Michelle & Michael

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Michelle & Michael

Michelle & Michael

Jürgen Lill

Ich sah sie an wie ein Gespenst und sie fuhr sichtlich verunsichert fort: „Entschuldige bitte! Ich wollte nicht indiskret sein. Mich verwirrt das genauso wie Dich.“
„Michael!“ sagte ich. Aber sie konnte dem Gedankensprung nicht folgen und fragte: “Bitte?“
„Mein Name: Ich heiße Michael. Michael Winter.“
Jetzt war es Michelle, die mich wie ein Gespenst ansah als sie antwortete: „Danke für mein Leben, Michael Winter. Mein Name ist Hiver, Michelle Hiver!“
Zufall oder Schicksal? dachte ich. Hiver ist französisch und bedeutet nichts anderes als Winter. Ich schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken an ein mögliches, vorbestimmtes Schicksal abzuschütteln. Aber Michelle fragte mit einem leichten Vorwurf in der Stimme: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass das nur Zufall ist, oder!?“
Ich wollte irgendetwas erwidern. Aber da wurde mir bewusst, dass diese Frau in meiner Wanne schon wieder meine Gedanken erraten oder gelesen hatte. Und wie um mich zu ärgern sagte sie als Antwort auf diesen Gedankengang: „Es tut mir leid. Ich kann wirklich nichts dafür!“
„Beeilen … Beeil Dich bitte“, sagte ich verlegen, um auf ein anderes Thema zu kommen. „Ich möchte auch noch baden.“
Damit wandte ich mich zur Tür. Aber Michelle rief mir hinterher: „Warte Michael! Möchtest Du mit mir baden?“
Ich drehte mich wieder zu ihr um. „Das hatten wir doch heute schon.“
„Ja“, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln. „Aber jetzt ist das Wasser warm!“
Nachdenklich ging ich zur Wanne, kniete mich davor auf den Boden und sah Michelle forschend in die großen, blauen Augen. Michelle erwiderte meinen Blick erwartungsvoll. Und schließlich sagte ich schweren Herzens: „Du hast viel durchgemacht, Michelle. Ich möchte die Situation nicht ausnutzen.“
In Wahrheit hätte ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als zu Michelle in die Wanne zu steigen, ihren geschmeidigen Körper an mich gelehnt zu spüren und ihn mit meinen Händen zärtlich tastend zu erforschen.
Ich gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze, drückte ihr die Tasse mit Glühwein in die Hand und wandte mich innerlich aufgewühlt wieder ab.
„Danke Michael!“ hörte ich sie hinter mir flüstern, als ich das Bad verließ. Ich drehte mich nicht mehr um, denn aus irgendeinem mir nicht begreiflichen Grund schossen mir plötzlich Tränen in die Augen. Ich ging in die Küche, setzte mich auf den Tisch und trank auch einen heißen Glühwein, während ich ein paar mal tief durchatmete. Was war nur mit mir los? Was war überhaupt heute los?
Normalerweise führe ich ein sehr zurückgezogenes Leben, schreibe Kolumnen für eine lokale Zeitung und arbeite als Zeichner für einen Comicverlag. Mein Leben verläuft mehr in der Fantasie meiner gezeichneten Helden, als im realen Leben.
Heute hatte ich einem Mädchen das Leben gerettet, das zufällig den gleichen Namen trug wie ich, einen Zuhälter bewusstlos geschlagen, ihm eine Pistole und Geld abgenommen und ihn vor die Tür gesetzt. Dann hatte das Mädchen meine Gedanken gelesen und mich eingeladen, mit ihr zu baden. Und das konnte ich einfach nicht!
Alles war heute anders. Ich war noch nie ein Held und werde wohl auch nie einer sein. Meine letzte Beziehung lag Jahre zurück und weil ich nicht der Mensch bin, der leicht Kontakte knüpft, investierte ich ab und zu ein paar Euro in das zweifelhafte Vergnügen mit einer Dame in der Herbertstraße.
Und jetzt saß dieses Mädchen in meiner Badewanne; dieses Mädchen, das sich genauso in meine Gedanken eingeklinkt hatte, wie es meine Gedanken ausfüllte.
„Störe ich?“ hörte ich plötzlich ihre sanfte Stimme neben mir und fuhr zusammen. Ich hatte sie nicht kommen hören.
„Du hast geträumt“ fuhr sie, in mein Badetuch gewickelt, fort. „Aber das ist ganz normal. Auch für mich war heute ein nicht alltäglicher Tag. Immerhin wollte ich heute sterben.“
„Wie geht es Dir jetzt?“ fragte ich. Vor ihrem letzten Satz wollte ich sie eigentlich fragen, ob sie schon wieder anfängt, meine Gedanken zu lesen. Aber nach diesem Satz war nur noch wichtig, wie es ihr ging.
„Danke“ antwortete sie. „Besser. Das Bad ist jetzt frei.“
Ich nickte nur, verwirrt darüber, keinen klaren Gedanken fassen zu können und stotterte: „Danke. Du kannst es Dir im Wohnzimmer gemütlich machen, solange ich im Bad bin.“
Damit schob ich mich an ihr vorbei durch die Küchentür, sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Und sie machte mir verlegen Platz.
Michelle hatte ihr Wasser in der Wanne gelassen. Und das störte mich auch nicht. Es war noch warm und vermittelte mir auf irgendeine, mir unerklärliche Weise das Gefühl, Michelle zu berühren, die Wärme ihres Körpers zu spüren und sie zu berühren. Ich hatte sie heute schon berührt, hatte sie und ihren nackten Körper mit meinem Leben verteidigt, aber ich hatte es nicht wahrnehmen, nicht bewusst spüren, geschweige denn genießen können. Und jetzt saß ich in der Wanne und sehnte mich nach ihrer Berührung, vor der ich mich auf der anderen Seite so sehr scheute, weil ich selbst ihren Schmerz, ihre grenzenlose Enttäuschung von den Menschen, oder um genau zu sein, von Benno, und ihre Verzweiflung, die Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, die sie den Entschluss hatten fassen lassen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, fühlen konnte. Sie selbst hatte mir angeboten, mich zu ihr in die Wanne zu setzen. Aber was musste sie alles durchgemacht haben, um sterben zu wollen. Und was konnte die Berührung eines, … wie soll ich sagen? Eines lüsternen Mannes, der sie gerne nackt in seinen Armen gehalten und ihre Haut auf seiner gespürt hätte … Was hätte diese Berührung bei ihr hervorrufen können außer Ekel und Abscheu?
Ich schämte mich, ein Mann zu sein, weil ich trotz allem, was sie durchgemacht hatte, lüsterne Gedanken und daraus resultierend eine Erektion hatte.
Die physischen und psychischen Anstrengungen des Tages hatten mich ermüdet und so ließen die wohlige Wärme des Wassers und die Wirkung des Glühweins meine Gedanken langsam in Träume übergehen. Es war Michelles Hand, die mich aus meinem Schlummer wieder weckte.
„Michael, wach auf“, sagte sie, während sie mich zaghaft an der Schulter berührte.
Ich schlug die Augen auf und musste mich erst einmal eine Sekunde lang sammeln, bevor ich Michelles Anwesenheit in meinem Badezimmer nachvollziehen konnte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, sprach Michelle, die so wie ich vorher neben der Wanne auf dem Boden kniete, weiter.
„Ich hab mir Sorgen gemacht“, sagte sie, „weil Du so lange weggeblieben bist.“
„Ich bin wohl eingedöst“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Michelle lächelte mich an und nickte bestätigend. Fasziniert sah ich ihr in die Augen. Niemals zuvor hatte ich in einem Lächeln so viel Zärtlichkeit gesehen, Zärtlichkeit und … Nein!? Liebe konnte das nicht sein. Es gab keine Basis, auf Grund derer Michelle mich hätte lieben können. Dankbarkeit hätte es sein können. Aber ihre Augen und ihr Lächeln sagten etwas anderes oder zumindest fühlte es sich für mich so an.
„Warum siehst Du mich so an?“ fragte ich verwirrt. Und Michelle antwortete, wie zum Trotz auf das Chaos meiner Gedanken und Gefühle: „Nicht aus Dankbarkeit!“
Ich wollte zornig werden, weil sie schon wieder meine Gedanken zu kennen schien, konnte es aber nicht und Michelle versuchte mich mit der Frage zu beruhigen: „Warum traust Du Deinen Augen und Deinem Herzen nicht?“
Die Frage war leicht zu beantworten und so antwortete ich auch ohne zu zögern: „Weil beides so leicht zu täuschen ist.“
Michelle nickte.
„Ja, das ist wahr!“ sagte sie und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und machte einer tiefen Traurigkeit Platz.
„Es tut mir leid“, sagte ich. „Ich wollte Dich nicht traurig machen.“
„Ich bin nicht traurig“, erwiderte Michelle und versuchte wieder zu lächeln. Dann erhob sie sich. Sie war noch immer nur in mein Badetuch gehüllt. Ich bemerkte, dass es beim Aufstehen ins Rutschen geriet. Fast wäre es über ihre Brüste hinuntergeglitten. Aber während ich noch gebannt auf diesen Anblick wartete, klemmte sie das Tuch reflexartig unter ihren Armen fest und zog es wieder hoch. Beschämt über meine Erwartung des Anblicks ihrer nackten Brüste wendete ich mich jetzt, wo es eigentlich keinen Grund mehr dafür gab, ab. So leicht verrät man sich und seine Gedanken.
„Ich weiß, dass Du mich gerne ansehen würdest“, sagte Michelle. Und obwohl sie weiter lächelte, schwang doch etwas Traurigkeit in ihrer Stimme mit.
Auch ich versuchte zu lächeln, während ich möglichst unbefangen klingen wollte, als ich erwiderte: „Ich sehe Dich doch an!“
„Nackt!“ Michelle sagte nur dieses eine Wort. Und natürlich hatte sie Recht damit. Natürlich hätte ich sie gerne nackt gesehen und noch viel mehr. Aber ich wusste mit der Situation einfach nicht umzugehen und wollte sie nicht ausnutzen. Deshalb sagte ich leichthin, und glaubte mir dabei selbst, dass es nichts persönliches zwischen uns beiden war: „Jeder Mann würde Dich nackt sehen wollen!“
„Dein Wasser ist schon kalt“, wechselte Michelle das Thema. Dann wendete sie sich wieder der Tür zu und fragte mich beim Hinausgehen: „Leistest Du mir noch ein wenig Gesellschaft im Wohnzimmer?“
„Ich komme gleich“ antwortete ich. Erst jetzt spürte ich, dass das Wasser wirklich schon kalt geworden war und begann zu frösteln. Als Michelle das Badezimmer verlassen hatte, brauste ich mich noch schnell heiß ab und stieg dann aus der Wanne. Michelle hatte mein einziges Badetuch. Also musste ich mich mit einem kleinen Handtuch abtrocknen. Dann zog ich mir wieder meinen Bademantel an und begab mich zu Michelle ins Wohnzimmer. Sie hatte mir eine frische Tasse Glühwein eingeschenkt und erwartete mich in eine Decke gekuschelt auf dem Sofa. Ich setzte mich ihr gegenüber auf den Sessel und sah sie ebenso neugierig wie fasziniert an. Ich wollte irgendetwas sagen. Doch mir fiel absolut nichts ein, was ich hätte sagen können, und so schwieg ich und hoffte, dass Michelle ein Gespräch beginnen würde. Aber auch sie schwieg und ihre Augen waren ebenso forschend auf mich gerichtet, wie meine auf sie.
„Hast Du Hunger?“ fragte ich nach einigen Minuten, als ich das Gefühl bekam, dass das Schweigen langsam unangenehm wurde. Michelle nickte und antwortete: „Wie ein Wolf. Ich habe seit gestern früh nichts mehr gegessen.“
Sofort sprang ich auf und fragte mit leichtem Vorwurf in meiner Stimme: „Warum sagst Du denn nichts?“
Ich wartete aber gar nicht auf eine Antwort, sondern lief sofort in die Küche und riss den Kühlschrank auf. Eine gähnende Leere tat sich vor mir auf.
„Du hast schon so viel für mich getan“, hörte ich Michelles Stimme hinter mir. „Ich möchte Dich nicht ausnutzen.“
„Das hat doch nichts mit Ausnützen zu tun“, erwiderte ich, während ich die Kühlschranktür wieder schloss und überlegte, wo ich noch etwas zu Essen haben könnte. Dann kam mir die rettende Idee und ich fragte Michelle: „Magst Du Pizza?“
„Ja, gerne“, antwortete sie.
Ich überlegte, wo ich den Prospekt vom Pizzaservice aufbewahrte. Aber Ordnung war noch nie eine meiner Stärken gewesen. Ich fand weder den Prospekt, noch die Telefonnummer, was mir ziemlich peinlich war, da Michelle mir bei meiner Suche zusah. Also entschloss ich mich, schnell zu dem Laden zu fahren und zwei Pizzen zu holen.
„Welche Sorte magst Du denn?“ fragte ich Michelle aus dem Schlafzimmer, während ich mich ankleidete.
„Irgendwas Billiges!“ antwortete Michelle von vor der Tür.
„Quatsch!“ erwiderte ich darauf. „Du musst was essen.“
Und ich fragte weiter: „Was schmeckt Dir denn?“
„Was gibt es denn?“ fragte Michelle zurück.
Ich hatte keine Ahnung.
„Kann ich nicht einfach mitkommen?“ fragte Michelle, da ich keine große Hilfe war.
„Klar“, antwortete ich, nur um das sofort wieder zu widerrufen. Fertig angezogen kam ich aus dem Schlafzimmer und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Du hast ja nichts zum Anziehen.“
„Oh!“ machte Michelle. Auch sie hatte nicht mehr daran gedacht, dass ihr Mantel gestohlen worden war. Und plötzlich bat sie mich: „Dann geh Du bitte auch nicht, Michael. Lass mich jetzt bitte nicht allein.“
„Du musst was essen!“ beharrte ich aber und erklärte: „Ich bin auch gar nicht lang weg. Der Laden ist gleich um die Ecke.“
Ich wendete mich wieder der Tür zu. Aber Michelle hielt mich am Arm zurück und bei dieser Bewegung fiel das Badetuch dann doch zu Boden. Michelle schien es nicht zu bemerken. Sie flehte mich nur an: „Bitte geh nicht!“
Ich musste schlucken beim Anblick ihres nackten Körpers. Sie war die absolute, hundertprozentige Weiblichkeit mit einem perfekten Körper; schlank und sportlich, zierlich und kraftvoll. Sie atmete schwer, während sie meinen Arm noch festhielt. Ihre Brüste waren groß und voll aber die Schwerkraft hatte keine Macht über sie. Kleine, harte Brustwarzen krönten diese Wunderwerke der Natur. Kein Chirurg wäre jemals in der Lage, so perfekte Formen zu schaffen, dachte ich mir, während ich vergeblich darum kämpfte, meinen Blick von ihnen abzuwenden und meine Fassung zurückzugewinnen. Schließlich befreite ich mich dadurch, dass ich meine Augen schloss und mit geschlossenen Augen mein Gesicht von Michelle abwandte.
„Bitte lass mich los!“ bat ich mit zitternder Stimme. Michelle gehorchte nur zögernd. Aber als ich einen Schritt von ihr weg machte, kam sie sofort hinter mir her und klammerte sich wieder an meinen Arm.

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