Bastian: Mir ist langweilig, wie schon öfter in letzter Zeit. Ich sitze an meinem Schreibtisch und starre aus dem Fenster. Das Ende vom Bleistift klappert auf meinen Zähnen. Eine Unart, die ich schon in der Schule perfektioniert habe und damit meinen Mitschülern auf den Sack ging. Ich merke das schon gar nicht mehr, deswegen kann ich es mir auch nicht abgewöhnen. Ich starre und klappere.
Da, jetzt, die Tür gegenüber geht auf. Da ist sie wieder, endlich. Ich habe sie vermisst, länger nicht aus dem Haus kommen sehen. Was für eine rassige Schönheit. Die pechschwarzen Haare, dazu ihre helle Haut, in perfektem Kontrast aufeinander abgestimmt. Ist das ein Anblick. Wow. Die wäre was, genau mein Beuteschema. Schon viel zu lange bin ich allein. Warum, weiß ich eigentlich schon gar nicht mehr.
Aber sie, die sich gerade in ihren Rollstuhl quält und ihre Krücke hinter sich in eine extra dafür vorgesehene Halterung drückt, perfekt und bildschön.
Ich gebe zu, ich beobachtete sie schon seit ihrem Einzug vor knapp 8 Wochen, abends oder auch tagsüber, mit einem Teleskop. Sie wohnt gegenüber, im ersten Obergeschoss, zwei Stockwerke unter meinem. Wir sehen in denselben Hinterhof. Ich kann direkt in ihre Zimmer sehen, wenn sie vergisst, die Vorhänge zuzuziehen. Oder lässt sie sie extra offen … für mich? Weiß oder spürt sie, dass sie beobachtet wird? Ich weiß, wie sie sich kleidet, wie sie nackt aussieht, wenn sie aus der Dusche kommt. Ein Traumkörper. Ich weiß, dass ihr rechtes Bein zur Hälfte amputiert ist. Ich kenne ihren Tagesablauf, weiß, wann sie zur Arbeit geht und wann sie wieder nach Hause kommt.
Und ich weiß, dass sie auch ein Teleskop hat, ähnlich meinem, mit dem sie abends in den Nachthimmel schaut. Ohne müde zu werden, schafft sie das stundenlang.
Für gewöhnlich bin ich kein Spanner. Und eigentlich war es auch mehr Zufall, dass ich sie entdeckt hatte.
Das Teleskop war ein Geschenk meines Bruders, der meinte, damit könnte ich abends die Sterne beobachten und auf die berühmte Sternschnuppe warten, die mir dann einen Wunsch erfüllen sollte, der mir in diesem Moment durch den Kopf ginge. Blöder Wichser. Ich wollte ihm das dumme Teil schon hinterherwerfen, als er sich halb kugelig gelacht, über mich lustig machte. Ich wäre zu blöd, mir was zum Bumsen zu suchen, zog er mich auf. Dabei suchte ich ja gar nicht, nur konnte ich ihm das nicht unbedingt auf die Nase binden, weil das nun so gar nicht zu seinem umtriebigen Lebenswandel passte. Und weil er an keinem offenen Loch vorbeigehen konnte, meinte er nun, ich müsse es doch genauso machen.
Da gibt es allerdings noch was, was ich niemanden sagen mag: Ich liebe Frauen, sehr sogar. Aber immer dann, wenn es zum Abschluss kommt, fliehen die meisten nach dem ersten Mal und wollen mich in der Regel auch nicht wieder daten. Das liegt daran, dass sie angewidert sind, wenn ich abspritze. Da kommt nämlich eine ganze Menge, immer, auch beim zweiten oder dritten Abgang des Tages. Frauen mögen nicht, dass ich ihren Unterleib zum Überlaufen bringe. Sie sagen, dass es sich unangenehm anfühlt, so vollgefüllt zu werden. Eine hat mal gesagt, es wäre, als wenn man ihr einen Wasserschlauch reingesteckt und aufgedreht hätte. Das hat mich abgeschreckt.
Im Mund wollen sie es auch nicht haben, weil es sie anekelt, so viel zu schlucken und auf dem Bauch abspritzen kam wegen der Sauerei auch nicht in Frage. Zwei meiner Ex-Partnerinnen bestanden sogar darauf, dass ich es mir im Badezimmer selbst machen sollte. Aussagen wie: Alter, du bist doch krank … geh mal zum Arzt damit … perverses Arschloch … usw. waren an der Tagesordnung.
Nur eine meiner bisherigen Freundinnen fand das gut und freute sich immer, wenn ich die riesen Menge Sperma in sie pumpte, und ihr war es auch egal, worein. Ok, jetzt ist es raus: Basti der Vielspritzer. So geil sich das vielleicht anhören mag, ich habe nur schlechte Erfahrungen damit gemacht. Deshalb habe ich regelrecht Angst, neue Beziehungen einzugehen. Aber auch das kann ich meinem Bruder keinesfalls sagen. Ihm am allerwenigsten. So weit so gut.
Das dumme Teleskop … fast stolpere ich über eine dumm abgestellte Flasche Wasser … mein Auge presst sich gegen das Okular. Jetzt wirkt sie noch größer, als sie sowieso schon ist. Auch etwas, was mich schon fasziniert hatte, als ich sie das erste Mal sah. Ganz viel kleiner als ich, ist sie nicht und ich bin eins achtzig, ohne Schuhe versteht sich. Kein Detail ihrer Haut bleibt mir verborgen. Kein Pickel, keine Sommersprosse, nicht die kleinste Unreinheit. Sie wirkt gehetzt, aber schön geschminkt ist sie. Nur leicht und doch betont sie eindrucksvoll ihre schönen Augen damit. Kraftvoll stößt sie sich mit den Armen vorwärts, scheint es eilig zu haben. Nur Sekunden kann ich sehen, bis sie unter dem überbauten Torbogen verschwindet. Ich bin enttäuscht, dass sie es heute so eilig hat und lasse mich in meinen Schreibtischstuhl zurückfallen. Ich brauche eine Idee und etwas Mut, wie ich sie am besten kennenlernen kann.
Anni: Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich die Gardine gegenüber im dritten Stock bewegt. Der Haustürklingel nach, wohnt dort Bastian Arndt. Das erste Mal, dass ich einen Mann über die Hautürklingel stalke. Ein süßer Kerl, den ich schon oft am Fenster beobachtet habe. Immer in der Hoffnung, dass er mich nicht bemerkt. Ich mag sein süßes Lächeln und die Grübchen in seinen Wangen.
Es ist komisch, aber er ist zu Hause, wenn ich zur Arbeit gehe und auch, wenn ich wieder komme, auch abends scheint es ihn nicht aus dem Haus zu treiben. Womit verdient der sein Geld? Wenn ich doch nur mehr von ihm sehen könnte, doch wenigstens unsere Wohnungen auf gleicher Höhe lägen. Mist. Schlag dir den aus dem Kopf Anni Wendt. Aber wieso eigentlich?
Jetzt aber hurtig, sonst machen die Läden zu. Mit dem Rollstuhl dauerts, bis ich da bin. Aber mit der Prothese bin ich noch langsamer, dafür muss ich noch üben und brauche eine Krücke zur Unterstützung.
Ein Ruck geht durch den Rolli. Ich sehe über meine rechte Schulter, kann aber niemanden entdecken. Nur die Hand, eine gepflegte Männerhand, die um den Griff liegt. Über der linken Schulter das gleiche Bild.
„Lassen Sie das, ich will das nicht.“, bin ich etwas gereizt.
„Schade, ich wollte nur helfen.“ Die tiefe Männerstimme klingt freundlich und nett, sogar etwas enttäuscht, weil ich ihn so angegangen bin.
„Ich kenne Sie nicht und deshalb ist es mir unangenehm. Bitte lassen Sie los.“, jetzt etwas ärgerlicher.
Der Schub verschwindet, aber die Schritte hinter mir bleiben. Ich werde nervös. Was will der Typ von mir? Wenn ich ihn nur sehen könnte, vielleicht wäre ich dann nicht mehr so ängstlich. Seine Stimme geht mir durch Mark und Knochen.
„Bitte hören Sie auf mich zu verfolgen.“, spreche ich ihn ängstlich an.
„Ich verfolge Sie nicht, habe nur zufällig den gleichen Weg.“
„Sie machen mir Angst, ehrlich.“
„Ich tue Ihnen nichts, versprochen.“, bleibt er freundlich. Seine Stimme ist beruhigend und sanft.
„Bitte gehen Sie weg.“ Eigentlich will ich gar nicht, dass er geht. Seine Stimme ist der Wahnsinn.
„Ganz sicher nicht.“, gibt er zurück.
„Wieso denn nicht.“, freue ich mich fast, dass er hartnäckig bleibt.
„Weil ich Ihnen helfen möchte, sagte ich doch schon.“
Dann schiebt mich der Kerl an die Hauswand, tritt die Bremse und kommt um den Stuhl herum. Er hockt sich zu mir herunter. Seine Augen funkeln, sein Mund lächelt freundlich und erst diese Grübchen. Jetzt weiß ich, wer das ist. Seine Hände haben sich auf meine gelegt, die auf den Reifen liegen. Jederzeit bereit, die Flucht anzutreten.
Ich kann nicht, nicht fliehen, nicht rückwärts und vorwärts schon gar nicht, denn da hockt er und seine Augen sehen mich an. Nicht einmal wegsehen kann ich. Reden auch nicht, mein Hals ist wie zugeschnürt und der Mund knochentrocken.
„Hallo, ich bin Bastian Arndt. Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so überfalle. Schon oft habe ich Sie aus dem Wohnblock, gegenüber von meinem, kommen sehen. Und heute konnte ich nicht anders, als Ihnen nachzugehen, um Ihnen zu helfen.“
Ich muss mich räuspern, weil ich keinen Ton rausbekomme. Krächzend versuche ich ihm zu antworten.
„Beobachten Sie mich etwa ständig? Ich warne Sie, übertreiben Sie es nicht. Und überhaupt, warum wollen Sie mir helfen, weil sie Mitleid haben und denken, dass ich alleine nicht klarkomme?“, fauche ich ihn an.
„Nein, Sie kommen klar, das weiß ich. Ich würde Sie viel lieber besser kennenlernen, wenn Sie mir das Erlauben.“, antwortet er etwas schüchtern. Seine Stimme ist deutlich leiser geworden. Das finde ich echt süß.
„Das ist wenigstens ehrlich Bastian, kein dummes Drumherumgerede und kein blöder Anmachspruch. Das finde ich gut. Sie bekommen eine Chance. Ich will nur bis in den Supermarkt. Sie dürfen mich bis dahin schieben. Dann sehen wir weiter.“
„Das ist mehr, als ich erwarten durfte. Darf ich nach Ihrem Namen fragen?“
„Fragen dürfen Sie, aber verraten tue ich den noch nicht.“, grinse ich ihn an.
„Ok.“, murmelt er, steht auf und schiebt mich einfach weiter. „Mögen Sie Mitleid nicht?“
„Wie bitte?“
„Ich meine, wenn ich Sie nur aus Mitleid schieben wollte, dürfte ich das dann nicht?“
„Nein, dann nicht. Ich hasse Menschen, die Mitleid heucheln oder von meinem Anblick angewidert zur Seite sehen. Nur, weil mir ein Bein fehlt, bin ich doch kein schlechter Mensch, oder einer dritten Klasse.“
„Woher wollen Sie denn wissen, dass Mitleid immer geheuchelt ist? Aber ich kann Sie beruhigen, ihre Amputation stört mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich bewundere Ihre Kraft und den Mut, sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen.“
„Wie meinen Sie das denn jetzt schon wieder?“
„Ganz einfach. Überall Stufen und Treppen, öffentliche Verkehrsmittel nur selten Barrierefrei, Wohnungen in der Regel nicht behindertengerecht.“
„Ich habe keine andere Wahl. Es ist nun mal, wie es ist.“
„Und eben genau das ist es, was ich bewundere, Sie haben nicht aufgegeben. Außerdem steckt hinter so einer Operation immer eine Geschichte.“
„Ja leider. Ein Autounfall. Ich war eingeklemmt. Sie mussten es abnehmen, um mich freizubekommen. Noch immer bin ich traurig, wenn ich daran denke, und das tue ich leider noch viel zu oft.“
„Verdammt, das klingt übel. Dafür kommen Sie gut damit klar. Ihre Bewegungen und die Kraft, echt klasse. Am liebsten würde ich Sie „Mietze“ nennen.“
Bastian schiebt mich gemütlich vorwärts, ohne Eile, den gemeinsamen Moment in die Länge ziehend. Der Kerl ist lustig. Ich mag ihn, wie er spricht, was er sagt. Ich denke, er ist ehrlich und sagt nicht nur, was er denkt, dass ich es hören will, sondern tatsächlich, was er wirklich meint. Und mein Gefühl verrät mir, dass er nicht einer von diesen gleichgültigen Typen ist. Die, die meine Behinderung als Möglichkeit nutzen, um mich anzumachen. Mich ins Bett zu ziehen. Die, die sich danach damit brüsten, eine Amputierte flachgelegt zu haben. Von diesen Machos und Fuckboys begegnen mir täglich immer mal wieder welche. In der Bank, Kollegen und Kunden gleichermaßen, auf dem Arbeitsweg und sogar beim Training im Fitnessstudio. „Mietze“, wie kommt er nur auf sowas? Klingt niedlich.
„Wie kommen Sie auf Mietze?“
„Ihre schwarzen Haare glänzen wie das seidige Fell einer Muschi und ihr Gang ist grazil, anmutig und kraftvoll, wie der einer Katze.“
„Sie wissen doch gar nicht, wie glänzend das Fell meiner Muschi ist.“, antworte ich frech grinsend. Ich wundere mich über mich selbst, wie schlagfertig die Antwort kam. Wie aus der Pistole geschossen.
„Ach du Scheiße, tausend Leute im Station und mich trifft der Ball.“, gibt er mir wieder Rätsel auf.
„Hä?“
„Das mit dem Fell … sollte nun nicht ansatzweise mit ihrer … äähhmm… naja, ich und meine Fettnäpfchen.“
„Schon gut, schon gut. Hatte ich auch nicht so verstanden, aber ich wollte Sie mit Ihrem Lapsus ein bisschen ärgern.“, lache ich.
„War blöd, sorry.“, entschuldigt er sich schon wieder.
Wie von Geisterhand stehen wir vor der Supermarkttür. Wie doch die Zeit vergeht, wenn man nicht alleine ist. Und wenn die Unterhaltung dann noch Spaß macht …
Bastian ist stehengeblieben und wieder um den Rolli herumgekommen. „Da wären wir.“, sagt er und kaut verlegen auf seiner Unterlippe herum. Sollte es hier und jetzt schon wieder zu Ende sein? Irgendwie wissen wir beide nicht, was wir jetzt sagen sollen. Bis mir einfällt, dass ich ihm noch eine Antwort schuldig bin.
„Anni Wendt.“, lächle ich ihn an.
„Was?“
„Anni Wendt … mein Name. Aber Mietze ist auch ok. Und ich muss da jetzt rein, bevor die zumachen. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.“, grinse ich.
„Anni. Schöner Name. Äähhmm, ich darf also nicht mit Ihnen da rein?“
„Wenn Sie auch einkaufen wollen, kann ich Sie nicht davon abhalten. Um mich weiter zu schieben? Dafür nicht.“
„Verstehe. Aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich es sehr angenehm fand und ich das gern wiederholen würde.“
„Ich fand’s auch gut. Wir werden sehen Bastian. Aber ich muss jetzt wirklich. Ciao dann.“
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