dieser Name gefiel ihm besser als „Maria Trost“, das jetzt Pension, Herberge, Exerzitienhaus oder was auch immer war, er würde es ja noch erfahren. Er solle, hatte ihm die dünne Stimme noch gesagt, sein Auto auf dem Parkplatz, etwa einen halben Kilometer vom Haus entfernt, abstellen. Wenn es sein müsse, könne er wegen des Gepäcks bis zum Haus fahren, aber dort gäbe es keine Möglichkeiten den Wagen länger abzustellen. Das Haus sah noch fast genauso aus, wie damals, wie er es in der Erinnerung hatte, allerdings war es jetzt hell verputzt. Auch der Weg war ihm sofort wieder vertraut, auch wenn er inzwischen asphaltiert, damals aber nur ein unbefestigter Waldweg war. Selbst das leicht beklemmende Gefühl stellte sich wieder ein, obwohl es heller Tag war, aber die hohen Bäume, die immer noch das Haus beschatteten, schafften eine düstere Atmosphäre. Dafür war der Blick zwischen den Bäumen hindurch in das Tal, zu dem Kloster und zu den weißen Kalkfelsen, die der Fluss freigelegt hatte, als er sich hier über Jahrmillionen hinweg eingegraben hatte, ganz bezaubernd. Er klingelte und als ihm eine Frau die Tür aufmachte, wusste er sofort, dass es die mit der dünnen Stimme war, noch ehe sie ein Wort gesprochen hatte. Sie sah aus, wie er sie sich vorgestellt hatte: undefinierbares Alter, sehr schlank, geradezu mager, dünnlippig, sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, eine Nickelbrille und das graue Haar war zu einem Dutt aufgesteckt, noch antiquierter hätte sie gar nicht aussehen können. Sie begrüßte ihn aber sehr freundlich, bat ihn in ihr kleines Büro, und nachdem er über die wichtigsten Abläufe instruiert worden war und ein paar Unterschriften geleistet hatte, ging sie mit ihm ein Stockwerk höher und zeigte ihm sein Zimmer. Ihren Mann, den Leiter des Hauses, würde er vor dem Abendessen kennenlernen, um diese Zeit sei er unterwegs, um Natur aufzutanken, wie sie sich ausdrückte. Er solle doch bitte pünktlich um 18.45 in seinem Büro erscheinen. Es wunderte ihn, dass sie nicht Viertel vor sieben gesagt hatte, vielleicht war sie pedantisch, das würde gut zu ihr passen. Das Zimmer war reichlich klein, in einem abgetrennten Teil waren eine Dusche, ein Waschbecken und die Toilette, alles recht eng und auch ansonsten war es sehr spartanisch eingerichtet: ein Bett, ein Tischchen, ein Stuhl und ein Schrank, weniger wäre kaum möglich gewesen. Etwas erstaunt war er nur über das Bild, das über dem Bett hing, ein seltsames Bild in dieser Umgebung. Es zeigte einen Stich, vielleicht von Dürer, er kannte es jedenfalls, sein Titel war "Susanna und die beiden Alten". Seltsam, weil es eine fast nackte Frau zeigte und das in einem Nonnenheim. Das Schönste an dem Zimmer war zweifellos der Blick von dem kleinen Balkon, den er schon kannte, als er vor dem Haus stand, der aber nun völlig unverstellt war. Der weite Blick in das Tal, hinüber zum Kloster und auch zum Bahnhof, zu seinem Bahnhof, und weiter zu den weißen Felsen, die den Ort umgaben und beschützen und seine Lage markant und berühmt gemacht hatten und die er früher, als er sie fast jeden Tag gesehen hatte, kaum schätzte und längst nicht so wunderbar fand, wie jetzt, viele Jahre später. Aber rasch kehrten seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück, in das enge Zimmer, zu dem Bett, das vermutlich zu enge und zu kurz war, für einen großen Mann, wie er. Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, wäre es doch besser gewesen, im Hotel Pelikan abzusteigen. Er erinnerte sich auch noch gut an den Pelikan, den er auch fast täglich gesehen hatte, damals galt es als ein sehr gutes Haus, vielleicht war es das immer noch. Aber nun gut, eine Woche würde er es auch hier aushalten, viel mehr als schlafen müsste er hier ja nicht und dabei würde ihn die Enge und Kargheit nicht weiter stören. Er war von Natur aus genügsam und konnte seine Ansprüche den jeweiligen Gegebenheiten gut anpassen.

Dann war es auch schon zwanzig vor sieben und somit Zeit in das Büro zu gehen, um den Heiler persönlich kennenzulernen. Er wollte ihn nicht gleich beim ersten Treffen wegen Unpünktlichkeit vergrätzen. Das Büro war groß und geschmackvoll eingerichtet, eine Kombination aus Büro- und Behandlungsraum, mit einem breiten Schreibtisch und vielen Büchern an den Wänden, aber auch mit einer dieser Untersuchungsliegen, die man von Arztpraxen her kennt. Der Mann selbst, der ihm freundlich die Hand schüttelte und ihn bat Platz zu nehmen, war eine durchaus sympathische Erscheinung. Anders als die seiner dünnstimmigen, dünnlippigen, etwas verhuscht wirkenden Frau, war seine Stimme volltönend, fast dröhnend, wenn er in Fahrt geriet und er sah auch deutlich besser aus, als sie. Ein Mann, so um die sechzig, groß gewachsen, mit einem gepflegten, kurzen Vollbart und einer weißen Mähne. Ein Mann, der vom ersten Moment der Begegnung an, eine seltsame, unbestimmte, aber deutliche Wirkung auf ihn ausübte. Ein Mann, dem er ohne nachzudenken vertrauen würde und das war vielleicht die wichtigste Voraussetzung, die ein Mensch braucht, der andere heilen will. Er hätte gut ein Mediziner oder ein Psychiater sein können, war aber, wie er später erfuhr, gelernter Großhandelskaufmann, der sich alles, was er nun in seinem neuen Beruf brauchte, selbst beigebracht hatte. Er erfuhr dann auch noch, dass weder der Heiler, noch das Haus in einer Beziehung zum Kloster standen. Der Träger war vielmehr eine esoterische Gesellschaft, die es vor Jahren gekauft hatte und dessen Vorsitzender war der Heiler selbst. Dies erklärte auch, dass im ganzen Haus keine christlichen Symbole, keine Kruzifixe oder Heiligenbilder zu finden waren, obwohl er dies eigentlich erwartet hatte. Aber als sie sich jetzt zum ersten Mal gegenübersaßen, wusste er nicht viel mehr als seinen Namen, denn das Gespräch war kurz und wenig informativ. Der Heiler, wie er ihn fortan nannte, wollte ein paar Gründe wissen, warum er hier war und was er hier erwarte. Aber als er anfangen wollte, alle seine Leiden im Detail aufzuzählen, winkte er ab und sagte, dass man sich um die Einzelheiten später kümmern werde. Der Heiler sprach, vielleicht war es nur eine Masche, von sich gerne in der dritten Person, vielleicht aber auch, um eine gewisse Distanz herzustellen oder eine Hierarchie aufzubauen, aber das machte ihn nicht unsympathisch. Sie verabredeten sich für eine erste, ausführliche Sitzung gleich am nächsten Morgen, dann gingen sie gemeinsam die Treppen hinauf, in das oberste Stockwerk, einen Lift gab es nicht. Im Speisesaal waren schon alle Teilnehmer des Kurses versammelt, es war ein gutes Dutzend Männer und Frauen im fortgeschrittenen Alter. Da die Kurse immer am Samstag begannen, kannten sich die Anwesenden noch nicht und so wurde eine kleine Vorstellungsrunde abgehalten. Aber niemand von den Anwesenden interessierte ihn besonders. Dann wurde das Essen von einer älteren, stämmigen Frau serviert, die Getränke standen schon bereit, Wasser und Säfte, was auch sonst, dachte er. Bei der Anmeldung hatte er nur sehr vage zur Kenntnis genommen hatte, dass es in dem Nonnenheim nur vegetarische Küche gab. Nach dem ersten Abendessen wusste er es aber sehr genau und er bekam Zweifel, ob er dieses Essen eine ganze Woche lang aushalten würde, obwohl es nicht schlecht geschmeckt hatte, aber Fleisch war nun mal Fleisch. Auch das Essen wäre ein weiterer Grund gewesen wäre, ein Zimmer im Pelikan zu buchen. Nach dem Essen blieben die meisten noch im Speisesaal, unterhielten sich, redeten über ihre Probleme, erläuterten die Gründe, warum sie gerade hierher gekommen waren. Er war nie sonderlich an den Problemen anderer interessiert, überhaupt war er eher ein zurückhaltender Mensch, der insbesondere nach seiner Scheidung gelernt hatte, ganz gut allein zurechtzukommen. Er wünschte schon bald eine gute Nacht, zog sich in sein karges Zimmer zurück und begann in einem der Bücher zu lesen, die er sicherheitshalber mitgebracht hatte. Die Nacht war wie immer, mit anderen Worten, er schlief schlecht und wenig und grübelte lange über den Sinn eines Aufenthalts in einer solchen Anstalt.

Am nächsten Morgen fand das erste längere Treffen mit dem Heiler statt. Er hatte ihn um sieben zu sich bestellt, also noch vor dem Frühstück, obwohl es Sonntag war. Wenn er nun erwartet hatte, dass der Heiler ihm zuhören würde und er endlich seine Beschwerden beschreiben konnte, statt viele Worte zu wechseln, forderte er ihn schon sehr bald auf, sich auszuziehen. Er solle bitte alles, ja wirklich alles, ablegen und es sich dann auf die Untersuchungsliege bequem machen, die mit weißem Papier bezogen war. Er solle sich möglichst entspannen, seine Gedanken in die Ferne richten, während der Untersuchung bitte nicht reden und sich auch über nichts wundern. Dann begann der Heiler seine Arbeit, für die er zunächst nur seine Händen brauchte. Es lag auch nichts bereit, womit er seine Erkenntnisse hätte festhalten können, kein Papier, kein Diktiergerät, kein Laptop. Erstaunlich war auch, dass er die meiste Zeit die Augen geschlossen hielt und leise vor sich hinmurmelte. Er fing mit den Füßen an, tastete sie intensiv ab, drehte sie, dass die Gelenke leise knackten. Dann konzentrierte er sich auf die Zehen, befühlte die Sohlen, drückte hier, stocherte dort mit einem Finger. Als Nächstes arbeite er sich die Beine hoch, die Waden, das Schienbein, prüfte die Kniereflexe, drückte das Fleisch der Oberschenkel. Als er dann an einem heiklen Punkt angelangt war, scheute er sich keineswegs seine Eier zu befühlen und seinen schlaffen Penis so intensiv zu berühren, das es fast schien, als wollte er ihn zum Leben erwecken oder zumindest wissen, ob das noch möglich sei. Es war noch möglich, danach inspizierte er den Bauch und den Magen, was mit fast schon unangenehm schmerzhaften Griffen verbunden war. Der Oberkörper und die Arme wurden dagegen fast stiefmütterlich behandelt, abgesehen davon, dass er ihn gründlich abklopfte und abhörte, die Lunge und das Herz und dazu brauche er zum ersten Mal ein Gerät, ein altertümliches Stethoskop aus dem letzten Jahrtausend. Die Hände waren wieder interessanter, besonders die Handlinien wurden mit einer Lupe genau inspiziert. Zum Schluss war dann, wie bei einer guten Massage, der Kopf dran. Für die Untersuchung der dort vorhandenen Körperöffnungen kamen weitere Geräte zum Einsatz, eine Taschenlampe, um die Augen anzustrahlen und die Reflexe der Retina zu prüfen, und ein Otoskop um in die Ohren, den Mund und die Nase hineinzuleuchten.
Als die gesamte Prozedur nach etwa einer halben Stunde beendet war, sollte er sich wieder anziehen und auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz nehmen. Nach einer kurzen Weile konzentrierten Schweigens erklärte der Heiler, dass man im Prinzip wisse, was mit ihm los sei. Was an Erkenntnissen noch fehle, werde im Laufe der Woche hinzukommen. Wichtig sei jedoch, dass die Therapie schon jetzt feststehe und dass man sich sicher sei, dass sie ihm helfen werde. Was ihm aber fehle, was seine Problem hervorrufen würde, sagte er ihm nicht. Auf eine dahingehende Frage meinte er nur, dass alles sehr komplex sei und dass man die Einzelheiten gar nicht erklären könnte, selbst wenn man wollte. Letztlich, so der Heiler, habe er auch gar nicht viel von diesem Wissen, was er bräuchte, sei Vertrauen und die Bereitschaft, geheilt werden zu wollen. Und dann sage er noch etwas, was ziemlich merkwürdig und erstaunlich klang. Er, der Heiler, sei nur ein Werkzeug, ohne große Bedeutung, ein Vermittler, eine Art Bildschirm, um ein paar Fakten sichtbar zu machen und die Heilung besser lenken zu können. Das Entscheidende sei der Ort, an dem er sich hier befinde, der power place, an dem konzentrierte Kräfte wirkten und es sei eigentlich nur seine Aufgabe, diese Kräfte auf den Patienten zu lenken und zu erreichen, dass sie richtig wirkten, nicht zu schwach, nicht zu stark, um ihn auch vor Schaden bewahren, denn diese Kräfte seien übermächtig und würden Gut und Böse nicht unterscheiden. Ob er das Gedicht "Der Hexenmeister" von Goethe kenne. Er sei ein solcher Hexenmeister, aber mit viel weniger Macht ausgestattet. Wenn er dem Besen befehle in die Ecke zu gehen, würde der nur lachen, also müsse er dafür sorgen, dass die Geister von vorneherein nur dort fegten, wo sie fegen sollten. Diese Untersuchung habe nicht das Ziel gehabt, herauszufinden, an was er leide, das könne man mit abtasten allein nicht schaffen, da bräuchte man durchaus die Methoden der modernen Medizin, die er keineswegs ablehne, nein, es ginge vor allem darum, herauszufinden, ob er hier geheilt werden könne, ob sein Körper überhaupt aufnahmefähig sei und an welchen Stellen die heilenden Kräfte am besten eindringen und wirken könnten. Er könne ihm aber gerne sagen, dass sein Körper in der Hinsicht ganz in Ordnung sei, körperlich sei er fit und er müsse nur bereit sein, das wirken zu lassen, was als Nächstes kommen würde. Mit diesen etwas kryptischen Bemerkungen entließ der den Patienten und empfahl ihm noch einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen, da der Vormittag mit den Untersuchungen der anderen Gäste ausgefüllt sei, somit würde erst nach dem Mittagessen etwas Gemeinsames anstehen. Seine nächste individuelle Sitzung fände dann am Dienstag statt, es sei denn, er habe Probleme oder dringende Fragen, dann sei er jederzeit zu sprechen.

Das Mittagessen war, wie schon das Abendessen, reichlich trostlos, er war einfach kein Vegetarier und würde auch nie einer werden. Anscheinend war das nicht nur sein Problem, denn am Nachmittag, als die Gruppe zum ersten Mal zusammensaß und den Worten des Heilers lauschte, sprach der von sich aus das Thema an. Er sagte sinngemäß, dass nicht jeder, der einen Kurs belege auch eine körperliche Entschlackung wolle, für diese Leute könne er das Hotel Pelikan im Ort empfehlen. Es habe eine hervorragende Küche und einen guten Service, allerdings könne man die gebuchte Vollpension nicht erlassen, denn ohne diese Einnahmen könne das Haus "Maria Trost" nicht wirtschaftlich arbeiten und Maria würde in diesem Fall wenig Trost spenden. Wer gehen will, möge gehen, eine Benachrichtigung der Küche sei jedoch wünschenswert. Es stellte sich später heraus, dass er offensichtlich der Einzige war, der mit dem vegetarischen Essen Probleme hatte, alle anderen blieben bei der Stange, aber er nahm schon am selben Abend die Gelegenheit für eine Abwechslung wahr. Obwohl er es nicht ahnte, war dies zugleich der Beginn einer schicksalhaften Begegnung, die sich zu einem Tornado entwickeln sollte, aus dessen Gewalt er sich nur noch knapp befreien konnte. Aber noch war es nicht Abend, noch saßen die Kursteilnehmer zusammen und der Heiler erklärte noch einmal, was er vermutlich schon jedem einzeln erläutert hatte, nämlich das Prinzip des speziellen Einflusses der höheren Mächte, denen die Menschen hier ausgesetzt seien. Wobei er gleich zu Anfang sagte, dass er selbst nicht alles verstünde, keine plausible Erklärung habe, warum hier so manche Wunder geschähen, aber er wüsste, dass sie geschehen und das sei das einzig Entscheidende. Die Gruppe, so der Heiler, würde einige Dinge zusammen machen, einige Übungen, um den Körper zu entspannen und den Geist zu aktivieren. Ganz wichtig sei, dass alle unvoreingenommen diese Kräfte wirken ließen, dann würden sie die Erfolge schon bald spüren.

Am Nachmittag fand die erste spirituelle Sitzung der Gruppe im Freien statt. Man ging geschlossen etwa einen Kilometer einen Waldweg entlang, der sich am Rand des steil aufsteigenden Berges schlängelte. Auf einer Lichtung, die einen neuen, schönen Blick auf das Tal bot, blieben sie und der der Heiler, der eine genaue Vorstellung hatte, wo die Einzelnen sitzen sollten, wies jedem einen Platz zu. Er hatte allen, die nicht auf der Erde sitzen wollten, empfohlen einen kleinen Klappstuhl mitzunehmen. Nun saßen sie in einem lockeren Halbkreis und schauten in das Tal, auf die Felder und Wiesen, auf den Fluss, der hier noch klein und verspielt war und erst später, viel später zu einem mächtigen Strom anschwellen würde, und natürlich auf das Kloster, das, im Licht des Spätnachmittags, einen stillen, friedlichen Anblick bot. Auf der Lichtung war es ruhig, vom Rascheln der Blätter und vereinzelten Vogelschreien abgesehen. Der Heiler, der sich hinter dem Halbkreis einen Platz gesucht hatte, sodass er nun nicht mehr im direkten Fokus der Teilnehmer war, hatte kaum etwas gesagt, sie nur gebeten zu schweigen und ihre Plätze nicht zu verlassen. Falls sie etwas wahrnehmen sollten, innerlich oder äußerlich, sollten sie es einfach hinnehmen, sich nicht wehren, sich nicht wundern. Alles werde gut, es bestünde kein Grund zur Angst. Aber wovor sollte man auch Angst haben, an diesem schönen Sonntagnachmittag auf einer friedlichen Waldlichtung? Es geschah dann auch nichts, abgesehen von ein paar kleinen Windstößen, die etwas unerwartet und wie aus dem Nichts aufkamen und gleich wieder abklangen. Keiner der Teilnehmer schien irritiert oder aufgeregt zu sein. Sie saßen friedlich im Halbkreis, einige beobachteten die Wolken, andere hatten die Augen geschlossen, manche murmelten leise vor sich hin, wie buddhistische Jünger ihre Mantras. Nach etwa einer Stunde trat der Heiler wieder vor sie hin und erklärte die Sitzung für beendet. Er lobte alle für ihr diszipliniertes Verhalten und meinte, die ersten Kräfte kämen immer ziemlich lautlos und er habe bewusst einen Platz ausgesucht, der sehr ruhig sei. Selbst wenn sie hier nichts gespürt hätten, würden sie bestimmt bald merken, dass sie ruhiger geworden seien, als noch bei ihrer Ankunft.

Das Abendessen im Pelikan entsprach durchaus seinen Erwartungen. Bevor er jedoch im Restaurant Platz genommen hatte, war er in die Kirche und zum Kloster und vor allem zum Bahnhof gegangen, um die alten Erinnerungen vor Ort aufzufrischen. Der Rotwein, ein süffiger Trollinger, den er zu dem Jägerbraten mit Klößen und Marktgemüse bestelle, war ausgezeichnet und er bereute seinen Entschluss keine Sekunde, nicht zuletzt wegen der netten Bedienung, die ihn jedes Mal freundlich anlächelte, wenn sie etwas brachte. Sie war sehr jung, mittelgroß und sehr schlank. Sie trug ein grünes Dirndl, das ihr zwar gut stand, aber viel zu groß für ihre schmale Gestalt war. Es verbarg alle weiblichen Proportionen, insbesondere das Mieder, das sonst die Blicke der Männer auf sich zu ziehen pflegte, war alles andere als ausgefüllt, eigentlich war von ihrem Busen nichts zu sehen, nur blütenweißer Stoff. Sie war sehr freundlich, wenn sich ihr Gesicht auch durch nichts Außergewöhnliches auszeichnete, es war ihre jugendliche, ländliche Frische, die den Charme ausmachte. Sie wechselten ein paar belanglose Worte, und als er zahlte, gab er ihr, wie es seine Gewohnheit war, ein ordentliches Trinkgeld. Vielleicht war das der Grund, dass sie bei der nächsten Begegnung, beim Mittagessen am folgenden Tag, den Gast besonders herzlich begrüßte und ihm erneut ihr schönstes, jugendliches Lächeln schenkte, ihn aber dann nicht weiter beachtete, da sie an einem anderen Tisch bediente.

In dieser Nacht schlief er zum ersten Mal seit lange ausgezeichnet, keine quälenden Träume, kein endloses wach liegen. Der Montag war wenig bemerkenswert. Am Vormittag gab die Frau des Heilers eine Einführung in Yoga und Meditation. Am Nachmittag brach die Gruppe zu ihrer zweiten gemeinsamen Sitzung auf. Diese fand mitten im Wald statt, wieder auf einer Lichtung, die von hohen, ebenmäßigen Fichten eingerahmt war. Wieder geschah nichts Bemerkenswertes. Am Abend ging er wieder in den Pelikan, aber die junge Bedienung beachtete ihn diesmal gar nicht, weil sie sehr beschäftigt war. Das Lokal war rappelvoll, wahrscheinlich war ein Bus mit Pilgern eingetroffen, die das Angenehme mit dem Nützlichen, das Weltliche mit dem Geistlichen verbinden wollten. Den restlichen Abend verbrachte er mit lesen, die Nacht war ruhig und erholsam.

Am Dienstag war sein zweiter Einzeltermin. Er war wieder sehr früh angesetzt und der Heiler bat ihn, ohne Umschweife, sich erneut auszuziehen und hinzulegen. Er tastete ihn wieder mit großer Konzentration ab, beschränkte sich aber diesmal auf Stellen, an denen Adern und Lymphknoten zu spüren waren und die er bei der ersten Untersuchung ausgelassen hatte. Zu seinem großen Erstaunen, wenn nicht gar Befremden, begann er sich dann intensiv mit seinem Penis und seinen Eiern zu beschäftigen. Die Eier schmerzten richtig unter seinem Zugriff und den Schwanz bearbeitete er auf eine so eindeutige und gezielte Weise, dass er sich zwangsläufig aufrichten musste. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es eine Art medizinische Untersuchung war, wenn er nicht das Gesicht des Heilers beobachtet hätte, das völlig konzentriert war, die Augen geschlossen, ohne den geringsten Ausdruck an Lustgefühlen, hätte er meinen können, ein Homo wolle es ihm besorgen. Aber bevor die Untersuchung richtig peinlich werden konnte, bevor sich eine Ejakulation anbahnte, beendete der Heiler seine Untersuchung und öffnete seien Augen wieder. Er könne sich vorstellen, begann er dann, dass dieser Versuch eine Erektion herbeizuführen, ziemlich peinlich für ihn gewesen sein musste. Vielleicht hätte man vorher etwas erklären sollen, aber dann hätte er sich mit Sicherheit verkrampft und die Untersuchung wäre viel schwieriger geworden. Aber entschuldigen wolle er sich auch nicht, es sei wie bei einem Arzt, der müsse auch alles machen, was notwendig ist, selbst wenn es peinlich wäre. Die gute Nachricht, so fuhr er fort, man wisse nun mit Sicherheit, was ihm fehlte und es sei nun auch völlig klar, was zu tun sei. Die schlechte Nachricht, eine Garantie auf einen Erfolg könne man nicht übernehmen, aber das sei auf solch komplexen Gebieten normal. Bei ihm liege eine Art Stau vor, wenn man so wolle, ein Stau der Sexualhormone, die zwar immer noch da seien, besser gesagt, die Organe, die sie produzierten seien intakt und er sei durchaus zu einer Erektion fähig. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte man gar nichts machen können, ihn nur der klassischen Medizin wieder überantworten müssen. Nun läge es weitgehend in seiner eigenen Hand, er könne selbst dafür sorgen, dass seine Lebensimpulse wieder in geordneten Bahnen fließen. Er müsse nur zulassen, dass die höheren Mächte, die hier, an diesem power place wirkten, Zugang zu ihm bekämen. Eine dieser Mächte sei die, die Leben spende, Frauen fruchtbar und Männer potent mache. Er kenne doch sicher den Gott Dionysos der Griechen, der sei eine Inkarnation dieser Kraft. Weniger bekannt sei hierzulande Rati, die hinduistische Göttin der Sexualität, eine sehr mächtige Gestalt im dortigen Reich der Götter. Diese Kraft müsse nun direkt und konzentriert auf ihn einwirken, nur sie können ihn von seinen Zwängen befreien, seine Ängste vertreiben und die Verkrampfungen seines Körpers auf Dauer lösen. Das könne er nicht, das könne auch die moderne Medizin nicht, denn deren Hilfsmittel, sei es Viagra oder Antidepressiva, würden nur kurzfristig und unzulänglich wirken. Wenn er Viagra nähme, würde sein Blut länger im Penis bliebe, ihn länger steif machen, es würde aber keine Libido auslösen. Doch diese käme wieder, wenn er sich dieser Liebesmacht an einem ganz speziellen magischen Ort, einem power place aussetzte, einem Hotspot, dem heißesten aller heißen Orte, wo eine Kulmination der Kräfte stattfände. Danach sei er ein anderer Mensch, vorausgesetzt alles liefe so ab, wie geplant. Dieser Ort sei eine Grotte, hier unter diesem Haus. Dort müsse er allein eine Stunde ausharren, mehr nicht. Er solle sich schon heute Nachmittag dorthin begeben, damit man an den restlichen Tagen seines Aufenthalts noch die Möglichkeit habe, ihn zu beobachten. Denn manchmal wirke die Kraft zu sehr und manchmal leider gar nicht. Auch die Götter seien wählerisch und trieben es nicht mit jedem, so seine etwas ironische Anmerkung.
Dann ermahnte ihn der Heiler, sich auf das Ungewöhnliche einzulassen. Wenn er sich innerlich sperre, sei die Heilung von vorneherein zum scheitern verurteilt, es sei wie beim Hypnotisieren, wenn das Opfer nicht wolle, gehe es einfach nicht. Nachdem er versicherte, er sei bereit, meinte der Heiler, er solle ihn ja nicht fragen, was dort unten geschehe und warum es eine solche Wirkung gäbe. Über diese Grotte sei dieses Haus vor vielen Jahren gebaut worden. Man erreiche sie nur über einen Gang und eine Treppe vom Keller aus. Es gäbe Aufzeichnungen, dass Menschen schon seit Urzeiten die Grotte besucht hätten. Sie seien gekommen, wenn sie sexuelle Probleme hatten, insbesondere wenn keine Kinder kamen. In diesen Berichten wurde vor allem Maria als Heilerin gepriesen, aber auch die Schwarze Sara, die Schutzheilige der Sinti und Roma. Gepriesen wurde immer dann, wenn sich der Erfolg eingestellt hatte, die erfolglosen Besuche wurden selten erwähnt. Er selbst sei kein religiöser Mensch und die Verehrung der Heiligen läge ihm fern, aber diese Mächte, diese Wunder, wenn man so wolle, die gäbe es sehr wohl. Wobei, er zögerte einen Moment, es eigentlich keine Wunder seien, die Mächte würden nur den Normalzustand wieder herstellen. Kurz und gut, er solle sich darauf einstellen, die Grotte gleich heute, am frühen Nachmittag aufzusuchen und dort eine Stunde in völliger Dunkelheit und Abgeschiedenheit verbringen. Er müsse allein dort sein, weil auch er, der Heiler, sich diesen Kräften nicht dauernd aussetzen dürfe, sie würden ihm dann mehr schaden als nützen. Er brauche aber keine Angst zu haben, ein einmaliger Besuch würde keine Schäden verursachen. Es sei wie bei einem Glas Sekt oder einem Cognac, in Maßen genossen würde Alkohol anregen, erst in großen Mengen träten die bekannten Probleme auf.

Das Mittagessen am Dienstag nahm er wieder im Hotel Pelikan ein. Die junge Bedienung erkannte ihn zwar, großzügige Trinkgelder wirken nun einmal nachhaltig, sie war aber für seinen Tisch nicht zuständig und so blieb es bei einem freundlichen Zunicken. Dann war es Zeit, in die geheimnisvolle Grotte zu gehen. Er hatte den restlichen Vormittag damit verbracht, sich auf diese seltsame Heilmethode vorzubereiten, hatte sich überlegt, ob es nicht doch besser sei, abzureisen und den Hokuspokus nicht weiter mitzumachen, aber die Tatsache, dass er sich deutlich besser fühlte, seit er hier war, überzeugte ihn letztlich, Was konnte schon passieren, was konnte schon schiefgehen, wenn man eine Stunde in einem dunklen Loch saß, bestenfalls oder schlimmstenfalls gar nichts. Pünktlich klopfte er an die Tür des Büros des Heilers. Er war nur mit einem Bademantel und Hausschuhen bekleidet, denn die Grotte müsse man nackt betreten, alle Kleidung vorher ablegen, so hatte der Heiler es ihm noch am Vormittag gesagt. Jetzt richtete er nur noch ein paar unverbindliche Worte an ihn, wollte wissen, ob er bereit sei und den Aufenthalt wirklich wolle. Dann nahm er einen schweren Kerzenleuchter aus Metall mit einer gelben Kerze, die deutlich nach Bienenwachs roch, und sie stiegen zusammen die Treppe hinab in den Keller des Hauses. Vor einer soliden Tür, die mit einem besonders soliden Vorhängeschloss gesichert war, blieben sie stehen. Der Heiler öffnete das Schloss, stieß dann die Tür auf und betätigte einen elektrischen Schalter. Schwache Glühlampen erhellten einen schmalen Gang, den sie nun betraten. An seinem Ende war er zu einem kleinen Raum erweitert worden, in dem sich nur ein Stuhl, ein Kleiderständer und eine weitere massive Tür, diesmal aber ohne Vorhängeschloss befanden. Von hier aus müsste er allein in die Grotte hinabsteigen, zum Kulminationspunkt, zum locus amoenus, also zu einem Ort der Freude und nicht des Grauens, so der Heiler. Auf der Kerze, er deutete mit dem Finger auf einen schwarzen Ring, seien Markierungen angebracht, wenn dieser Abschnitte abgebrannt sei, sei etwa eine Stunde vorbei, dann könne er die Grotte wieder verlassen und hier auf ihn warten. Dann betonte er noch einmal, er brauche keine Angst zu haben und wenn er den Aufenthalt vorzeitig abbräche, sei das zwar kein Problem, aber der Heileffekt sei fraglich. Dann drückte er ihm den Leuchter in die Hand und ließ ihn im Vorraum des Glücks, der Angst, der Hölle, des Himmels, was auch immer, allein zurück.

Ein wenig Angst hatte er dann doch, als er die Tür öffnete und die glatten Stufen hinabstieg, nackt, wie es ihm der Heiler gesagt hatte. Ein leichter Windhauch kam ihm entgegen, die Kerze flackerte und weil der Gang auch noch eine Biegung machte, sah er den Schein der Glühbirnen aus dem Vorraum bald nicht mehr. Die Grotte, in der er kurz darauf stand, war in der Tat ziemlich eng. Er konnte die Wände gerade noch berühren, wenn er seine Arme ausstreckte. Ihn umgaben zerklüftete, unbearbeitete Steine, voller Risse, eine Felsgrotte, die ihr natürliches Aussehen über all die Jahrhunderte, wohl kaum verändert hatte, vielleicht waren die Wände tatsächlich heilig, gewissermaßen unberührbar, so jungfräulich, wie sie aussahen. Nur der Boden war glatt und eben, vermutlich durch den intensiven Gebrauch. Interessant war die Decke des Raums, es gab keine, jedenfalls war es nicht möglich, im schwachen Schein der Kerze, ein Ende zu erkennen, alles, was man sah, war nur ein schwarzes Loch. Aber von dort oben, wie aus einem Kamin, kam der relativ warme Windhauch, den er schon auf der Treppe gespürt hatte. Er vermutete, dass die Grotte irgendwo im Freien enden würde. Vielleicht kam der Geist, den er hier treffen sollte, von dort oben und brauchte freien Zugang, dachte er leicht amüsiert, denn so intensiv er auch die Wände inspizierte, es gab keine Löcher, die in den Fels hinein führten. Nun ja, dachte er weiter, wer A sagt muss auch merika sagen und es ist wohl an der Zeit, es sich bequem zu machen und der Dinge zu harren, die kommen oder auch nicht kommen würden. Er überlegte, ob es besser sei, sich zu setzen oder stehen zu bleiben, aber eine ganze Stunde stehen, lieber nicht. Der Fels, auf dem er nun saß, war nicht so kühl, wie er gedacht hatte und er konnte sich sogar einigermaßen bequem an eine der Wände lehnen. Er vergewisserte sich noch einmal, wo die Markierung der Kerze war, die bisher nur wenig Wachs verbraucht hatte, dann stellte er den Leuchter neben sich und wartete. Nichts geschah, nur der sanfte Wind strich über seine Haut, keine Geräusche, der Wachsduft der Kerze schien aber intensiver geworden zu sein und deren flackerndes Licht rief seltsame Schatten auf dem nackten, weißen Fels hervor. Er war fast ein wenig enttäuscht, als immer noch nichts geschah. Sollte das alles sein, nichts Spektakuläres, würde sich dieser Aufenthalt wirklich lohnen? Er war doch kein Kind mehr, das an allerlei Brimborium glaubte. Doch noch während er dabei war, über okkulte Phänomene nachzudenken, die in unserer aufgeklärten Zeit wohl fehl am Platz waren, geschah doch etwas, etwas das ihn deutlich verunsicherte.

Ein plötzlicher, heftiger Windstoß löschte die Flamme, tiefste Schwärze umgab ihn. Er war nicht nur irritiert, sondern auch verärgert und machte sich Vorwürfe, weil er keine Streichhölzer mitgenommen hatte und noch mehr weil ihm der Heiler keine mitgegeben hatte, der hätte doch wissen müssen, dass so etwas passieren könnte. Aber er hatte keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn der Wind wurde immer heftiger und kälter. Dazu gesellten sich heulende, von der Zugluft verursachte Geräusche, wie man sie aus Kaminen und Schloten kennt. Bald hörte es sich an, wie eine Meute hungriger Wölfe in der sibirischen Taiga oder jagender Coyoten in der Prärie, diese Bilder fielen ihm jedenfalls ein. Er fröstelte, kauerte sich zusammen, suchte mehr Schutz vor der Kälte, vor einem imaginären Angriff, indem er sich klein machte. Doch dann spürte er, wie seltsame Wallungen durch seinen Körper pulsierten, wie das Blut wärmer zu werden schien, wie seine innere Wärme deutlich zunahm, während die äußere Kühle deutlich abnahm. Sein ganzer Körper fing an zu schwitzen, immer stärker, der Schweiß rann nur so an ihm herunter. Auf einmal tauchten die absonderlichsten Gedanken in seinem Gehirn auf und wurden zu Bildern, die vor seinen Augen erschienen, vor seinen offenen Augen, deutliche Bilder in dieser absoluten Finsternis. Erst Bilder von kopulierenden Tieren, von Löwen, Pferden, Rindern, Hunden, die voller Saft und voller Kraft sich paarten. Dann Bilder von nackten Frauen in eindeutigen, lasziven Posen, die auf ihn warteten, die sich ihm hingeben wollten, die für ihn bereit waren, nur für ihn. Es waren alle möglichen Frauen, die ihn ficken wollten, dicke, dünne, üppige, magere, junge, alte, weiße, schwarze und sie wollen es in allen möglichen Stellungen treiben, liegend, stehend, sitzend, hockend. Die Bilder bereiteten ihm ungeheure Lust und auch die Frauen schrien vor Glück und verlangten nach mehr, nach immer mehr. Denn er hörte auch ihre Stimmen, ihre rauchigen, verführerischen Stimmen, verstand aber kein Wort, doch es war eindeutig, was sie wollten. Er nahm sogar ihren Duft wahr, der den der Kerze deutlich übertönte, einen Duft, den nur brünstige Frauen verbreiteten, die im Moment der höchsten Ekstase ihre Säfte, ihre Körperflüssigkeiten verströmten. Sie waren sexuell über erregt und wollten, dass er ihre Erregung spüre, und wollten zugleich ihn spüren, ihn in sich spüren. Als er merkte, dass er dazu noch gar nicht bereit war, fing er an zu zittern und zu zucken und sogar zu weinen, richtig zu weinen, aus Angst oder weil er ihre überbordenden Gefühle nicht erwidern konnte? Aber während diese Bilder immer intensiver wurden, sich immer schneller abwechselten, immer dringlicher wurden, ihn immer stärker berührten, merkte er, dass diese Erregung ihn nun auch packte, wie sich eine Erektion seiner bemächtigte, wie sein Schwanz immer großer wurde und wie die Lust nach Sex übermächtig wurde, eine Lust, die er in dieser Intensität noch nie zuvor gespürt hatte, so drängend war sie. Und nun sah er sich selbst ganz deutlich in das Geschehen eingreifen und aus der Vielzahl der anonymen Verführerinnen, schälten sich einige wenige konkrete heraus. Seine Phantasien vermischten sich mit seinem wirklichen Leben, seine irrealen Wünsche wurden von seinen realen Erfahrungen gespeist. Da war die üppige Bauchtänzerin, die er vor Jahren in einem Lokal gesehen hatte und die immer wieder seine sexuellen Phantasien beflügelt hatte. Sie taucht vor ihm auf, tanzte auf einem runden Tisch, setzt alles daran, ihn auf ihre überbordende Weiblichkeit aufmerksam zu machen, schließlich legte sie sich auf diesen Tisch und sie trieben es miteinander. Als Nächstes erschien die fast undefinierbare Gestalt einer schwarzen Nutte, die in der Dunkelheit kaum sichtbar war und sich ihm mit leisen Wisperlauten anpries, ein billiges, schnelles Vergnügen signalisierend. Und dann war auf einmal zu seiner eigenen Überraschung die gertengleiche, biegsame Gestalt des jungen Mädchens aus dem Hotel vor seinen Augen, die Bedienung, die ihm so freundlich zugelächelt hatte, fast noch ein Kind, ohne ausgeprägte Kurven. Sie schmiegte sich an ihn und liebten sich sanft. Doch das waren die einzigen Momente der Zärtlichkeit, die ihm gegönnt waren, denn alsbald erfasste ihn wieder dieser teuflische Sog, der wilden, animalischen Sexualität, der ihn wie eine gewaltige Meeresströmung in die Tiefe drückte oder wie ein gewaltiger Tornado hoch in den Himmel hob. Und dann war auch wieder die Angst da. Was, wenn er diesem Sog nicht mehr entkommen könnte, wenn die Lust direkt in den Tod übergehen würde, diese immense Lust, die er auskostete, die immer neue Begierden gebar. Was, wenn er diese nicht mehr befriedigen könnte, was dann? Aber das war auch das Letzte, was er noch bewusst wahrnahm, was er spürte, was er selbst steuern und beeinflussen konnte. Alles, was dann geschah, spielte sich in seinem Unterbewusstsein ab, in einer undefinierten Traumwelt, im Bardo der Tibeter, in einer Zwischenwelt des Lebens und des Todes. Es waren aber mehr als nur normale Träume, die ihn weiterhin heimsuchten, es muss viel mehr gewesen, es müssen aufregende Dinge passiert sein, wunderbare, schreckliche, denn als er erwachte, war sein Kopf voll mit Bildern, mit Eindrücken, mit Erinnerungen, die aber sofort verschwanden, als er sie fixieren wollte, als er sie auskosten, sie noch einmal sehen, über sie nachdenken wollte. Es war nun wieder wie im richtigen Leben, man wacht auf, sieht noch einen kurzen Moment das Traumgeschehen, dann ist es aber schon verschwunden, aus dem Gedächtnis gelöscht. Er wachte auf, weil ihn jemand angefasst und geschüttelt hatte. Er wusste sofort, dass es der Heiler war, der ihn mit einer Taschenlampe anstrahlte und ganz ruhig sagte, das alles gut sei, dass jetzt alles überstanden sei und sie wieder hochsteigen könnten, zurück in die Welt, zurück in sein reales Leben, obwohl alles, was er hier erlebt habe, auch real sei, sehr real sogar.
Oben, in der Welt des Realen, des vertraut Realen, wieder angekommen, fühlte er sich sehr schwach und erschöpft. Er hatte nur noch den dringenden Wunsch, in sein Zimmer zu gehen, sich auf sein Bett zu legen und sich weiter diesen seltsamen, aufregenden Träumen hinzugeben, die ihn immer noch umtrieben, die ihn noch gefangen hielten, obwohl die Details aus seinem Bewusstsein verschwunden waren. Er hoffte, diese Scheinwelt zurückholen zu können, noch einmal das nachzuerleben, was ihn in der Grotte übermannt hatte, noch einmal diese Glücksgefühle auszukosten und das große Verlangen zu spüren. Aber waren es überhaupt Glücksgefühle oder war es letztlich nur eine grotesk überdrehte Angst? Eine Angst, die er auch deutlich gespürt hatte, nicht die vor dem Versagen, sozusagen die normale Angst der Männer, sondern die, nicht mehr aufhören zu können, diese Scheinwelt nicht mehr verlassen zu wollen. Der Heiler, mit dem er auf dem Weg nach oben kurz sprach, war mit dem Resultat des Grottenbesuchs sichtlich zufrieden und zeigte auch volles Verständnis für seinen Wunsch einerseits nach Ruhe, andererseits nach weiteren Träumen. Er solle sich ausschlafen, die Erschöpfung sei normal, am nächsten Tag könnten sie weiterreden, obwohl es eigentlich nicht mehr viel zu bereden gäbe, denn nun sei geschehen, was geschehen sollte und alles werde jetzt wieder gut.

Am Mittwoch wachte er ziemlich spät auf, fühlte sich zwar gerädert, aber dennoch ausgeschlafen und in bester Stimmung. Er hatte vermutlich eine aufregende, rauschhafte Nacht erlebt, eine Fortsetzung der Erlebnisse in der Grotte, das sagten ihm die Bilderfetzen, die nach dem Erwachen noch kurz in seinem Kopf herumspukten, dann aber wieder rasch verschwanden, das sagte ihm sein Unterbewusstsein, das ihm allerdings nicht erlaubte, sich zu erinnern, weder an Bilder noch an Geschichten, und das zeigte sich auch daran, dass das Kopfkissen und das Bettlaken schweißnass waren. Als er wieder voll bei Bewusstsein war, der Traumwelt entstiegen, waren die Erlebnisse in der Grotte sofort wieder in seinem Kopf präsent, aber als er nun aus der Distanz einer überschlafenen Nacht darüber nachdachte, schob er alles auf reine Halluzinationen zurück. Was hätte es denn sonst sein können, fragte er sich. Er hatte nichts zu sich genommen, keine Drogen, keinen Alkohol und von der Kerze, mit ihrem intensiven, ja geradezu betäubenden Duft nach Bienenwachs, konnten diese seltsamen Zustände ja wohl nicht gekommen sein. Andererseits war in einer solchen okkulten Umgebung vieles möglich, was an anderen Orten wohl nicht stattfinden konnte, all die Schamanen, all die Voodoopriester wussten das und versetzten sich und ihr Publikum in die entsprechende Bereitschaft. Vielleicht sollte er den Heiler fragen, was ihn in diesen erregten Zustand versetzt hatte. War er es gewesen, obwohl er doch gar nicht mental auf ihn eingewirkt hatte, dafür aber um so intensiver mit seinen Händen, konnte dadurch solch ein seltsames, sexuelles Phänomen in seinem Unterbewussten entstehen, das dann nur noch diesen geheimnisvollen Ort brauchte, um hervorzubrechen und ihn zu drangsalieren oder zu euphorisieren, was auch immer? Aber das hatte Zeit, dir Fragen waren dann doch nicht so drängend. Frohgelaunt stand er auf, duschte und ging zu der vegetarischen Frühstückstafel. Dort saßen nur noch drei der sieben weiblichen Teilnehmer des Kurses. Die anderen waren schon gegangen, um sich auf die gemeinsame Sitzung im Wald vorzubereiten, zu der sie bald aufbrechen würden. Schon als er zum Frühstücksbüfett ging, natürlich war alles vegetarisch, Eier, Vollkornbrot, Käse, Aufstriche, Tee spürte er die Blicke der Frauen in seinem Rücken. Als er dann seinen Platz an der Tafel einnahm, ein wenig entfernt von den Dreien, starrten diese ihn auf eine Weise an, dass ihm ganz seltsam zumute wurde. Erst dachte er, er habe etwas komisches getan oder dass mit seiner Kleidung etwas nicht in Ordnung sei, aber nein, er selbst war es, seine Person, die offensichtlich Freude bei den Damen auslöste, den Blicken nach zu urteilen und den fast geflüsterten Worten, die ihn dennoch erreichten. Er lächelte sie an, sie lächelten zurück. Er aß, sie blieben auf ihren Plätzen, starrten ihn an, lächelten, sagten aber nichts mehr. Als er sein Geschirr abräumte und sich anschickte, den Raum zu verlassen, standen sie ebenfalls eilends auf, denn mittlerweile waren sie spät dran. Ihr Lächeln, mit dem sie sich von ihm verabschiedeten, war einfach bezaubernd.

Die gemeinsame Sitzung fand wieder im Freien statt, an einem anderen Ort als am Sonntag, ohne Blick über das Tal, dafür auf gerade gewachsene Fichtenstämme, aber der Ablauf war sehr ähnlich und das Resultat nicht viel anders. Eine Sache war jedoch deutlich anders, die Frauen des Kurses, wirklich alle, schauten ihn selig an, lächelten ihm auf eine Weise zu, dass er schließlich völlig verwirrt war. Leider ergab sich vor dem Essen keine Möglichkeit mehr, mit dem Heiler über diese Seltsamkeit und über das Erlebnis in der Grotte zu sprechen. Zum Mittagessen ging er, wie nun schon gewohnt, in das Hotel Pelikan und dort erlebte er eine weitere höchst seltsame Überraschung. Das junge Mädchen, die schmale Bedienung in dem zu großen Dirndl, dieses etwas androgyn wirkende, unausgereifte aber sehr freundliche Wesen eilte, kaum dass er den Raum betreten hatte, auf ihn zu, begrüßte ihn freudig und dirigierte ihn zu einem Tisch, an dem sie bediente. Dabei strahlte sie ihn an, ja sie himmelte ihn geradezu an und sprudelte los, noch ehe er ein Wort sagen konnte. Wie froh sie sei, dass er heute gekommen sei und zum Abendessen müsse er unbedingt auch wieder kommen, sie habe ihm etwas Wichtiges zu sagen, etwas sehr Wichtiges, aber er solle bitte, bitte etwas später als sonst kommen, dann sei das Lokal leer und sie habe mehr Zeit für ihn und die brauche sie. Auf seine Frage, was denn so wichtig sei, sagte sie nur, das könne sie jetzt nicht sagen, aber er würde es heute Abend erfahren. Und bevor sie seine Bestellung endlich aufnahm, bedrängte sie ihn noch einmal, er müsse ihr unbedingt versprechen, zu kommen, es sei wirklich sehr, sehr wichtig. Das Verhalten dieses jungen, unschuldigen Dings irritierte ihn mächtig, insbesondere als ihm wieder das siedend heiß einfiel, was er in der Grotte mit ihr getrieben hatte, zwar nur in Gedanken, aber es war, als hätte es tatsächlich stattgefunden. Verlegen stocherte in seinem Essen herum und murmelte etwas, um sich zu entschuldigen, als die Bedienung zum Kassieren kam und ihn frage, ob es heute nicht geschmeckt habe und ihn noch einmal an das Treffen am Abend erinnerte.

Während des ganzen Nachmittags, als nichts Bedeutendes mehr geschah, die Frau mit der dünnen Stimme leitete eine Art Yogakurs, konnte er sich nicht konzentrieren, denn das junge Mädchen ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er spürte einen inneren Zwang, einen regelrechten Drang, diese unscheinbare Bedienung in einem absolut normalen Hotel auf dem Lande wieder zu treffen. Einen so unerklärlichen Drang, dass er fast schon meinte, er habe sich in sie verliebt, was er dann zwar als ausgemachten Blödsinn abtat, aber damals, als er noch jung war und sich noch verlieben konnte, war es genauso gewesen, die Angehimmelten hatten ihn voll in Beschlag genommen und gingen ihm tagelang nicht mehr aus dem Kopf.

Er kam dann auch an diesem Abend, nicht nur weil ihm das Essen an sich gut schmeckte und weil er neugierig war, was ihm die Bedienung so Dringendes mitzuteilen hatte, sondern weil er es in dem Nonnenheim einfach nicht ausgehalten hätte, weil er verrückt geworden wäre ohne diesen Besuch, ohne dass er diesem verdammten Drang nachgegeben hätte, der ihn seit dem Mittagessen plagte. Er kam mit der gewünschten Verspätung, und als die junge Frau ihn sah, strahlte sie ihn an und sagte, er solle sich an einen Tisch in der hintersten Ecke der Gaststube setzen, dort seien sie ungestört. Sie war die einzige Bedienung, mehr waren auch nicht nötig, denn es war tatsächlich wenig los. Nur noch wenige Gäste an einem einzigen Tisch und die waren versorgt und so hatte sie Zeit, sich zu ihm zu setzen und sich mit ihm zu unterhalten. Besser gesagt, es sprudelte wieder aus ihr heraus, wie schon am Mittag, und er hatte kaum Gelegenheit, zu Wort zu kommen. Zu seiner Überraschung begann sie, ohne Einleitung, ohne ein paar verbindliche Worte zu verlieren, gleich mit der Feststellung, dass morgen, am Donnerstag, ihr freier Tag sei und ob er schon etwas vorhabe, ob er sich vorstellen könne, diesen Tag mit ihr zu verbringen, ob es ihm gefallen würde, zusammen einen kleinen Ausflug zu machen. Sie legte eine kurze Pause ein und sah ihn mit großen Rehaugen erwartungsvoll an. Sie fände ihn so nett und sympathisch und sie sei hier so einsam und er der einzige, der interessant sei und ihr größter Wunsch sei es, mit ihm einen schönen Tag zu verbringen, er würde es nicht bereuen, sie wisse was sie wolle und wenn er Bedenken wegen ihres oder seines Alters habe, könne sie ihn beruhigen, es störe sie absolut nicht, dass er so viel älter sei, das würde absolut keine Rolle spielen, denn dort wo Sympathie und Liebe herrschten, spiele das Alter keine Rolle und sie empfände nun mal viel Sympathie für ihn. Dies schon, als sie ihn zum ersten Mal gesehen habe und noch viel mehr seit heute Mittag. Das sei so, dagegen könne sie nichts machen und deswegen solle er bitte, bitte zustimmen und kommen. Er war, nicht zum ersten Mal an diesem Tag, verwirrt und fragte sich, was dieser eindeutige Vorstoß einer so jungen Frau sollte. Er war es einfach nicht gewohnt, dass ihm Frauen, junge zumal, Avancen machten, denn anders war es doch nicht zu verstehen, was sie so halb kryptisch, halb ungeduldig und doch sehr bestimmt und eindeutig von ihm verlangte. Es hörte sich doch danach an, dass sie nicht mehr und nicht weniger als ein Schäferstündchen mit ihm verbringen wollte. Er musste wegen des antiquierten Ausdrucks lachen, was sie wiederum irritierte. Sie schaute ihn verunsichert, aber zugleich erwartungsvoll an, konnte aber seine Antwort nicht abwarten, da ein Gast nach ihr gerufen hatte. Sie komme gleich wieder und er solle doch bitte, bitte ja sagen. Es blieb im auf diese Weise etwas Zeit, über das seltsame Mädchen und ihr noch seltsameres Angebot nachzudenken und die Lage, in der er sich so plötzlich befand, besser gesagt, in die sie ihn gebracht hatte, einzuschätzen und zu bewerten. Seit diesem Höhenaufenthalt waren alle Frauen wild auf ihn, obwohl er sich doch nicht verändert hatte, ja, sicher, ihm ging es gut und er strahlte vielleicht eine gewisse Zufriedenheit aus und vielleicht war er für manche Frauen auch attraktiv, aber doch nicht für eine solche junge Frau, die seine Tochter hätte sein können und es war ja auch nicht möglich, dass man sich in einer so kurzen Zeit so drastisch verändern konnte. Was war denn heute anders als gestern, als sie ihn nur mit einem kurzen Kopfnicken begrüßt hatte? Warum war sie auf einmal so wild auf ihn, auf einen ziemlich alten Mann ohne besondere Eigenschaften, den vermutlich nur viel Geld begehrenswert machen würde, aber darüber hatten sie ja kein Wort gesprochen? Waren das alles diese magischen Kräfte, die auf ihn übergegangen waren, von denen der Heiler immer geredet hatte? War er plötzlich zum Gigolo, zum Womanizer, zum Frauenheld, zum Don Juan mutiert? Fragen, die kaum jemand beantworten könnte, aber er musste sich gleich entscheiden, er musste ihr gleich eine Antwort geben, die Gäste hatten schon bezahlt, standen auf und sie räumte nur noch den Tisch ab. Gleich würde sie wieder bei ihm sein, gleich würde sie wissen wollen, was nun Sache sei, gleich musste er sich definitiv festlegen. Aber als sie wieder an seinem Tisch saß, wollte sie zunächst nur wissen, ob er ein Glas Sekt mit ihr trinken möge. Im Kühlschrank sei eine angebrochene Flasche, die geleert werden müsse. Das gehe natürlich auf Kosten des Hauses, versicherte sie rasch, als er zögerte. Er fragte sich, ob das ein Trick sei, ihn von ihrem Vorhaben zu überzeugen, nickte jedoch und sie schwebte davon, wirklich, sie ging ganz beschwingt, ganz leicht und wackelte mit ihrem kaum vorhanden Hinterteil und sie kam noch beschwingter zurück, die Flasche und zwei Gläser in den Händen und ein seliges Lächeln auf ihrem frischen, glücklichen, fast noch kindlichem Gesicht. Sie tranken und als die Flasche leer war, von wegen nur noch ein Rest, war es auf einmal keine Frage mehr, die entschieden und beantwortet werden musste. Es ging nur noch darum, dass er morgen früh um neun oder lieber noch früher vorbeikommen werde. Er habe doch ein Auto, ohne Auto kämen doch nur die armen Pilger und er sei bestimmt keiner. Nein bestätigte er, er sei kein Pilger, er sei bei einem Kurs im Nonnenheim und ja, ein Auto habe er. Also um neun, flüsterte sie, und als er nickte, umarmte sie ihn spontan und küsste ihn. Sie küsste nicht wie ein scheues Reh, das in eine Frau verwandelte worden war, sondern wie eine ausgehungerte Geliebte, die endlich wieder das Glück auf Erden spürte, weil ihr Liebster bei ihr war. Es war ein hoch erotischer Kuss, der ihn erregte, sogar sehr erregte, aber bevor er nachdenken konnte, wie und ob sie gleich hier und jetzt etwas Weitergehendes unternehmen könnten, etwas was diese seltsame Beziehung, diese amour foux, die ihm mehr und mehr Freude bereitete, weiter beflügeln würde, hörte sie auf, mit ihrer Zunge in seinem Mund zu wühlen, auf seine Lippen zu beißen und ihn kirre zu machen. Er solle jetzt gehen, sie würde es sonst nicht mehr aushalten und es sei ja jetzt nicht möglich, zusammen zu schlafen, obwohl sie große Lust dazu habe, aber es gehe weder bei ihr, noch in seinem Nonnenheim, aber morgen, da täten sie es, ganz bestimmt und sie sei jetzt schon glücklich sehr glücklich, er sei der Mann ihres Lebens, da sei sie sich ganz sicher, das sei ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, als er heute zum Mittagessen gekommen sei, sie wüsste nun, dass sie ihr ganzes Leben lang auf ihn gewartet habe, nur auf ihn, bei Gott, und nun solle er rasch gehen. Er ging, aber zuvor musste sie doch noch einmal das große Glück mit ihren Lippen herausfordern. Noch einmal presste sie ihren Mund auf seinen und ihre Zunge bahnte sich ihren Weg durch seine Lippen, an seinen Zähen vorbei, bis beide Zungen einen absonderlichen, finalen Tanz aufführten. Dann löste sie sich abrupt von ihm und drängte ihn förmlich zur Tür.
Der Donnerstag brach an, nach einer Nacht, die ihn ruhig und entspannt hatte schlafen lassen, ihn aber wieder nicht mit aufregenden Bildern der Grotte konfrontiert hatte. Beim Frühstück waren die Blicke der Frauen erneut auf ihn gerichtet und er empfand deswegen ein sehr angenehmes Gefühl in der Magengrube, das auch noch in den Bereich weiter unten ausstrahlte und ihn schon zu dieser Stunde erregte. Es fühlte sich an, als habe er eine Aura um sich, die ihn zum attraktivsten Mann der Erde machte. Während er zufrieden sein vegetarisches Frühstück zusammenstellte, dachte er daran, dass es Männer gibt, die weder schön noch reich, nicht einmal attraktiv waren und dennoch viel Erfolg bei Frauen hatten. Sollte er von jetzt auf nachher zu diesem Kreis seltsamer Käuze gehören? Doch diese Vorstellung bewegte ihn nur kurz, denn in Gedanken war er schon wieder bei der jungen Bedienung im Hotels und stellte sich zum einen vor, was er in der Grotte mit ihr getrieben hatte und dann, wie sie ihn bald voller Ungeduld und Sehnsucht erwarten würde und sie dann tatsächlich das machen könnte, was bisher nur im Traum geschehen war, dass sie das wollte, daran hatte er keine Zweifel mehr. Doch seine euphorischen Gedanken stockten, denn auf einmal konnte er überhaupt nicht mehr verstehen, was sich da anbahnte. Was zum Teufel hatte ihn plötzlich so attraktiv gemacht, ihn einen mittelalten, geschiedenen Mann, der bisher noch nie sonderliche Erfolge bei Frauen gehabt hatte? Was bewog insbesondere ein junges Mädchen, sich derart an ihn zu schmeißen? Er hätte das und die Vorgänge in der Grotte liebend gerne mit dem Heiler besprochen. Aber als er bei der Dünnlippigen nachfrage, ob er für ein kurzes Gespräch zur Verfügung stünde, sagte sie, er sei in die Stadt gefahren und erst später wieder erreichbar. Er gab sein Vorhaben auf, meldete sich stattdessen vom Mittag- und Abendessen ab. Dann ging er zum Parkplatz des Nonnenhauses und kurz nach neun stand sein Auto auf dem Parkplatz des Hotels. Es war so, wie er es sich ausgemalt hatte. Die junge Frau erwartete ihn schon sehnsüchtig und nachdem sie eingestiegen war, küsste sie ihn sogleich auf den Mund und wieder war es kein harmloses Küsschen und das am hellen Vormittag vor ihrem Arbeitsplatz, wo es jeder, der sie kannte hätte sehen können, aber das war ihr anscheinend völlig egal. Sie kannte sich einigermaßen in der Gegend aus, obwohl sie noch nicht so lange hier wohnte, jedenfalls wusste sie ziemlich genau, wohin sie fahren wollte. Mindestens ebenso genau wusste sie, was sie an diesem Tag von ihm wollte, denn sie dirigierte ihn als Erstes zu dem kleinen Drogeriemarkt im Ort. Frauen brauchen immer etwas für ihre Schönheit, dachte er, aber als sie ihn bat, er möge eine Packung Kondome kaufen, aber eine große, war er doch sehr verblüfft. Das sollte nicht die einzige Überraschung an diesem Tag sein, ja, er sollte aus all den Verblüffungen gar nicht mehr herauskommen. Das Ziel, das sie ihm dann nannte, war eine alte Ritterburg, hoch auf den schroffen Felsen gelegen, mit angeblich spektakulären Ausblicken in das Tal. Aber schon auf dem Weg zu der Burg, als sie eine längere Strecke durch den dichten Wald fuhren, sagte die junge Frau voller Ungeduld und Erregung, er soll auf einen der Forstwege abbiegen und ein Stück tiefer in den Wald hinein fahren, bis zu einer Stelle, wo sie mit Sicherheit ungestört seien.

Er fand eine geeignete, helle Lichtung, mitten im dunklen Wald. Vielleicht war es auch einer dieser power places, denn was nun geschah, ließ sich anders kaum erklären. Denn kaum waren beide ausgestiegen, waren ein paar Schritte in dem seidenweichen Gras gegangen, schritt sie schon zur Tat. Ohne viele Worte, ohne große Umschweife, ohne ihn zu fragen oder zu warnen oder vorzubereiten, umarmte sie ihn, küsste ihn fast schon verzweifelt auf den Mund und fummelte auch schon an seiner Kleidung herum. Dabei ermutigte sie ihn atemlos, dasselbe mit ihr zu tun, sie zu küssen, sie auszuziehen. Dann lagen sie im halbhohen, weichen, duftenden Gras dieser einsamen Lichtung und liebten sich voller Lust und mit der Lebensgier von zwei Ertrinkenden, die es gerade noch auf ein rettendes Floß geschafft hatten. In ihm kamen genau die Gefühle wieder auf, die ihn schon in der Grotte heimgesucht hatten, nur das sein Tun diesmal nicht fiktiv, sondern zweifellos echt war. Um das zu beweisen, zwickte er sich selbst in den Unterarm. Der Schmerz war so real wie das unendliche Vergnügen und den blauen Fleck sah er noch viele Tage nach dieser Kombination aus Tsunami und Tornado, in den nun beide gerieten. Der blaue Fleck erinnerte ihn noch lange an die unglaublichen Vorgänge, die sich an diesem Tag abspielten, die hier aber nicht im Einzelnen aufgezählt werden können und sollen. Es ist müßig, sie alle beschreiben zu wollen, nur so viel sei gesagt: sie liebten sich mehrfach und sehr intensiv, im Auto, im Freien, im Stehen, im Liegen, in vielen Variationen, an weiteren Plätzen im Wald, auf einer einsamen Wiese, im Schatten eines einsamen Heustadels. Die Frau war unersättlich und so erfindungsreich, wie er es nicht für möglich gehalten hätte, jedenfalls nicht bei einer so unscheinbar wirkenden, blutjungen Bedienung, die aus der tiefsten Provinz stammte und in einem biederen ländlichen Hotel beschäftigt war und die ihn knappe vier Tage kannte und vor dieser unerklärlichen Liebeswut kaum ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte. Aber sie war tatsächlich raffiniert und ausgehungert und probierte alles aus, was sie sich möglicherweise in stillen Stunden ausgemalt oder in heißen, heimlich betrachteten Pornos abgekupfert hatte. Und er selbst, er war von sich selbst auch höchst erstaunt, denn zu seiner eigenen großen Überraschung, war er stets bereit und in der Lage, alle ihre Wünsche zu erfüllen, er war immer erfolgreich und liebte sie mit wachsendem Vergnügen. Das, was an diesem Tag geschah, war mehr als nur ein Märchen, es war die Potenz vieler Märchen und er genoss jede Minute über die Maßen, auch weil er genau wusste, dass dieser Tag sich nie mehr wiederholen würde.

Sie beschäftigten sich aber nicht nur mit der Liebe in all ihren Variationen, sie besuchten auch die Burg, erfreuten sich an dem grandiosen Ausblick, fanden um die Mittagszeit ein nettes Lokal, in dem sie sich der ländlichen Küche widmeten und fanden sogar etwas Zeit zu reden. So erfuhr er, dass sie nicht freiwillig in dem Hotel war, sondern dass ihre Eltern es so wollten, dass sie einen Freund hatte, einen langweiligen und erzkatholischen, den sie lieber auf Abstand halten wollte, ihn am liebsten ganz verlassen wollte, aber das sei nicht so einfach. Er war letztlich der Grund, dem Wunsch der Eltern nachzugeben und in dem Klosterdorf zu bleiben, jedenfalls eine Weile, denn auf Dauer sei es unmöglich. Dann bestätigte sie, was er ohnehin schon gemerkt hatte, nämlich dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte, weil er eine mögliche Alternative zu diesem ungeliebten Freund und dem ebenfalls ungeliebten Aufenthalt in der behüteten Klosterwelt war, die einzige mögliche Alternative, die sie im Moment habe. Was schere sie der Altersunterschied, nur die Liebe würde zählen und in der Hinsicht sei er unglaublich, phantastisch, unerschöpflich. Ihr größter Wunsch sei, bei ihm zu bleiben, mit ihm zu leben, er solle sie mitnehmen, sie könnten gut zusammenleben, heiraten sei ohnehin aus der Mode gekommen. Er sei doch geschieden und unglücklich, dass habe er doch gesagt, aber zusammen könnten beide richtig glücklich werden, davon sei sie überzeugt und bereit, ihm alles, wirklich alles zu geben, was sie zu ihrem gemeinsamen Glück bräuchten. Und wenn sie schon nicht im selben Haus wohnen könnten, wegen der Nachbarn und so, könnte sie ja eine eigene Wohnung haben und sie könnten sich jeden Tag sehen und die Nächte miteinander verbringen. Bei ihren Worten, ihren Vorschlägen und Wünschen wurde ihm nun doch sehr seltsam zu Mute, aber noch schwebte er auf dieser verdammten rosaroten Wolke, aber dennoch wurde eins ihm immer klarer, das was dieses junge Mädchen wollte, wollte er nicht, so rosarot war diese Welt dann doch nicht, das war ihm auch in seinem entrückten Zustand durchaus bewusst. Und dann, am späten Nachmittag, kurz bevor sie wieder zurück in das Klosterdorf fuhren, stellte er noch eine Frage, die ihm schon lange auf der Zunge lag und ihre Antwort bestärkte ihn in seiner Skepsis. Denn als er wissen wollte, wie alt sie eigentlich sei, druckste sie herum, wurde rot, und erst als er nachbohrte, erfuhr er, dass sie nächsten Monat Geburtstage habe und dann 18 sei. Wie ums sich für alles zu rechtfertigen sprudelte sie wieder, dass es ja nicht mehr lang dauere und dann sei sie volljährig und dass sie jetzt schon so gut wie volljährig sei und auf jeden Fall alt genug für all das, was sie getan hatten und zusammen noch tun würden. Dann war der Ausflug beendet und der Tag ging in den Abend über und sie saßen noch lange in seinem Auto auf dem Parkplatz des Pelikans und erneut bedauerte diese wilde Minderjährige, dass sie die Nacht nicht zusammen verbringen konnten. Ihren Vorschlag, ein Zimmer in einem Hotel zu nehmen, lehnte er kategorisch ab. Das sei absolut unmöglich, da bekäme er große Schwierigkeiten, ob ihr das nicht klar sei. Überhaupt, sei es ein großes Problem, dass sie unter 18 sei und wenn er das schon vorher gewusst hätte, wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen, aber er bereue auch nichts, keine Minute, er habe jede einzelne genossen und das sei die Wahrheit, aber jetzt noch ein Hotel suchen, das ginge nicht. Außerdem befände er sich in einer für ihn sehr wichtigen Kur im Nonnenheim und dürfe deren erfolgreichen Ablauf nicht stören. Sie sah ihn tief enttäuscht ein, beharrte aber nicht mehr auf ihrem Vorschlag und so trennten sie sich, als es schon dunkel war mit vielen weiteren Küssen, die aber nun seltsam bitte zu schmecken schienen.

Einerseits beschwingt, andererseits voller Zweifel, auf jeden Fall aber gar nicht erschöpft, trotz der vielen, kräftezehrenden Anstrengungen, kehrte er in sein karges Zimmer zurück. Zwar bedauerte er angesichts des schmalen Bettes, nicht doch in den Armen dieser unglaublichen Frau einschlafen zu können, aber dann dachte er an die vielen Komplikationen, die er so vermieden hatte, und schlief bald darauf ein. Nach einer Nacht, in der sich Glücks- und Angstmomente abwechselten, erwachte er am nächsten Morgen, nass geschwitzt und sehr erregt. Kaum war er wach, überfielen ihn die Zweifel und die Ängste und sie peinigten ihn unerbittlich. Erst als er am späteren Vormittag Gelegenheit hatte, mit dem Heiler zu sprechen, fand er seinen inneren Frieden so einigermaßen wieder, allerdings erst, als eine sehr bittere Pille geschluckt hatte. Der Heiler nahm sich Zeit und hörte verständnisvoll zu, als er ihm alles schilderte alles, was am gestrigen Tag vorgefallen war, alles was ihn umtrieb und verunsicherte und bat ihn um Erklärungen. Er wisse einfach nicht, was mit ihm los sei, warum ihn die Frauen so anstarren würde und warum ihn ein so junges Mädchen so bedrängte und verführte, ihn einen reichlich alten Mann. Und auch das seltsame Geschehen in der Grotte wolle er ansprechen, auch da hätte er gerne ein paar Erklärungen. Der Heiler meinte nach einer Weile des konzentrierten Schweigens, dass die Geschichte ihn nicht überraschen würde. Er sei wohl etwas zu lange in der Grotte gewesen. Dort hätten aber Drogen keine Rolle gespielt, auch die Kerze sei aus ganz normalem Bienenwachs, da sei nichts hinein manipuliert worden. Auf seine Frage, ob es denn wirklich nur reine Halluzinationen gewesen seien, er habe doch auch in seinem Körper deutliche Veränderungen gespürt, antwortete der Heiler, so könnte man das mit unserem heutigen Wissen durchaus bezeichnen. Aber schon Shakespeare habe gesagt, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gäbe, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Er solle sich doch nur mal überlegen, wie er einem Michelangelo, einem sicher hochgebildeten Mann in seiner Zeit, das Internet erklären wollte. Was wir heute noch als Wunder oder Halluzination bezeichneten, fände vielleicht schon morgen eine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Erklärung. Wichtig sei, dass er diese Halluzinationen nicht mit seinem wahren Leben verwechsle. Auch die junge Frau, um wieder auf sie sprechen zu kommen, sei nur eine Art von Halluzination. Normalerweise würde er sich nicht in das Privatleben seiner Patienten einmischen, sie seien alt genug, um zu wissen was sie tun, aber in diesem Fall müsse er ihm den dringenden Rat geben, sofort, noch heute, noch vor dem Mittagessen, jedenfalls kein Mittagessen im Hotel, abzureisen, das Mädchen weder aufzusuchen, noch sich von ihr zu verabschieden, ihr keine Nachricht zukommen zu lassen, weder jetzt noch irgend wann später. Es sei hart für sie, gewiss, und auch für ihn, aber diesen Preis müsse er bezahlen, um seines Seelenfriedens und einer glücklichen Zukunft willen. Wenn er sich weiter mit ihr einließe, sein Glück noch einmal, noch mehrmals zwingen wolle, stünde am Ende ganz sicher eine bittere Enttäuschung, eine Katastrophe, ein Unglück, da sei er sich ganz sicher. Er habe Einmaliges erlebt und das sei auch einmalig, zwar sei das eine Binsenweisheit, aber diese seien meistens wahr. Der Vorschlag, sofort abzureisen, gefiel ihm natürlich gar nicht und er zweifelte an den Worten des Heilers, weil er ihnen keinen Glauben schenken wollte, weil er sich immer noch in dieser rosaroten Wolke befand. Doch der Heiler ließ nicht locker. Er solle sich doch mal überlegen, was passieren würde, wenn die Eltern des Mädchens davon erführen. Er kenne sie doch gar nicht, wisse aber zumindest, dass immer noch minderjährig sei und ob er sich sicher sei, dass sie vorher nicht noch Jungfrau war? Gut, das hätte er vielleicht bemerkt und außerdem sei das heutzutage eher ungewöhnlich für Mädchen in ihrem Alter. Aber, es sei nicht ausgeschlossen, dass er es plötzlich mit dem Staatsanwalt zu tun bekäme, wegen Verführung Minderjähriger, weil die Eltern ihn angezeigt hätten oder weil seine kleine Geliebte von ihm enttäuscht sei und ihn bestrafen wolle, indem sie ihn der Vergewaltigung beschuldige. Er habe doch keine Zeugen gehabt, dass der Geschlechtsverkehr im Auto und im Wald einvernehmlich erfolgt sei, oder? Und noch etwas, er solle nicht glauben, dass dieser Zustand der verrückten Verliebtheit, der unendlichen Bereitschaft zu ficken, bei beiden anhalten würde. Der würde rasch vergehen, rascher als ihm vielleicht lieb sei. Er sei hergekommen, um seine Leiden zu behandeln und nicht, um fortan als Supermacho durch das Leben zu gehen. Die Leiden sei er los, vorerst jedenfalls, da könne er sich sicher sein, wenn er auch keine Garantie abgeben könne, dass sie nicht doch wieder kämen, schließlich sei das normal bei zunehmendem Alter, aber wenn er diese junge Braut am Hals habe, würde er sie nur schwer wieder los werden, also solle er sich auf keinen Fall weiter mit ihr einlassen. Er dachte über die eindringlichen Worte des Heilers nach und es war, als bekäme er lauter Stiche in seine Brust, weil er diesr junge Frau verraten sollte, die an ihn glaubte, die ihn brauchte, die ihn so geliebt hatte, wie noch nie zuvor eine andere in dieser Welt und nach der er immer noch verrückt war. Aber dann folgte er doch seinem Rat, räumte sein Zimmer, bezahlte die Rechnung, verabschiedet sich auch von der Frau mit der dünnen Stimme und kehrte, beschwingt und enttäuscht zugleich, in sein normales Leben zurück. Er hatte eine grandiose Erfahrung gemacht, hatte etwas einmaliges erlebt, sein Leben war reicher und besser geworden, denn tatsächlich waren all die Plagen verschwunden, die er zuvor erlitten hatte, zum größten Teil jedenfalls und ohne Garantie, aber was soll's. Maria Trost hatte ihn in der Tat mehr als getröstet. Was mit der kleinen Bedienung geschah, erfuhr er nie, er versuchte es auch gar nicht. Und noch etwas muss an dieser Stelle gesagt werden. Einen solchen Tag des Exzesses, gab es natürlich nie mehr in seinem Leben und die geheimnisvolle Kraft, die ihn kurzzeitig zu einem Verführer par excellence gemacht hatte, verlor sich rasch wieder, genau, wie es der Heiler prophezeit hatte. Er wirkte auf Frauen so, wie in all den Jahren zuvor, wie ein durchaus stattlicher, ansehnlicher Mann, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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