Minus fünf: Es bleibt ihr nichts übrig, als sich in der Wohnung zu verschanzen, zu verschließen. Die Heizung aufzudrehen und abzuwarten.
Es ist eine Weile her, dass sie zuletzt in den Park gegangen ist, im Zwielicht meist. Das waren keine Ausflüge, sondern Reisen, Riesenreisen. Obwohl es nur acht Stationen mit der Straßenbahn sind, fühlte sie sich von zu Hause so weit weg, als hätte sie alle Spuren und Wurzeln ihres Lebens hinter sich verbrannt und wäre untergetaucht und abgetaucht in einer anderen Welt, kein Grund, sich umzublicken, denn da war ja nichts, nichts zu sehen aus der Ferne. Sie blickte sich ohnehin auf ihren Reisen niemals um.
Schnellen Schrittes war sie durch die symmetischen Wege der Karlsaue gehastet. Unter ihren Füßen kreischte der grobe Kies. Ein lautes, unangenehmes Lärmen, das einen schaudern machte und nur wegen des gleichförmigen Rhythmus überhaupt zu ertragen war. Im Herbst, also vor wenigen Wochen noch, war es in den Abendstunden meist neblig gewesen. In dichten grauen Schwaden war der Nebel langsam über den Boden gekrochen. Oft war es ihr vorgekommen, als wäre sie nicht allein dort. Das Kiesknirschen hallte wider, niemand hätte sagen können, ob jemand hinter ihr herlief oder ob nur das Echo ihr folgte. Sie hatte aufgehorcht, die Ohren gespitzt wie das Wild im Wald, das jeden Moment damit rechnen musste, von einer Kugel getroffen oder von einem Raubtier überwältigt zu werden. Sie hatte nicht beschleunigt und war nicht langsamer geworden. Von überall her schienen die Schritte zu kommen, synchron im Takt ihrer eigenen keifend. Im nebligen Schleier sahen die vielen Bäume aus wie Menschen und die wenigen Menschen wie Gespenster.
Am Ende kam sie bei der Orangerie heraus, es war dann bereits finster und niemand, niemand mehr außer ihr würde sich in der Aue befinden. Dem Planetenwanderweg folgend näherte sie sich dem fernen Treiben der Stadt. Sie kam dann an Pluto vorbei. Eine große, kalkweiße Statue, die im Dunklen aussah wie ein Alabastermensch. Und jedesmal kam ihr dann die Erinnerung an ihn, wie sie diesen Weg früher nach ihren Aufeinandertreffen mit ihm zusammen gelaufen war, und die Erinnerung an Ovids Verse: sie als Proserpina, er als Liebender, der nicht frevelt, wenn er sie den Strudel hinabzieht, nach unten, tief nach unten. Sondern nur aus Liebe handelt. Nur aus Liebe hinab in die Unterwelt, und ohne die Möglichkeit einer Rückkehr, warum denn auch zurück.
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