Der „Mut zur Lücke“ nervte mich zum allerersten Mal, als ich mit sechzehn nach Zürich kam und dort ein Jahr in einer Privatschule absitzen musste.
Der „Mut zur Lücke“ wurde von meiner damaligen Mathematiklehrerin erbracht. Sie bewegte sich gazellenhaft, was wohl mit ihrer eindrücklichen Grösse zu tun hatte. Rita Wehrendt war nicht nur spindelschlank, sondern auch ca. 195 cm gross, so schätzten wir damals. Stets trug sie hoch geschlossene bunte Blusen und riesengrosse goldene Ohrringe; daran erinnere ich mich genau. Und, ja, knallenge Trikothosen, die ihren „Mut zur Lücke“ zeigten. Für die Jungs der Klasse 1 c war Rita Wehrendt Offenbarung. Wir befanden uns alle mitten in der Pubertät, aber für die Kerle war unsere Mathematiklehrerin und ihr „Mut zur Lücke“ DAS Highlight in öden Schulstunden.
Frau Wehrendts Hose war so eng, dass die Lücke zu sehen war, die Lücke, die entsteht, wenn Frau sich in zu enge Beinkleider zwängt und sie erst noch zwischen die Schamlippen hochzieht. In den Pausen spekulierten wir Mädchen aus der vordersten Reihe uns heiss, ob Frau Wehrendt sich absichtlich so anzog oder – falls nicht – ob wir sie nicht vielleicht mal, so ganz unter Frauen, aufmerksam machen sollten auf diese anatomische Peinlichkeit. Die Jungs verhielten sich unfair. Rita Wehrendt war, wie gesagt, von grosser Gestalt. Sie hatte schulterlanges blondes Haar, grosse braune Augen und eine markante Nase. Sie hatte entfernte Ähnlichkeit mit einer Giraffe, was ihr den Übernamen „Fützligiräffli“ (deutsch: Fotzengiraffe) einbrachte. Das empfand ich schon damals als frauenverachtend. Meinen Freundinnen ging das genau so. Frau Wehrendt war das, was wir heute cool nennen würden. Ganz locker vom Hocker warf sie uns binomische Formeln an den Kopf, zirkelte Trigonometrisches an die Wandtafel und führte uns galant zur Integralrechnung.
Dazu bewegte sie sich stets behände, war blitzschnell am hintersten Pult, wo der Pennende Ralf sass, wie wir ihn nannten, und schrieb fast gleichzeitig vorne bizarrmathematische Dinge an die Tafel. Das tat sie alles in ihrer Trikothose, die die genannte Lücke sehen liess. Uns war bis zuletzt, als sie uns verliess, nicht klar, ob es sich bei der angedeuteten Spalte um eine zufällige Falte ihrer Hose handelte, oder ob diese zwei schmalen Wülste an der Seite tatsächlich ihre Venuslippen waren. Unsereins konnte das nicht feststellen – höchstens in unseren Badeanzügen. Da war aber an besagter Stelle eine Einlage aus Stoff eingenäht, damit anatomische Details fremden Blicken verborgen blieben. Mir jedenfalls ging unser mathematisch begabtes „Fützligiräffli“ nie mehr aus dem Kopf. Das Verrückte an der Sache:
Da verbieten heutzutage bestimmte Schulen in bestimmten Bundesländern ihren Schülerinnen bauchfreie Tops – damit die Schüler sich wieder konzentrieren können. In bestimmten Spitälern sind Lippenpiercings obsolet. Andernorts darf man sich die Nägel nicht bunt lackieren. Die Erregendste aller Moden, der „Mut zur Lücke“, wurde aber bisher nie näher bezeichnet oder verboten. Schon hatte ich das Thema in der Rumpelkammer meines Gedächtnisses begraben, als sich letzte Woche folgendes ereignete: Ich sass im lokalen Jazz-Club, als die Blues-Soul-Sängerin Yvonne Z. auf die Bühne stakste. Wie Frau Rita Wehrendt trug auch sie ein korrekt sitzendes, hoch geschlossenes Oberteil. Dann kam die ovale Silberschnalle auf Bauchhöhe – eine Geschmacklosigkeit ohnegleichen. Liess man den Blick etwas weiter nach unten gleiten, war sie da, die aus Schülertagen vertraute Lücke!
Der Zufall wollte es, dass in der vordersten Reihe neben mir der Pennende Ralf sass, heute ein angesehener Kommunalpolitiker. „Anita – sieh Dir das an“, sagte er zu mir. Ich vergass Blues, Soul und Janis Joplin. Yvonne Z. bewegte sich bauchtänzerisch und rückte ab und zu ihre enge rote Hose zurecht. Sie tat dies mit neckischem Gesichtsausdruck und war sich ihrer Wirkung voll und ganz bewusst – ganz anders als damals unsere unschuldige Mathematiklehrerin. Mit steifen Brustwarzen sang sie „Me and Bobby Mc Gee“; die Erregung war ihr anzusehen. Yvonne Z. liebte es, dem Publikum ihre Geheimnisse preis zu geben. Der Saal war bis zum hintersten Platz besetzt. Der Pennende Ralf war hellwach. Selbst von der Seite konnte ich sehen, wie seine Augen leuchteten. „Die Frauen von heute sind eben selbstbewusst“, hörte ich mich zu ihm sagen.
Bis der „Mut zur Lücke“ in die Alltagsmode Eingang findet, werden aber wohl noch weitere 20 Jahre vergehen. Sei’s drum.
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