Sie hatte Deutsch gesprochen. Jetzt dämmerte es Carlo, dass er unter all den Gästen einen besonderen Status genoss. Er hörte sich eine Erwiderung murmeln und spürte, wie sein Deodorant langsam aber sicher versagte. Sie schenkte ihm ihr bezaubernstes Lächeln und prostete ihm augenzwinkernd zu. Dann nahm sie die Konversation mit ihren Gästen an der gegenüberliegenden Seite der Tafel wieder auf. Wenn sie sich vorbeugte, um sich im Stimmengewirr dem Ungar, dem Italiener und der Österreicherin verständlich zu machen, warf er ihr verstohlene Blicke zu. Er betrachtete fasziniert das Profil ihres stets freundlich lächelnden Gesichts, das von dem grazilen Kinn, von den vollen Lippen und von der sanft geschwungenen Nase beherrscht wurde.
Während des Dinners war die Unterhaltung verständlicherweise etwas ins Stocken geraten. Lediglich der dicke Ungar redete unentwegt, was die Österreicherin mit missbilligenden Blicken durch ihre Hornbrille quittierte. Als das Dessert aufgetragen wurde, schenkte Sina van der Moelen Carlo wieder mehr Aufmerksamkeit.
„Wie gefällt Ihnen Ihre Unterkunft hier in der Stadt?“
„Ich kann mich nicht beklagen. Leider bleibt kaum Zeit, das umfangreiche Freizeitangebot komplett zu nutzen.“
„Es freut mich, dass das Hotel ihren Vorstellungen entspricht.“ versicherte Sie ihm und rührte mit einem winzigen Silberlöffel den Espresso in der dünnwandigen Tasse um. „Mein Vater hat es seinerzeit gebaut, obwohl der Bedarf an Hotelbetten bereits weitestgehend gedeckt war. Er setzte damals auf ein exklusives Wellnessangebot. Das war damals noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Doch der Erfolg gab ihm Recht.“
Carlo nickte zustimmend und beobachtete Sina van der Moelen, wie sie das zierliche Tässchen ergriff und vorsichtig an die gespitzten Lippen setzte. An ihren schlanken Fingern war kein einziger Ring zu entdecken.
„Ich habe kaum eine schönere Badelandschaft gesehen als die Delfin-Therme.“ versicherte er aufrichtig. Sie leckte sich genießerisch die unaufdringlich geschminkten Lippen.
„Wie schön, dass Sie das sagen!“ strahlte sie ihn an. „Die Delfin-Therme ist nach Entwürfen von mir gebaut worden, wenn ich das in aller Bescheidenheit anmerken darf. Ich hatte gerade mein Architekturstudium beendet, müssen Sie wissen.“
„Einen schöneren Einstand als Architektin kann man sich doch kaum wünschen!“ beglückwünschte sie Carlo. „Darf ich fragen, ob sie noch weitere Projekte verwirklicht haben?“
„Nichts von Bedeutung.“ entgegnete Sina van der Moelen und ihre Stirn umwölkte sich leicht. „Meinem Vater ging es seit dieser Zeit gesundheitlich immer schlechter, so dass ich mehr und mehr Aufgaben im Geschäft übernehmen musste. Als er starb, blieb mir keine Zeit mehr, mir in meinem Beruf einen Namen zu machen.“
„Das tut mir leid. Aber im Unternehmen ihre Frau zu stehen ist doch auch eine nicht geringe Leistung. Es ist sicher nicht leicht, einen so großen Konzern zu lenken.“
„Ich musste lernen, viel Verzicht zu üben.“ gestand sie ihm in einer Anwandlung von Sentimentalität. Neugierig sah der Italiener zu ihr herüber, doch ihre Augen wanderten gedankenverloren hinauf zu dem lebensgroßen Portrait, das an der gegenüberliegenden Wand über dem glatzköpfigen Sizilianer hing. Der in Öl portraitierte Kaufmann war neben einem Tisch stehend dargestellt, die rechte Hand auf einen kleinen Globus gestützt, vor dem bündelweise Banknoten und Aktienpapiere lagen. Die Farben des Gewandes und des Bildhintergrundes waren so stark nachgedunkelt, dass der Kopf auf der weißen spanischen Halskrause zu ruhen schien wie das abgeschlagene Haupt Johannes des Täufers auf einem Silbertablett.
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