Carlo war einer jener Hochschulabsolventen, die deutsche Universitäten wie am Fließband hervorbringen. Er hatte Chemie studiert, war mit fünfunddreißig immer noch Single und arbeitete wie zahllose andere, namenlose Wasserträger an einem chronisch unter Finanzknappheit und unter fehlender internationaler Anerkennung leidenden Institut einer Provinzuniversität. Er war 1,85 Meter groß, schlank, aber nicht übertrieben sportlich. Er fuhr einen zehn Jahre alten Gebrauchtwagen aus dritter Hand, wohnte in einer selbst renovierten Dachwohnung und hatte eine Aversion gegen Zimmerpflanzen.
Aber Carlo war zufrieden mit dem, was er war. Sicher, dem Gehalt hätte eine Erhöhung gut getan. Und die Habilitation dümpelte im Moment auch so vor sich hin. Doch im Großen und Ganzen fühlte Carlo sich an seinem Arbeitsplatz wohl. Sein Ehrgeiz hielt sich so in Grenzen, dass er der Gesundheit in keiner Weise abträglich werden konnte. Das Herausragende bei so viel Durchschnittlichem an ihm war, dass er selbst aus den belanglosesten und banalsten Dingen aufsehenerregende Präsentationen fabrizieren konnte. Das hatte für das Institut den angenehmen Nebeneffekt, dass der warme Strom an Fördergeldern ständig plätscherte. Wegen dieses Talents hatte er bei den Kolleginnen und Kollegen bis hinauf zur Institutsleitung einen Stein im Brett. Das brachte neben Vertragsverlängerungen noch einige andere Annehmlichkeiten mit sich, die Carlo weidlich auszunutzen wusste.
Zu seinen schönsten Privilegien zählte eine außerordentlich rege Reisetätigkeit. Wenn irgendwo auf der Welt die Arbeit des Instituts vorgestellt werden musste, hieß es: „Carlo, mach du das.“ Auf Symposien und Fachkongressen war er bereits ein allseits bekannter Stammgast. Sein Brötchengeber sah es nicht ungern, zumal die Spesen meist von der Industrie beglichen wurden und somit die Institutskasse kaum belastet wurde. Nur hin und wieder, wenn es galt, für die mühsam errungenen wissenschaftlichen Erkenntnisse die verdienten Lorbeeren in Gestalt eines Preises entgegenzunehmen, war ein Vertreter der oberen Etage mit von der Partie. Dieses Mal war Carlo allerdings wieder wie so oft ohne Begleitung unterwegs. Reine Routine eben. Eine Weltreise war es zu seinem Leidwesen nicht geworden, denn die Tagung war von einem Luxemburger Konzern ausgerichtet worden, doch drei Tage Aufenthalt mit reichlicher Verköstigung und formidabler Unterbringung waren ihm sicher.
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