Noch drei Stationen. Heute wird er es tun. Ganz unbefangen schaut Michaela aus dem Fenster, wiegt den Oberkörper im schwankenden Bus, die Hand fest um die Haltestange über ihrem nackenlang behaarten Kopf. Seit ein paar Wochen schon treffen sie sich montags, mittwochs und donnerstags nach der Arbeit an der Haltestelle Leipziger Straße und nehmen den selben Bus. Meist trägt sie weiße Turnschuhe und eine schwarze Baumwolljacke, mit einsetzender Kälte hat sie dazu ständig einen rosa Schal um den Hals gewickelt, dass ihr hübsches Köpfchen bis zum Kinn in einem Bündel flauschigem Schafspelz steckt. Zufällig hat er meist etwas früher Schluss, so dass er mit der Linie 23 gerade eintrifft, wenn auch sie an der Haltestelle wartet.
Die ersten Male standen sie nur schweigend nebeneinander, stiegen ein und schauten aus dem Fenster, ohne sich weiter anzusehen. D.h. heimlich sah er sie schon an. Sehr hübsch war sie, fand er jedenfalls. Es dauerte nicht lang, da dachte er bereits an sie, wenn er noch auf dem Weg zur Haltestelle war. Dabei kannten sie sich doch gar nicht, grüßten einander nicht einmal. Trotzdem freute er sich immer sie zu sehen.
Aber ansprechen würde er sie deshalb nicht. Was sollte er ihr denn sagen? Wo sie sich doch völlig fremd waren. Nein, nein.
Aber sie sprach ihn an. Es war Mitte November, ein kalter Wind pfiff um die schlotternden Knie, der Bus hatte bereits zehn Minuten Verspätung. Michaela stampfte mit ihren Turnschuhen auf den gefrorenen Asphalt, die Hände in den Taschen zu Fäusten geballt blies sie Luft aus ihren rosenen Bäckchen. "Mist. Der Bus hat mal wieder Verspätung." Die Wartenden, in ihrer eigenen Kälte Versunkenen, hoben die Köpfe und starrten sie an, verwundert über die ungewohnt menschlichen Laute inmitten der traditionellen Stille ihrer stumm gewohnten Gruppe.
Aber sie waren nicht gemeint. Er nur war gemeint, denn ihn blickte sie an, mit ihren schwarzen, schwarzen Pupillen, liebbraun umrandet. "Ja, ganz schön blöd. Is ganz schön kalt heute."
Fünf Minuten später kam der Bus. Diesmal stiegen sie zusammen ein, nahmen nebeneinander Platz und fuhren gemeinsam nach Felsbach, denn beide wohnten dort. Und sie sprachen.
O daß sie ewig grünen bliebe
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