Carlo hatte gerade den Entschluss gefasst, sich in der Grünanlage ein wenig die Beine zu vertreten, als eine Hostess des Kongresszentrums an ihn herantrat. Sie musterte kurz sein Namensschildchen am Revers, überreichte ihm lächelnd einen Briefumschlag und ließ ihn ohne Erklärung stehen. Verblüfft sah Carlo ihren langen Beinen nach, die leichtfüßig in der Menge entschwanden. Unschlüssig drehte er das Couvert in den Händen. Es war nicht beschriftet. Sicher eine Einladung von irgendeinem Firmenfritzen zu einer langweiligen Cocktailparty, dachte er, steckte den Umschlag in die Jackentasche und verließ durch die große Drehtür das Gebäude.
Es war bereits später Nachmittag und Carlo genoss nach der sterilen Atmosphäre im Tagungszentrum den spätsommerlichen Wind, der durch die alten Linden und Platanen strich. Er folgte den mit weißem, knirschendem Kies bestreuten Wegen, bis er kaum noch Spaziergänger antraf. An einem Teich zwischen Buxbaum- und Rhododendrenbüschen setzte er sich auf eine Bank, schlug die Beine übereinander und holte das Couvert aus der Tasche. Erst jetzt fiel ihm die edle Qualität des teuren, cremefarbenen Papiers auf. Carlo schlitzte den Umschlag mit seinem Taschenmesser sauber auf. Zum Vorschein kam eine Karte aus faserig-weichem Büttenpapier. Darauf befand sich weder ein Firmenlogo noch sonst eine gedruckte Information. Es war lediglich eine kurze handschriftliche Notiz vermerkt:
„Bitte geben Sie mir die Ehre und kommen Sie heute Abend um zwanzig Uhr zu meinem Dinner in das Koopmans Kontor. Ich freue mich!
Sina van der Moelen“
Entgeistert starrte Carlo auf die mit blauer Tinte verfasste Unterschrift. Sina van der Moelen war der Name der Eigentümerin der PharmaChemInvest! Sofort tauchte vor seinem geistigen Auge ihr Konterfei aus dem Vorwort des Tagungsbandes auf und verschmolz mit dem Gesicht der Frau aus der ersten Reihe des Auditoriums. Er atmete tief ein. Da sich die junge Firmenpatriarchin höchstpersönlich um ihn bemühte, konnte er womöglich auf ein lukratives Geschäft hoffen. Mehr noch: eine enge Kooperation mit einem Konzern dieses Kalibers konnte für sein Institut den langersehnten, internationalen Durchbruch bedeuten. Es lag jetzt an ihm, die Kontakte zu knüpfen. Den Schlüssel zum Erfolg hielt er in der Hand, nicht sein Chef. Wenn er es nicht vermasselte, war für ihn karrieretechnisch vielleicht mehr drin, als er sich jetzt vorstellen konnte...
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war jetzt kurz nach siebzehn Uhr. Carlo erhob sich und schlenderte beschwingt zum Ausgang des Parks. Mit dem Sammeltaxi fuhr er in sein Hotel hoch über der luxemburgischen Hauptstadt. Sein Laptop ließ er unangetastet. Ihm war jetzt nicht danach, belanglose elektronische Post zu beantworten. Stattdessen suchte er für eine gute Stunde den Fitnessraum auf, duschte ausgiebig und schlüpfte in seine beste Garderobe.
Als er sich gegen halb acht in die Hotelhalle begab, um am Empfang ein Taxi zu bestellen, wurde er bereits von einem Fahrer der Firmenzentrale von PharmaChemInvest erwartet. Geschmeichelt nahm Carlo in dem nach feinem Leder duftenden Fahrzeug mit den dezent getönten Seitenfenstern Platz. Überrascht bemerkte er, dass der Wagen deutscher Fabrikation trotz seiner gediegenen Ausstattung lediglich der gehobenen Mittelklasse angehörte. Als sich die Kalesche völlig geräuschlos, weil elektrisch angetrieben, in Bewegung setzte, begriff er, dass die Zeit der noblen und leistungsstarken Edellimousinen auch in der an Luxus gewöhnten Welt der Konzernvorstände abzulaufen begann.
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