Sie nahmen Olivers großen Firmenwagen. Silke setzte sich hinter das Steuer, denn nur sie kannte ja das Ziel. Als sie in die Randbezirke der Stadt fuhren, vorbei an der Agentur für Arbeit und in ein Gewerbegebiet, konnte Oliver sich seine Frage nicht mehr länger verkneifen.
„Bist du sicher, dass du dich nicht verfahren hast? Ich wüsste beim besten Willen nicht, wo man hier seinen Hochzeitstag feiern sollte.“
„Wir sind gleich da.“ antwortete Silke einsilbig. Jetzt, da sie sich ihrem Mann offenbaren musste, rutschte ihr das Herz in die imaginäre Hose. Mit zitternden Händen lenkte sie den Wagen in die Parkplatzeinfahrt.
„Da sind wir.“ sagte sie überflüssigerweise, ließ jedoch den Motor laufen. `Wie ein Dieb, der mit rascher Flucht rechnen muss´. dachte sie beklommen.
Oliver musterte skeptisch das neue, zweistöckige Gebäude, das sich zwischen einer Industrieruine und Brachland erhob. Es hätte ein völlig normales Firmengebäude eines völlig normalen mittelständischen Betriebes sein können. Dass dem nicht so war, erkannte er daran, dass die Fenster mit Folie überklebt waren und über dem Eingang eine Neonschrift im Stil der fünfziger Jahre prangte.
„Lust und Liebe“ las er und sah fragend seine Frau an, die nervös den Saum ihres Kleides über ihre Knie zu ziehen versuchte.
„Ist es das, was ich denke?“
Silke nickte bekümmert. Am liebsten hätte sie sich an einen anderen Ort gewünscht.
Oliver schob die Unterlippe vor und presste die Spitzen seiner gespreizten Finger aneinander.
„Da ist man nun ein Jahrzehnt lang mit einer Frau verheiratet und lernt immer noch neue, bisher verborgene Seiten an ihr kennen. Darauf wäre ich mein Lebtag nicht gekommen.“
Silke wagte, den Kopf zu drehen und Oliver in die Augen zu sehen. „Meinst du…“ begann sie zaghaft.
„Und ob ich das meine!“ rief er und strahlte sie an. „Die Überraschung ist dir wirklich gelungen. Los, worauf warten wir noch?“
Ihr fiel buchstäblich eine Abrissbirne vom Herzen. Sie schaltete den Motor aus. Oliver stieg aus, schnappte sich die Reisetasche, eilte um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. Mit einem Anflug von Verlegenheit ließ sie sich beim Aussteigen behilflich sein. Um die Hüften gefasst wie ein frisch verliebtes Paar schlenderten sie auf den Eingang zu.
Nachdem sie eine Art Windfang durchschritten hatten, gelangten sie durch eine blickdichte Glastür mit der Aufschrift „nur für angemeldete Gäste“ in einen von gedämpftem Licht erfüllten, trotz der frühlingshaften Temperaturen gut geheizten Empfangsraum. Die Wände waren mit Ornamenten im Jugendstil geschmückt. Überall hingen zwar künstlerisch wertlose, aber umso erotischere Portraits leicht bekleideter junger Mädchen. Auch die Gemälde einiger reiferer Frauen waren darunter. Manche Darstellungen zeigten martialisch maskierte Amazonen in Lack und Leder. Als versöhnlicher Ausgleich erhob sich in der Mitte des Raumes die Skulptur einer nackten Göttin, deren anatomische Merkmale auf das genaueste herausgearbeitet waren. Silke und Oliver wandten sich - bemüht, ihre zur Schau gestellte Selbstsicherheit zu wahren - an den breiten Empfangstresen, hinter dem eine rothaarige junge Dame neben einem großen Heizstrahler saß und sie mit einem herzlichen Lächeln auf dem dick geschminkten Mund und mit unüberhörbarem fränkischem Dialekt willkommen hieß.
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