Minus Fünf

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Minus Fünf

Minus Fünf

Jana Volkmann

Minus fünf: Es bleibt ihr nichts übrig, als sich in der Wohnung zu verschanzen, zu verschließen. Die Heizung aufzudrehen und abzuwarten.

Es ist eine Weile her, dass sie zuletzt in den Park gegangen ist, im Zwielicht meist. Das waren keine Ausflüge, sondern Reisen, Riesenreisen. Obwohl es nur acht Stationen mit der Straßenbahn sind, fühlte sie sich von zu Hause so weit weg, als hätte sie alle Spuren und Wurzeln ihres Lebens hinter sich verbrannt und wäre untergetaucht und abgetaucht in einer anderen Welt, kein Grund, sich umzublicken, denn da war ja nichts, nichts zu sehen aus der Ferne. Sie blickte sich ohnehin auf ihren Reisen niemals um.

Schnellen Schrittes war sie durch die symmetischen Wege der Karlsaue gehastet. Unter ihren Füßen kreischte der grobe Kies. Ein lautes, unangenehmes Lärmen, das einen schaudern machte und nur wegen des gleichförmigen Rhythmus überhaupt zu ertragen war. Im Herbst, also vor wenigen Wochen noch, war es in den Abendstunden meist neblig gewesen. In dichten grauen Schwaden war der Nebel langsam über den Boden gekrochen. Oft war es ihr vorgekommen, als wäre sie nicht allein dort. Das Kiesknirschen hallte wider, niemand hätte sagen können, ob jemand hinter ihr herlief oder ob nur das Echo ihr folgte. Sie hatte aufgehorcht, die Ohren gespitzt wie das Wild im Wald, das jeden Moment damit rechnen musste, von einer Kugel getroffen oder von einem Raubtier überwältigt zu werden. Sie hatte nicht beschleunigt und war nicht langsamer geworden. Von überall her schienen die Schritte zu kommen, synchron im Takt ihrer eigenen keifend. Im nebligen Schleier sahen die vielen Bäume aus wie Menschen und die wenigen Menschen wie Gespenster.

Am Ende kam sie bei der Orangerie heraus, es war dann bereits finster und niemand, niemand mehr außer ihr würde sich in der Aue befinden. Dem Planetenwanderweg folgend näherte sie sich dem fernen Treiben der Stadt. Sie kam dann an Pluto vorbei. Eine große, kalkweiße Statue, die im Dunklen aussah wie ein Alabastermensch. Und jedesmal kam ihr dann die Erinnerung an ihn, wie sie diesen Weg früher nach ihren Aufeinandertreffen mit ihm zusammen gelaufen war, und die Erinnerung an Ovids Verse: sie als Proserpina, er als Liebender, der nicht frevelt, wenn er sie den Strudel hinabzieht, nach unten, tief nach unten. Sondern nur aus Liebe handelt. Nur aus Liebe hinab in die Unterwelt, und ohne die Möglichkeit einer Rückkehr, warum denn auch zurück.

Es waren keine Verabredungen gewesen und nichts zwischen ihnen war vereinbart, nichts abgesprochen. Sie sprachen ohnehin nicht sehr viel; sie trafen sich eben dort irgendwo im Park, abseits der Wege, und spielten, dass sie Raubtier waren und Beute, Jäger und Kitz, manchmal wäre er fast ein Mörder und sie das Opfer gewesen, wenn er sie so gepackt und zu Boden gedrückt hatte, dass ihr die Luft wegblieb, die großen Hände fest in ihr Haar gekrallt, keuchend und geifernd. Er zerrte ihren Rock hoch und zerriss ihre Strumpfhose, wenn sie eine trug, mit zittrigen, schmutzigen Fingern, die er danach in sie hineinschob und stieß und stocherte. Manchmal rammte er ihr seine spitzen Zähne in den Hals, so dass sie noch Tage danach ein Tuch oder eine Stola umlegen musste, um die blutigen Abdrücke zu verbergen, und sie jedes Mal, wenn sie den Kopf zur Seite neigte, den Rest des Bisses spürte. Oft lag sie mit dem Gesicht im feuchtkalten Gras, die Augen geschlossen, und der moosige Geruch des Bodens machte den Park, der bei Tag so von Menschen gemacht und von Menschen bewohnt aussah, zu einem alten Wald, von der Zeit vergessen. Es war oft so dunkel, dass ihr die Augen brannten, wenn sie danach und als Mensch wieder nach Hause zurückkehrte.

Er war zu den Nichtverabredungen irgendwann einfach nicht mehr gekommen. Vielleicht, dachte sie, hatte es ihm missfallen, dass sie sich nie wehren wollte und niemals schrie. Vielleicht mochte er auch nicht mehr Tier und beinah Mörder sein. Vielleicht mochte er sein Bild im Spiegel jetzt weniger oder er dachte öfter und stärker an sie, als er ertragen könnte. Aber er hätte genauso gut in seiner Wohnung oder auf Straße verunglückt sein können. Möglicherweise war er an einen Rollstuhl gefesselt und saß Tag und Nacht ruhelos am Fenster, um Ausschau nach ihr zu halten, oder er war tot.

Wenn sie dann allein an Pluto vorbeikam und ihr Herz rasend schlug, weil sie ja nicht wissen konnte, ob er ihr nicht doch wieder auflauern würde, kam es ihr vor, als würde sie in ihrem Innern zu leuchten beginnen: eine seidendünne Aura, ein Lichtkranz um sie herum, kaum merklich heller als das Nachtschwarz, das sie umschlang, und nur demjenigen sichtbar, der davon wusste und seine Augen in der Finsternis anstrengte, dessen Augen überhaupt die Finsternis gewohnt waren.

Nun ist es Winter und bald minus zwölf. Sie wird die Wohnung nicht verlassen und nicht machen können, dass es in ihr strahlt. Ein Irrlicht, oder ein Leuchtturm, das will sie ihm sein, ein lockendes Licht, ein Gleißen und vielleicht einmal ein ganzes Sonnensystem, in dem der eine starr um den andren kreist, so dass es nur helle Tage und schwarze Nächte gibt und dazwischen nichts.

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