Mein Nächtebuch

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Mein Nächtebuch

Mein Nächtebuch

Philipp Sonntag

Kommissar Pronto schaute im Labor nachdenklich auf eine Leiche, die mehrere Wochen im Teltowkanal gelegen hatte: Die Striemen am Gesäß waren keine Todesursache, obwohl, da musste jemand eine starke Absicht gehabt haben. Mehrere Piercings waren am Hodensack auffallend tief in die Haut gesetzt. Auf einem Stuhl zusammengeknüllt lag die schlammverschmierte schwarze Lederkluft, arg verschlissen und mit Algen bedeckt. Eine Fahrkarte aus der Hosentasche des Opfers war entwertet worden, am: „7. 5. 2032“.
Prontos von Falten zerfurchtes Gesicht schien noch düsterer zu werden, als er den Laborbericht las: Im Magen- und Darminhalt waren Haare von verschiedenen Menschen, noch dazu Haare von einer dunkelbraunen Bulldogge und einer rothaarigen Promenadenmischung. Pronto erinnerte sich, als er damals zur Jahrtausendwende seinen Job begann, da waren Todesfälle mit solchen Indizien eher selten. Zwar wurden – damals noch „peinliche“ – Details meist mit Sorgfalt geheim gehalten, aber als Insider kannte er die Berichte.
Auf der Liste der vermissten Personen passenden Alters stand nur ein Name, Harald Moosheimer, wohnhaft in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung in der Nollendorfstraße in Berlin-Schöneberg. Pronto holte sich den Schlüssel von der Hausverwaltung, schloss die Wohnungstür auf – und wurde lebhaft begrüßt von einer dunkelbraunen Bulldogge, einem kräftigen Rüden, der war allein in der Wohnung, schien aber gut versorgt zu sein; auffallend waren einige Schnittwunden im Fell.
Alle Lichtschalter zusammen ergaben nur eine düstere Beleuchtung und auch der Blick auf den schwer zugänglichen kleinen Hinterhof war düster. Wenn man steil an den engen Wänden nach oben schaute, war ein kleiner Ausschnitt mit Wolken und einer Baumkrone zu sehen.
Sauber gepflegt waren die abwaschbaren Matratzenlager, ebenso in beiden Zimmern verstreut schwarze T-Shirts und abgenutzte Lederkleidung. In einer offenen Kommodenschublade lagen alte Spritzen und kleine Plastiktütchen mit Pulver.
Pronto schnüffelte, wollte gerade „Kokain“ notieren, als von der Wohnungstür ein schleifendes, leises Geräusch kam. Pronto war im Nu dort, hatte die Hand am Abzug seines Revolvers und stellte sich hinter die Tür. Er nahm einen Mann in den 50ern in Empfang: „Halt, Polizei, wer sind Sie. Was wollen Sie hier?“
„Das wollte ich Sie gerade fragen, ich bin der Nachbar, Willi Piontek“.
Willi hatte eine sanfte Stimme, war sichtlich erschrocken, hatte einen seidigen, dunkelroten leicht golden glänzenden Anzug an und verströmte einen schweren Duft; Pronto rätselte ob das wohl Ambra war, ein Hauch von Moschus dabei? Er steckte den Revolver weg.
„Pronto, Kriminalkommissar“, er hielt Willi seinen Ausweis vor die Nase. Die Dogge begrüßte auch Willi freudig. Willi wich etwas zurück: „Ja, ist ja gut Wolfo“, lass’ gut sein,“ und sich Pronto zuwendend, „was ist mit Harald, ich meine, mit Herrn Moosheimer?“
Pronto behielt Willi fest im Auge: „Seine Leiche wurde gestern gefunden ...“, er hielt inne, als er sah wie Willi blass wurde, sich langsam auf einen Stuhl sinken ließ, sich an der Tischkante festhielt.
Pronto wartete einen Moment, fragte dann behutsam, aber bestimmt: „Waren Sie befreundet?“
„Ja, schon, ich meine so als Nachbarn und manchmal auch mehr – mehr mal so gelegentlich.“
„Sie hatten doch die Vermisstenanzeige aufgegeben, am 8. Mai.“
„“Ich, ja, wieso, ich meine woher, wie kommen Sie darauf, das war doch ...“
„Anonym, Sie wissen es – warum eigentlich?“
„Jetzt haben Sie mich, ach, na ja, Harald sagte immer, er will nichts mit der Polizei zu tun haben, und ich fürchte mich auch vor, na ja, Schwierigkeiten, ich meine nur so ...“.
„Verstehe, wie lange hatten Sie mit der Anzeige gewartet?“
„Gar nicht, gleich am nächsten Tag, am 6. Mai – nachdem sein Hund ganz allein und mit blutenden Wunden zurück gekommen war.“
„Das hätte uns ja damals durchaus interessiert. War Herr Moosheimer in der Sado-Maso-Szene zuhause?“
Willi bestätigte sofort, er war sichtlich verlegen und verunsichert. Wolfo begann zu jaulen, unruhig hin und her zu laufen. Willi war überrascht: Pronto ließ ihn mit Wolfo nicht gleich hinaus, rief erst Kollegen, die kurz danach da waren. „Wir müssen auch Ihre Wohnung untersuchen“, erklärte Pronto, als er Harald den Wohnungsschlüssel abnahm, „Sie sind doch einverstanden?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Kleinlaut verließ Willi mit Wolfo die Wohnung.

Harald hatte Telefongespräche auf einem Tonbandgerät aufgenommen. Pronto hörte sich einige Gespräche an, dann war klar, Harald war immer der mit der rauen Stimme, er nannte sich ‚Filou’, so auch in der allerletzten Aufzeichnung:
„Filou.“
„Ah ja gut, deine Anzeige war im Zitty, könnte zu uns passen.“
„Wer seid Ihr denn?“
„Kleine Sex-Gruppe, nahe Berlin, Hi-Life meist am Wochenende. Was muss man denn so anlegen?“
„Für eine kleine Gruppe zum Einstieg und vorab 50 pro Person, das ist mit oral zur Begrüßung für jede und jeden; bei Vierern ist es ab 400, bei nur Massage wäre es 200, alles safe, hygienisch, ich lege Wert auf ruhige, entspannte Atmosphäre.“
„Sowieso, und – bei 400 nimmst Du den Mund richtig voll?“
„Schon, ey – aber keine Fotos!“
„Nee nee – aber, sind deine Kunden zufrieden?“
„Total, so was ist Berlin, nirgends sonst. Wo seid ihr denn?“
„Richtung Polen, über Straussberg raus. Holen Dich am S-Bahnhof ab, ich hab `nen giftgrünen Hut auf. Freitag 19 Uhr ok?“
„Schon ok.“
„Also gut, bis dann.“

Mit aufgezeichnet waren der fünfte Mai 2032 und eine Handynummer. Die Rückfrage bei den Kollegen ergab: Geklautes Handy, abgemeldet, keine ergiebige Spur. Pronto widmete sich wieder den Schriften, nach ein paar Minuten ließ er sich in einen Sessel fallen.
„Mein Nächtebuch“, sagte Pronto vor sich hin, so stand es vorne auf dem dicken Kalender, jeder Tag eine Seite. Die Eintragungen hörten am siebten Mai auf. Am dritten Februar war eine Anzeige eingeklebt:

Massagen und mehr für genüssliche Zwei- und VierbeinerInnen, mit Finger- und Zungenspitzengefühl, auch gerne für kleine Gruppen, nur safe, hygienisch und diskret, Anfragen mit Tel bei filou@yahoo.de

Pronto war nachdenklich: Das gab es doch nur in Berlin, na ja, auch in Berlin erst nachdem die Gentechnik das Problem mit AIDS und den sonstigen Krankheiten gelöst hatte, vor etwa fünf Jahren. Da gab es diese globale Laszivitätswelle, man konnte sich ja kaum noch anstecken. Die Bordelle waren kaputt – oder krass. Dort und in halb-privaten Sex-Clubs konnte man Phantasien austoben, die wenige Jahre vorher noch als extrem galten. Wohl deshalb ging Harald ins Risiko. Ach ja, deshalb stand im Badezimmer diese Plastikflasche mit der berüchtigten Hunde-Lotion „Swoosh!“, die jeden Hund so sex-verrückt macht, auch den Familienhund, dass er auf jeden und jede losgeht. Bereits vor 2030 war das in Sex-Clubs der Hit, weil da die Ansteckungsgefahren bei Hunden schon überwunden waren.
Pronto untersuchte die e-mails an filou@yahoo.de, das Letzte stammte aus einer großen öffentlichen Computerspielbude „PC-HACK“, Absender nuovo@yahoo.de, damals gerade erst dort eingerichtet.

Am nächsten Tag sah sich Pronto PC-HACK an, lauter Kids, auf Spiele ausgeflippt, harmlos.
Pronto übte nun starken Druck auf Willi aus: „Sie wissen, welche Drogen wir bei Ihnen gefunden haben, Sie sind der Hauptverdächtige!“ Er ließ Willi den Toten identifizieren. Willi fühlte sich elend, hilflos, seine weinerlichen Unschuldsbeteuerungen schienen Pronto völlig kalt zu lassen: „Dann helfen Sie doch mit, den Fall aufzuklären – tun Sie es für Harald, wenn Sie schon mit ihm befreundet waren.“

Als Willi später in Haralds Wohnung aufräumen durfte, probierte er dessen schwarze Lederkluft an, dazu eine wilde japanische Perücke, nahm eine Peitsche mit silberner Kette am hübschen roten Griff in die Hand. Er schüttelte den Kopf, als er sich in dem martialischen Outfit im Spiegel sah – doch dann hatte er eine Idee. Mit einer vagen Hoffnung ging Willi zunächst in die Sex-Clubs in Schöneberg. Er nannte sich „Der Halbzarte“. Dort standen die meisten Männer mehr auf Maso als auf Sado. Willi war bald dafür bekannt, seine Peitsche ohne Verletzungen zu gebrauchen, mit geradezu zärtlichem Einfühlungsvermögen fand er für jeden die passende Dosis Schmerz.
Er ließ niemand an sich ran. Um so mehr wurde seine Marotte bewundert, mit den Lippen und Zähnen bei Frauen und Männern ein paar Schamhaare „sanft“ auszureißen – er musste da zu Hause eine tolle Sammlung haben – die hatte er, und eines Tages wurde einer der Typen völlig überraschend verhaftet, es war Mancho, ein Brutalo.
Manchos Haare wie auch die seines rothaarigen Hundes entsprachen bei der genetischen Untersuchung genau denen aus dem Magen des Opfers. Mancho war als aufbrausend und gewaltbereit aktenkundig, aber niemals einer Straftat überführt worden. Wolfo erkannte ihn sofort aus einer großen Testgruppe heraus.
Manchos Aussage: „Es gab Streit, als der Kerl am Ende mit mir allein war und 700 Euro verlangte. Die 700 hat er bekommen, aber dafür wollte ich eine Zugabe: Ich habe ihn gefesselt, es ist aus dem Ruder gelaufen, sein Herz flippte aus, leider konnte ich damals keine erste Hilfe, dabei wäre die so einfach gewesen. Ich meine es war halt ein Unfall. Ich war in Panik, als ich ihn im Teltowkanal versenkte.“ Mancho erfuhr nie, wie „die Polizei“ auf seine Spur gekommen war.

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