Du hättest sie für ein älteres Ehepaar halten können. Und für Städtetouristen. Sie sahen zwar nicht aus wie die Sorte Fotoapparat zu Shorts, auch nicht wie Prada&Gucci-Shopper. Du hättest einfach gespürt, dass sie nicht von hier waren, dass ihr Gepäck irgendwo in der Stadt darauf wartete, verfrachtet zu werden. Sie waren keine Touristen. Und sie waren kein Ehepaar. Niemand beachtete Paula und Robert, als sie in einem ruhigen Seitenarm der Innenstadt ein Altwiener Wirtshaus betraten. Niemand außer ihnen maß den Stunden, die sie hier verbringen würden irgendeine Bedeutung zu. Niemand außer ihnen wusste, dass sie das Wirtshaus betraten, wissend, unheimlich scharf aufeinander zu sein, jedoch ohne Gelegenheit es ausleben zu können. Paula hatte für Robert eine Rose mitgebracht, es war sein Geburtstag. Bei 50 hatte er aufgehört zu zählen. Paula wusste, dass er die Rose nicht mit sich nehmen konnte. Es war eine cremefarbene Rose. Robert half Paula aus dem Mantel, sie nahmen in der letzten Ecke des Hinterzimmers Platz. Paula ein wenig atemlos und mit leicht geröteten Wangen. Den letzten Häuserblock war sie gelaufen, in der Angst, ihn vor dem Lokal zu versäumen. Daran war auch die Rose schuld. Wenn eine aufmerksame Frau ihr nicht hinterher gerufen hätte, wäre Paula ohne die Rose, nur mit dem leeren Papier angekommen. Als die Rose nämlich erfahren hatte, dass sie Robert nur im Lokal erfreuen würde und dann an eine x-beliebige Passantin verschenkt werden sollte, war sie Paula unbemerkt aus der Hand geglitten und kopfüber auf den Asphalt gestürzt, in der Hoffnung sich das Genick zu brechen. Trotzig wäre sie dann mit geknicktem Kopf in der billigen Vase vor ihnen gestanden. Aber davon wussten weder Paula noch Robert etwas. (Nur du und ich wissen es jetzt.) Beim Sturz hatte sich die Rose nur zwei Stacheln geknickt, an denen sich Paula gestochen hatte, während sie die Lebensmüde hastig ins Papier wickelte. Dort blieb sie zu deren völliger Überraschung auch vorläufig. Robert hatte an ihr gerochen, war ihr sanft über die Blütenblätter gefahren wie er später Paulas Brust berühren würde und hatte darauf bestanden, sie nicht dem Blick der anderen Gäste ausgesetzt zu wissen. Das schmeichelte der Rose wiederum. Sie verströmte wohlwollend ihren Duft zu Paula und Robert. Ohne großen Hunger bestellten die beiden, der Hunger den sie verspürten war unstillbar. Kennst du ihn? Einen wohlbekannten. Einen ständigen Begleiter, solange du einander entbehrst... Die wenigen Momente, die sie miteinander verbringen konnten, ein Mal im Jahr, manchmal noch weniger, machten nie satt. Waren grausam. Ließen sie nicht verhungern, hielten sie gerade am Überleben. Und heute war das Mahl sogar angerichtet. Lockte, duftete... versprach eine Ahnung vom Geschmack ... süß. Und bitter. Vom Geruch ... Vom Rausch ... den der herbe Vorstadtwein zu späterer Stunde in ihren Köpfen verschleiern würde wie ein Weinpanscher. Es gab keine Aufwärmphase, kein betretenes Schweigen. Es gab nur die beiden. Pur. Paula und Robert unterhielten sich über Gott und die Welt. Sie drangen immer tiefer in Bereiche, die sie sonst - mangels Zeit - nie angesprochen hatten. Entdeckten, dass sie trotz zwanzig Jahren in verschiedenen Welten überraschend viel Gleichklang verspürten. Paula gestand sich ein, die gemeinsamen Wellenlängen bisher in ihrem Körper angesiedelt zu haben. Robert war noch immer ein Mann, der eine Sünde versprach. Und sie erfüllen konnte. Ein paar Klänge aus dem Radio - Paula starrte ungläubig auf den Lautsprecher. An Roberts Grinsen erkannte sie, dass er dasselbe dachte wie sie. Ein click! in ihrem Kopf: Sie lag auf seinem Junggesellen-Küchentisch und dann hatten sie das erste Mal leidenschaftlichen Sex. Damals... weißt du noch? Die Zeit verging, obwohl nicht mehr wahrnehmbar vergänglich, der Raum ausgeblendet, die anderen Touristen irgendwann weg... nur sie beide. Ohne Zeit oder Raum ohne Familien oder Jobs ohne gestern oder morgen ohne Hoffnung oder Sorgen. Er und sie. Pur. Irgendwann zündete Paula statt der Zigarette die Kerze auf dem Tisch an und entkleidete die Rose. Dann fragte sie Robert, was anschließend mit ihr zu tun sei. Mit ihr, der Besonderen, die diesem zauberhaften Nachmittag beigewohnt hatte. Paula wollte sie an irgendeine Passantin auf der Straße schenken, die ihnen unwissend über den Weg laufen würde, wenn er sie zum Taxistand begleitete. Doch Robert protestierte sofort. Paula solle sie mitnehmen, in ihre Galerie. Die Rose würde an seiner Stelle bei ihr sein, er wäre in Gedanken bei ihr, unsichtbar unter dem Publikum der Vernissage. Er würde sie bewundern, sie begehren, im Stillen, im Verborgenen und sie würde ihn spüren. Und wie sie ihn spüren würde! Lag es am Wein oder der ständigen Verdichtung dieser Atmosphäre, dass sich ihre Wahrnehmung mehr und mehr reduzierte? Was das "außen" anging. Knie an Knie - so saßen sie von Anfang an. Aber irgendwann beginnst du, das Knie als Verbindung wahrzunehmen. Irgendwann stellt diese zwanglose Berührung den Kontakt zum andern her, irgendwann hast du das Gefühl, es beginnt eine langsame körperliche Verschmelzung, nur durch diesen einen Kontaktpunkt... Irgendwann nahm Robert Paulas Hand und legte sie völlig unvermittelt auf seinen Schwanz - was Paula einen Augenblick lang aus dem Konzept brachte - doch es war eine Form der Dreistigkeit, die sie an ihm liebte. Er mochte ihre schüchterne Reaktion darauf, das Aufreißen ihrer Augen, das Flackern darin, das flüchtige Erröten. Gerade solange befühlte sie seine Erektion unter dem Stoff, wie es der Anstand nicht gebot. Irgendwann erwärmte sich Paulas Hand in seiner Hand, die er an seine Wange führte, an seinen Mund. Seine Zunge berührte flüchtig ihre Fingerspitzen. Die ganze Zeit über sahen sie sich dabei in die Augen. Nichts anderes stand darin zu lesen als Komm, lass uns ficken, Baby! Irgendwann lösten sie diese sehr intime Verstrickung wieder, lehnten sich zurück, sprachen ein bisschen darüber, wie ihr Abend verlaufen wäre, wenn... oder wie ihr Abend nun verlaufen würde. Wieder ließ Robert seine Hand unvermittelt über Paulas Arm, dann über ihre Brust gleiten... muss ich dir erklären, wie das ihre schon vorhandene Erregung steigerte? Robert nahm Paulas Hand wieder fest in seine, sie küssten einander - ganz zart - flüsterten einander Mund an Mund zu, was sie jetzt alles miteinander anstellen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten... so knapp davor und doch unerreichbar. Trotzdem hättest du gespürt, dass ein intensiver Austausch stattfand, beinahe unbeschreiblich. Orgasmen der Seele. Intensiver als so manches reale Erlebnis. Eingebrannt ins Bewusstsein. Eine neue Dimension, eine neue Qualität ihrer Beziehung - aus einer überraschenden Entsagung heraus entstanden. Und die Rose, fragst du? Sie blühte gegen jede biologische Vernunft drei Wochen lang in Paulas Galerie. Wenn Paula sie berührte oder an die Wange hielt, spürte sie Robert. Ihm dieses Phänomen erzählend, meinte Robert, es sei ein Beweis ihrer Liebe, die nie vergeht. Doch auch dieses Mal machten sie die Rechnung ohne die eigenwillige Rose. Als sie dann doch zu welken begann, beschloss Paula zuerst, sie zu trocknen. Aber das tat ihr in der Seele weh und so übergab sie die Rose feierlich dem Feuer. Es sollte Paula eine wesentlich energetischere Erinnerung hinterlassen als Komposterde.
Menage à trois
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