Kevin mochte es nicht, gefüttert zu werden. Noch weniger konnte er es leiden, dass man ihn wusch. Am meisten verhasst war ihm seine absolute Hilflosigkeit bei der Verrichtung seiner Notdurft. Es verging kein Tag, an dem er den Umstand, bei intimen Dingen auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, mit nicht zitierfähigen Ausdrücken lautstark verwünschte. Dabei konnte er von Glück reden, dass dieser erniedrigende Zustand für ihn nur eine vorübergehende Episode bleiben sollte.
„Betrachten sie es einfach als Vorgeschmack auf die Zeit jenseits der Achtzig.“, hatte ihm Bastian, sein Pfleger, so einfühlsam wie ein Zahnarztbohrer, geraten. Wenn Kevin dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er dem Zivi die Urinflasche, die an seinem Bett hing, an den Kopf geworfen. Aber er musste sich widerstrebend eingestehen, dass er ohne diesen Ausbund an Nonchalance niemals zurechtkommen würde.
Oft schweiften Kevins Gedanken zurück zu jenem Montag vor acht Tagen, an dem ihn das Unglück ereilt hatte. Es war sein erster Urlaubstag gewesen. Seit Wochen hatte er sich auf die Spritztour mit seiner alten, aber liebevoll gepflegten Suzuki Katana gefreut. Nach mehreren Stunden entspannter Fahrt über kurvige Landsträßchen hatte er Kurs auf einen größeren Ort genommen, um sich und seiner Maschine »frischen Betriebsstoff« zu genehmigen, wie er seine Tank- und Kaffeepausen nannte. Den weißen Wagen, der rechts in einer Grundstücksausfahrt lauerte, hatte er nur unbewusst wahrgenommen. Die Situation war so kristallklar wie in einem Lehrfilm einer Fahrschule: der Wagen würde ihm die Vorfahrt einräumen. Doch er tat es nicht. Boshaft setzte er sich just in dem Moment in Bewegung, als die Zeit - abzüglich der Schrecksekunde - nicht mehr ausreichte, die kinetische Energie von Fahrzeug und Fahrer trotz eines beherzten Bremsmanövers vollständig in Wärme umzuwandeln. Aus Rache rammte die betagte Elfhunderter das unverhoffte Hindernis in Höhe der Hinterachse und Kevin lernte Dank der Massenträgheit das Fliegen. Der Zustand der Schwerelosigkeit fand jedoch ein abruptes Ende, als er, dem unerbittlichen Gesetz der Gravitation gehorchend, auf den harten Boden der Tatsachen zurückkehrte. Seither lag er mit mehreren Frakturen beider Arme in der Klinik, gewissermaßen in Stereo von der Handwurzel bis zum Schultergelenk in unnachgiebigen Gips gehüllt. Der Umstand, dass sein Unglück dem Glasauge seines Unfallgegners geschuldet war, tröstete ihn nicht wirklich.
Nachtschwester
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