Als Udo Jürgens im Jahr 1980 fragte „Willst du gern einmal nach Paris?“ waren beide gerade einmal 30 Jahre alt. „Das Feuer war vorüber und unsere Liebe kalt“, hörten sie und konnten sich das nur schwer vorstellen.
Der erfolgreiche Übergang vom Studium ins Berufsleben war gemeistert, zwei Kinder, Haus, Garten, Hund, die Familie, gemeinsame Urlaube … Sie hatten Freunde und konnten sich ohne Pause einen ganzen Abend lang Witze erzählen.
Mit der Wende war es damit vorbei. Sie wagten den Schritt in die Selbständigkeit. Hervorragend ausgebildet, stellte sich wirtschaftlicher Erfolg sehr bald ein. Erst spät bemerkten sie jedoch die damit einhergehende Verarmung ihres Umfelds. Leere hatte sich eingeschlichen. Ihnen wurde langsam klar, welch hohen Preis sie bezahlt hatten.
Über 40 Jahre sind inzwischen vergangen. Sie haben das Ende der siebten Lebensdekade erreicht und sehen der Goldenen Hochzeit entgegen. Es fehlt ihnen an nichts. Sie sind fit, treiben regelmäßig Sport und halten ihren BMI bei 25. Ehrlich zu sich selbst, kommt ihnen dennoch ab und zu Udo Jürgens in den Sinn „Nur Alltag und Gewohnheit gab uns noch etwas Halt“.
Es war im Baumarkt. Die Wandfarbe hatte nicht gereicht. Er musste an der Gartenabteilung vorbei. Sie wollte zur Kasse. Schon von weitem traf sich ihr Blick. Es schien, als ob sie sich schon ewig lang kennen? „Remo?“ rief sie und beschleunigte ihren Schritt. Dass er noch immer so aussah wie früher und sich überhaupt nicht verändert hatte, hörte er des Öfteren „Viola!“ kam es ihm in den Sinn.
Sie waren sich einmal sehr vertraut. Der gemeinsame Abiball fiel ihm wieder ein. Wie es im Leben so spielt, hatten sich ihre Wege bald danach getrennt. Sie fiel ihm um den Hals und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Ich darf das“, meinte Sie, sich entschuldigen zu müssen. Er hatte Mühe und rang um Fassung. Die Bilder jener Nacht schossen ihm in den Kopf.
Zufall, oder war es ein Zeichen? Erst gestern hatte er sich mit seiner Frau die alte Udo-Schallplatte angehört. Lange sprachen sie über diese eine Zeile: „Ich hatte zwar versprochen, nur einer treu zu sein. Doch völlig zu versauern, das fiel mir auch nicht ein.“ Jetzt stand seine Jugendliebe vor ihm.
Seiner Frau fiel auf, dass er neuerdings öfter zum Baumarkt ging als sonst. Vergesslichkeit als Anzeichen einer heraufziehenden, schlimmen Krankheit? Auch Viola kaufte ihre Blumen fortan nur noch hier. Ihrer beider Hoffnung erfüllte sich.
Der Wunsch, nur einmal noch diese eine gemeinsame Nacht zu erleben, war überwältigend und ließ sich nicht verdrängen. Um nichts in der Welt würden sie sich davon abbringen lassen. Er rechtfertigte sich vor sich selbst mit einer Abwägung von Chance und Risiko: Eine erotische Wiederbelebung zu erfahren oder dem Ehekrach seines Lebens entgegen zu gehen.
Das erstere trat ein. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Plötzlich war alles ganz anders, war alles wieder so wie früher. Das Interesse an der eigenen Frau war wieder da. Sie hatte die Hoffnung längst aufgegeben. War das der Dritte Frühling? „Ob er ihr etwas sagen wolle, was sie wissen müsste?“ fragte sie. „Wissen müsstest du es eigentlich nicht“, ging es ihm durch den Kopf. Bewährt hatte sich in den vielen Ehejahren aber auch, keine Geheimnisse voreinander zu haben.
Der Ehekrach seines Lebens blieb aus. „Völlig zu versauern, das fiel auch ihr nicht ein“. Sie zeigte ihm Kontaktanzeigen, die sie in letzter Zeit ausgeschnitten und gesammelt hatte. Etwas überrascht, brauchte er etwas Bedenkzeit und verstand sogar ihren einzigen Vorwurf: Künftig möchte sie mit einbezogen werden. Das war neu und setzte erotische Fantasien in ihm frei.
Die alte Schallplatte lag noch oben auf dem Stapel. Sie legten sie noch einmal auf und schmunzelten beim Zuhören „Sie war schon eingeschlafen, als ich die Zeitung las und bei den Inseraten fand ich das: Willst du gern einmal nach Paris, einfach so nur zum Spaß? Isst du gern mit den Fingern, schläfst du gern mal im Gras?“
Sie nickten Udo zu, „dieses Inserat da versprach ein bisschen Glück“ und vermutlich hätten sie jetzt selbst gern ein Stück Papier genommen und „unter Kennwort: Steig mit mir aus“ zurück geschrieben.
Ein Ausweg aus ihrer Leere schien sich aufzuzeigen.
Aber was wollten sie eigentlich? Wohin sollte die Reise gehen? Mit den Fingern essen und im Gras schlafen? Sich wieder mit Freunden abendfüllend lang Witze erzählen? Schnell wurde klar, dass die Uhr noch weiter zurück zu drehen war. Ihr Eheversprechen hatten sie bisher tadellos eingehalten. Ihr Alter aber konnte Rechtfertigung genug sein, in die Zeit der ersten Jugendliebe einzutauchen.
Zugegeben bedurfte es einiger Überwindung bei der Formulierung ihres ersten Inserats:
„Ehepaar (70/71) mit Sinn nach einer erotischen Wiederbelebung sucht Paar für eine Freundschaft plus. Wir denken an ein naturverbundenes, selbst noch sportlich aktives Paar in unserem Alter …“
Sollte man so offen sein und von einer „erotischen Wiederbelebung“ sprechen? Ja, meinten beide. In unserem Alter darf man das. Und beinhaltet eine „Freundschaft plus“ nicht auch die Bereitschaft zu einem körperlichen Kontakt? Wären sie bereit, sich einem solchen hinzugeben? Sie waren sich nicht sicher, wollten es aber herausfinden.
Die Resonanz auf dieses Inserat hatten sie sich anders vorgestellt: Ein junger Mann (44) entschuldigte sich für sein Alter und ein weiterer Herr (68) brachte sein Interesse „an euch beiden“ zum Ausdruck. Ein Paar wollte wissen „wie so eure Vorstellungen mit uns sind und ergänzte: Wir mögen kein Anal, kein Sado, kein Lack und Leder. Er sollte nicht bi sein und wir Frauen sollten auch gemeinsam Spaß haben.“
Das ging daneben. Offenbar war ihnen in den vergangenen Jahres einiges entgangen. Sie versuchtes es mit einem zweiten Inserat. Diesmal sprachen sie nicht nur Paare an, sondern auch den einzelnen Herrn und die einzelne Dame.
„Ein ganz normales Ehepaar (beide Akad., Anf. 70) sucht das Paar, den Herrn (kein bi) oder die Dame von nebenan zur Gestaltung eines lustvoll-spannenden Lebensabends.“
Ein ebenfalls „ganz normales Paar“ zeigte daran Interesse und konnte sich „gemeinsame und schöne erotische Stunden vorstellen“. Ein weiteres Paar wollte seine Lust genießen und wurde deutlicher: „Fremde Haut spüren, sehen und gesehen werden“, war die Vorstellung. Als Club-Besucher wusste man genau, wovon die Rede ist.
Das ging schon wieder daneben. Die eigene Messlatte lag offenbar deutlich höher. Nicht unerwartet zeigte auch keine einzige Dame Interesse. Ganz anders dagegen reagierten die Herren:
Von einer Aura, welche das Inserat ausstrahlt, war die Rede, der man sich nicht entziehen konnte. Die in Aussicht stehende lustvolle Spannung setzte offenbar erotische Fantasien frei, die bis hin zu gemeinsamem Sex gingen, der die Gruppe zusammenhält. Ein Herr gestand, dass er mindestens 30 Jahre lang keinen Brief mehr geschrieben hatte und er erst für diese Zuschrift sein Schweigen brach.
Beherzt zupackend, stellte sich dieser Herr vor: „Hallo, ich bin 67 Jahre alt, schlank, gepflegt und niveauvoll. Möchte euch gern kennen lernen. vorname.name@gmx.de, Telefonnummer.“
Mehr konnte man bei einem seriösen Erstkontakt nicht erwarten. Er sprach den Herrn per E-Mail an.
„Danke für eure Antwort“ kam es prompt zurück. „Würde mich freuen, euch persönlich kennenzulernen. Vielleicht auf einen Kaffee an einem gemütlichen Ort. Bei Interesse sendet bitte eure Telefonnummer mit Terminvorschlag. Schönes Wochenende. Grüße …“
Jetzt war es nur noch ein ganz kleiner Schritt. Er erinnerte sich, wie die Geschichte bei Udo Jürgens ausging: „dieses helle Lachen, das kannte ich genau. Vor mir stand nämlich meine eigene Frau“ und schlief ein.
Am nächsten Morgen war sie etwas mürrisch und erzählte beim Frühstück, dass sie sich angesichts der bevorstehenden Begegnung noch einmal den Film „Der Andere“ angesehen hatte. In der Romanvorlage dazu beschreibt Ferdinand von Schirach das Risiko eines solchen Unterfangens. Damit hatte er nicht gerechnet. "Völlig zu versauern, das fiel auch ihr nicht ein“, erinnerte er sich. War sie sich dessen jetzt nicht mehr sicher? Hatten Zweifel sie beschlichen? Das war kein gutes Signal.
Er hätte sich gewünscht, in einer solchen Begegnung zuerst die Chance zu sehen und sich ihr entspannt zu nähern. „Im Zweifelsfalle nie“, schrieb kurz entschlossen dem Herrn eine E-Mail und entschuldigte sich: „Wir lassen die Geschichte besser nicht weiter an uns heran und brechen an dieser Stelle ab“. „Okay. Schade. Danke für eure Antwort. Schönes Wochenende. Grüße …“ kam es souverän zurück.
Die Umstellung auf Winterzeit stand bevor. Dunkelheit breitete sich aus. Sie hatten ihre erste Lektion gelernt.
Eine Zuschrift kam erst viel später. Sie war anders als die davor, höflich und zurückhaltend, beinahe schüchtern. Offenbar waren Berührungsängste zu überwinden. Man benutzte als Anrede „Sie“. Das Paar stellte sich als E+J vor und gab seine Telefonnummer an. Schnell war ein Kontakt über Whatsapp hergestellt. Man ließ sich Zeit und lernte sich zunächst im Chat kennen:
Als blutjunge Belegärztin im flugmedizinischen Dienst hatte sie ihren Mann damals kennen gelernt. Fesch und adrett sah er aus in seiner Uniform und von jedem seiner Mittelstreckenflüge wusste er immer viel zu erzählen. Als Copilot war er u.a. für den Flugfunk zuständig und „hatte die Stewardessen da hinten im Auge zu behalten“. Ersteres interessierte sie weniger, letzteres schon mehr.
Ihre eigene Praxis als Allgemeinmedizinerin hatte sie schon vor einigen Jahren in jüngere Hände gegeben. Ihr Spezialgebiet aber, die Gefühlskunde, beschäftigt sie noch heute. Als junge Mutter hatte sie begonnen, sich mit der Funktion von Gefühlen zu beschäftigen. „Die Entfaltung emotionaler Kompetenz bei Kindern“ war das Ziel.
An seinen letzten Transatlantikflug als Pilot in Command erinnerte er sich noch sehr gut. Später, am Simulator, gab er seinen Flugschülern gern und immer wieder diese eine Route vor. Ein ernster Zwischenfall oder gar eine Notlandung blieben ihm erspart. Alle Überlebenstechniken, die er sich in seinen Survival-Trainingskursen angeeignet hatte, hätten ihm dabei vermutlich auch nicht viel genützt.
Das alles ist lange her und Kosmopoliten wollten E+J auch nicht mehr sein. Sie hatten sich wieder zu Hause eingerichtet und mehr oder weniger in die Anonymität zurückgezogen. "Völlig zu versauern, das fiel aber auch ihnen nicht ein.“
Die erste persönliche Begegnung der Vier stand an. Früher ging man spätestens dann mit einem Glas Sekt in der Hand zum „Du“ über. Ein Kuss war unabdingbar, erinnerte er sich. „Sofern 2x geimpft, können wir das in Corona-Zeiten gerade noch so durchgehen lassen?“, fragte er die Ärztin. Ihre Gefühlswelt, von „fachlich entsetzt“ bis „erwartungsfroh entgegen sehend“, konnte er in ihrem Gesicht ablesen. Würde das schon der erste Körperkontakt einer „Freundschaft plus“ sein, über den sie so lange nachgedacht hatten? Das Eis war gebrochen.
Lustvoll-spannend, so beschreibt ihr zweites Inserat den angestrebten, gemeinsamen Lebensabend. Sie stellten dazu die Uhr auf Anfang zurück. Ihr Wissen und ihre Erfahrung aber ließen sich nicht löschen. Eine Suite wurde ihr gemeinsames Zuhause. Jede Ihrer Begegnungen hatten sie einem Ziel untergeordnet. Immer ging es um Gefühle. Sie buchstabierten gemeinsam die klassischen fünf Sinne des Menschen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Spontanität war ihnen fremd.
Die Ärztin war in ihrem Element. Ihre Methode war stets der Umkehrschluss: Die Bedeutung des Sehens versteht man erst richtig in völliger Dunkelheit. Die verbleibenden Sinne würden dann versuchen, das Defizit auszugleichen. Es war eine unglaubliche, gemeinsame Erfahrung.
Vom Überlebenstraining her kannte der Pilot den Austausch von Körperwärme zum Schutz gegen Erfrieren. Erogene Zonen wurden dabei bewusst angeregt, um die Gruppe eng beieinander zu halten. Die Überlebenschance in gemischten Gruppen ist immer am größten.
Die Tage wurden wieder länger. Sie freuten sich auf den bevorstehenden Frühling. Um nichts in der Welt würden sie die entstandene „Freundschaft plus“ wieder hergeben. Körperlicher Kontakt war nicht nur zu einer Selbstverständlichkeit geworden, sie hätten ihn sogar schmerzhaft vermisst.
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