Private Eyes - Kapitel 1

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Private Eyes - Kapitel 1

Private Eyes - Kapitel 1

Gero Hard

„Mama ich muss jetzt auflegen ... ja ich weiß, ich werde vorsichtig sein. Bin auch kein kleines Kind mehr … doch ehrlich, ich muss jetzt Schluss machen. Grüß Papa lieb … nun hör auf zu weinen Mama, ich komme schon zurecht … Natürlich verstehe ich, dass du dir Sorgen machst … du musst kein schlechtes Gewissen haben … Mama, nun mach kein Drama draus … ich bin doch nicht aus der Welt und meine neuen Kollegen sind echt nett … doch … was? Nein, es ist alles in Ordnung. Tschüss Mama, fühl dich gedrückt.“ – klack

Wow, ich liebe meine Eltern, wirklich. Aber die Telefonate mit meiner Mama sind jedes Mal eine Herausforderung.
Was davor geschah: Mutti wird sich ewig Vorwürfe machen, das weiß ich genau. Wäre sie nicht so schreckhaft gewesen und hätte ängstlich das Lenkrad verrissen, als wir von dem Laster geschnitten wurden und wären wir dann nicht die dumme Böschung runtergestürzt, und dabei mit dem Auto überschlagen, und wären meine Beine nicht unter dem Armaturenbrett eingeklemmt worden, dann ginge es mir jetzt besser. Hätte, hätte, Fahrradkette …
Nachdem die Airbags aufgingen und ich dadurch einen heftigen Schlag gegen die Brust bekam, gingen bei mir die Lichter aus. Die ich dann erst wieder sah, als ich im Krankenhaus mit Kopfschmerzen aufgewacht bin.
Ich spürte den Blutdruck und den Herzschlag in meinem Oberschenkel. Ein pulsieren, kurz über dem Knie. Automatisch wollte ich dorthin fassen. Fühlen, worin die Ursache dafür lag.

„Tu’s nicht.“, sagte mein Vater neben meinem Bett stehend, meinen Arm festhaltend, der bereits auf dem Weg zu meinem Bein war.
„Wieso nicht, was ist da?“
„Anni mein Schatz, ihr hattet einen Unfall, Mama und du. Ihr hattet viel Glück.“, erklärte er.
Jetzt erinnerte ich mich wage. Der Laster … natürlich. Die Welt drehte sich um mich, oder ich mich um die Welt? Die Überschläge … dann der harte Aufschlag. Das Auto hatte sich über meine Seite abgerollt. Mama? Was war mit ihr?
„Mama? Was ist mit ihr, geht es ihr gut?“, fragte ich voller Sorge.
„Doch ja, sie hatte mehr Glück als du. Der Gurt und die Airbags haben euch vor schlimmerem bewahrt. Sie hat nur eine Gehirnerschütterung.“, klärte er mich auf.
„Und ich, warum darf ich mir nicht ans Bein fassen Papa?“
„Weil da keines mehr ist mein Liebling.“
„Was sagst du? Quatsch, ich kann es doch genau fühlen. Und der Schmerz, den bilde ich mir doch nicht ein. Sieh hin, es ist doch da.“
„Doch Liebes, tust du. Das nennt man Phantomschmerz.“

Das war der Moment, in dem ich an mir heruntersah und feststellen musste, dass unter der Bettdecke nur ein Fuß zu erkennen war. Dort, wo ich mein Bein genau fühlte, lag die Bettdecke flach auf der Matratze. Meine Hand wollte prüfen, was die Augen sahen, aber das Gehirn nicht verstand.
Bereit auf alles gefasst zu sein, fuhren meine Finger über meinen Beckenknochen, ertasteten die Leiste und fühlten das feste Fleisch meines Oberschenkels. Bis hierher war schon mal alles in bester Ordnung.
Zehn, vielleicht fünfzehn Zentimeter tiefer wurde der Oberschenkel schmaler. Auch das war noch wie gewohnt und anscheinend unverletzt. Plötzlich endete der Schenkel. Kein Knie, dass sich an der Stelle für gewöhnlich befand. Kein Knochen, der das Schienbein bildete. Erschrocken schlug ich die Bettdecke zur Seite …
Das konnte doch nicht sein, ich fühle es doch, spürte das Geweicht des Beines, den pochenden Schmerz des Blutdrucks. Und unter der Fußsohle … wie konnte es da jucken, wenn der Fuß doch nicht da war?
Ich schlug die Hände vors Gesicht und konnte die Tränen nicht zurückhalten, heulte laut und schluchzte mitleiderregend. Papa zog mich, so gut es eben ging, an sich und versuchte mich zu trösten. Tausend Dinge schossen mir in den Kopf. Dass ich nie wieder gehen konnte, zum Beispiel, was natürlich völliger Mumpitz war. Oder nichts wars mehr mit den ausgedehnten Joggingrunden, wie ich sie gewohnt war, was genauso Kokolores war.
Für mich bedeutete es das Ende meines bisherigen Lebens und ein neues, eines amputierten Unterschenkels angepasstes, erwartete mich. Es machte mir Angst, was auf mich zukommen würde. Es machte mir Angst, wie die Menschen um mich herum künftig mit mir umgehen würden, Familie, Freunde, Kollegen, werden sie mich ausgrenzen, mit Argwohn betrachten oder deshalb gar ignorieren? Mich mit Mitleid überschütten, was ich aber nicht möchte. Fragen, auf die ich keine Antwort hatte … noch nicht.

„Lass mich jetzt bitte allein Papa.“
„Aber Anni …“
„Bitte Papa.“

Entschlossen legte ich ihm einen Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf. Er verstand, gab mir traurig einen Kuss auf die Stirn und ging mit hängenden Schultern aus dem Zimmer. Ich drückte den Knopf am Bett, der das Kopfteil in die Senkrechte fahren konnte.
Der Verband verdeckte den frisch vernähten Stumpf. Immer wieder strich ich darüber. Versuchte meine Berührungen zu fühlen. Ich musste unbedingt wissen, ob ich noch Gefühl im Bein hatte. Lange sah ich die ungleich gewordenen Beine an. Was nun? Ich wusste es nicht und hatte auch keine Idee für die Zukunft.
Papa musste eine Krankenschwester angesprochen und nach einem Beruhigungsmittel für mich gefragt haben. Er hatte wohl den Eindruck, ich würde kurz davor sein, durchzudrehen. Ganz weit daneben lag er damit nicht.
Eine Schwester kam jedenfalls rein und gab mir einen kleinen Becher mit einer Tablette und einem Glas Wasser.

„Nur ein leichtes Beruhigungsmittel.“, beantwortete sie meinen fragenden Blick.
„Eigentlich würde ich viel lieber mit einem Arzt sprechen.“, ließ ich sie wissen.
„Das können Sie auch. Bitte nehmen sie trotzdem eben die Tablette, sie wird Ihnen helfen. Dann sage ich dem Arzt Bescheid.“

Sie lächelte nett, wartete geduldig, bis ich die Pille geschluckt hatte und ging dann raus.
Es dauerte noch eine Weile, bis der Arzt bei mir am Bett stand und mich über die Verletzung aufklärte. Auch, warum man mir das Bein abnehmen musste. Die Information, dass man mich sonst nicht aus dem Auto bekommen hätte, weil das Bein unter dem Armaturenbett eingequetscht war, tröstete mich auch nicht sonderlich. Aber es erklärte, warum es nun war, wie es eben war.
Wir redeten lange, er nahm sich wirklich viel Zeit für mich. Klärte mich über Behandlungsverläufe auf, Risiken, Komplikationen, die sich einstellen konnten, informierte mich zu den Möglichkeiten moderner Prothetik und schaffte es sogar, mir damit etwas Hoffnung zu machen. Beispiele gut gemachter Prothesen gab es genug und Sportler, die mit deren Hilfe Höchstleistungen vollbringen konnten, auch. Er machte mir das gekonnt an ein paar Beispielen bei den Paralympics deutlich.
Meine Mutter war bald über den Berg und konnte wieder nach Hause. Ich lag nun da und musste mir jeden Tag von den Beiden anhören, dass auch bei mir alles wieder gut werden würde. Ich müsse nur Geduld haben und den festen Willen aufbringen. Auf jeden Fall wären sie so oder so für mich da und würden mich unterstützen, wo es nur ginge.

Die Wunde verheilte gut und ich hatte versucht, meinen Frieden mit der Amputation zu machen, was mir nur mit mittelmäßigem Erfolg gelang. Die Physiotherapeuten trainierten meine Oberarme, das gesunde Bein, aber auch den Stumpf, um den Muskel auf seine spätere Aufgabe vorzubereiten.
Meine Eltern pflegten mich kranker, als ich es vorher war. Mir wurde buchstäblich alles vor den Arsch getragen, alles so Leichte abgenommen und wenn ich einen Wunsch hatte, wurde er erfüllt, noch bevor ich ihn zu Ende ausgesprochen hatte. Wahrscheinlich ein typisch elterliches Verhalten, zumal sich meine Mutter ständig Vorwürfe machte, schließlich sei sie schuld an meinem Zustand. „Zustand“, wenn ich das schon hörte, drehte sich mir der Magen um.
Ich musste da raus, sonst würde ich verrückt werden, soviel war klar. Nur, wie ich das meinen Eltern beibringen sollte, dazu hatte ich keine Idee.
Die Lösung kam dann mit einem neuen Jobangebot. Mein Arbeitgeber bot mir eine neue Stelle in Berlin an, direkt in der Zentrale. Dadurch konnte ich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Neuer Job, bessere Bezahlung, gute Aufstiegschancen und kürzere Entscheidungswege, mehr Verantwortung und was das Beste war: weg von meinen Eltern, aber nicht von dieser Welt.
Dazu muss ich kurz anfügen, dass ich in Falkensee lebte, direkt im Speckgürtel von Berlin, zwischen Potsdam und Spandau. Ich arbeitete bei der Berliner Volksbank in der Kreditabteilung. In Berlin sollte ich dann in der Immobilienfinanzierung tätig sein, Bewertungen und Ausschreibungen gestalten. Genau mein Ding, also sagte ich, ohne lange zu überlegen, zu.
Beruflich war somit alles im Lack, wie man so schön sagt. Nur privat hatte ich ein paar dicke Kröten zu schlucken. Erst der Unfall, der mich um Jahre zurückwarf, dann Matthias, mein langjähriger Verlobter, der nicht mehr mit mir klarkam, weil ich nur noch ein Bein hatte. Es würde ihn abtörnen, er würde keinen mehr hochbekommen, wenn er meinen Stumpf vor Augen hatte. Außerdem könnte ich nicht mehr meine Beine um seinen Arsch schlingen, wenn wir miteinander fickten. Für mich klang das nach einer Sammlung von Ausreden, die er nun als guten Vorwand vorschieben konnte, um sich von mir zu trennen, was er dann auch verzugslos und emotional recht unterkühlt tat.
Ok, so ein narzisstisches Arschloch war auch niemand, den ich für den Rest meines Lebens um mich haben wollte. Ich ärgerte mich lange über mich selbst, weil ich sein wahres Gesicht nicht erkannt hatte. Aber nachdem das passiert war, kam ich schnell über seine Trennung hinweg.

Ich zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und verzog mich mit meinen sieben Sachen zu meinen Eltern, die mich mit offenen Armen empfingen und mich völlig überbehütet umsorgten, als wäre ich ein kleines Kind. Meine Güte, ich war siebenundzwanzig Jahre alt und alles andere als ein kleines Kind.
Die Immobilienabteilung der Bank unterstützte mich bei der Wohnungssuche in der Nähe der Zentrale. Das Ergebnis war zwar klein, aber frisch renoviert und dadurch modern geworden. 1.Obergeschoss, nach hinten raus und dementsprechend ruhig. Genau das, was ich jetzt brauchte: ein kleines, bezahlbares Reich, in das ich mich abends zurückziehen konnte und in dem die Türen breit genug für meinen Rollstuhl waren.
Ein Sportstuhl übrigens, extra schmaler Sitzfläche und schmalen Rädern. Schmal deshalb, weil ich selbst auch nur eine zierliche Person bin. Umgangssprachlich nannte man so jemanden wie mich wohl „halbe Portion“ oder „halbe Lunge.“
Meine Eltern erledigten den Umzug, beziehungsweise fuhren meinen Kram, halfen beim Saubermachen und Einräumen. Meine Mutter heulte Schnotten und Rotz, nachdem alles verstaut war und sie mich alleine zurücklassen musste.
Für mich war es ein zweischneidiges Schwert. Einerseits tat es gut und kam mir wie eine Erlösung vor, endlich wieder auf eigenem Fuß zu stehen, doch andererseits fühlte ich mich in manchen Dingen hilflos und vor allem alleingelassen.
Die paar Meter bis zur Bank waren mit dem Rolli kein Problem. Ok, zu Anfang taten mir doch ein wenig die Arme weh, wenn ich die Strecke hinter mich gebracht hatte. Das zusätzliche Training kam mir allerdings recht gelegen, denn im Büro versuchte ich so viel wie möglich mein Bein zu nutzen, zuhause sowieso.

Einige Wochen waren ins Land gegangen. Ich war immer noch allein, denn die Flirtversuche meiner Kollegen und auch die Annäherungsversuche anderer Kandidaten wehrte ich erfolgreich ab.
Wir, also meine Eltern und ich, feierten Weihnachten und Sylvester zusammen und auch meinen achtundzwanzigsten Geburtstag am 25. März. Das Leben hatte mich insoweit wieder, dass ich mich ganz gut zurechtfand und mich auch an das fehlende Bein gewöhnt hatte. So schwer war das gar nicht, aber die Joggingrunden von früher, fehlten mir richtig.
Und der Sex natürlich. Mein batteriebetriebener Freund war zwar fleißig und unermüdlich, aber kein wirklicher Ersatz für ein hartes, pulsierendes Stück Fleisch, benutzt von einem Herrn, der gut damit umgehen konnte. Dabei kam es mir nicht unbedingt auf die Größe an. Ich brauchte keinen zwanzig Zentimeterschwanz oder einen, der dick wie ein Frauenunterarm war. Wie schon erwähnt, bin ich selbst sehr zierlich und auch untenrum ziemlich eng gebaut. Mir reichte ein durchschnittlicher Lümmel, mittelmäßig lang und dick, wie ihn wohl die überwiegende Mehrheit der Herren zwischen den Beinen trug, um mich glücklich zu machen. Aber wenn ich ehrlich war, hatte die Trennung von Matthias einen ziemlichen Knacks in mir verursacht. Nur deshalb tat ich mit gutem Erfolg auf „Frau Unterkühlt“.
So weit so gut. Dann geriet mein bis dahin geordnetes, sittsames Leben ein wenig aus den Fugen. Und das kam so …

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