Rotweinflecken

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Rotweinflecken

Rotweinflecken

Yupag Chinasky

Dies ist ein Kapitel aus dem Roman „Götterdämmerung“ von Yupag Chinasky. Der als print-on demand oder als e-book bei epubli.de, Amazon oder anderen Anbietern erworben werden kann.

„Soll ich dir noch etwas Lustiges erzählen? So einen richtigen Schwank aus meinem Leben?“, fragte sie und es kam ihm vor, dass ihre Zunge reichlich schwer war. „Ich könnte dir noch so viel erzählen, glaub mir, die ganze Nacht, von skurrilen Gästen, von alten Schachteln und deren jungen Lovern, die zähneknirschend hier ausharren mussten, hier, in der Bergwüste, von den Filmdreh…, von den Filmdrehungen, o Scheiße, von den Filmmänschn. Verstehst du, was ich meine? Da gibt es erst Sachen. Wie die gesoffen haben und gevögelt und gefeiert und geschimpft und gejodelt. Jawohl, wenn die besoffen waren, haben sie einen Jodelwettbewerb angehalten, Quatsch, abgehalten natürlich. Ehrlich, ob du es glaubst oder nicht. Auf der Alm do gibt’s koa Sünd. Schatzi jodel mir noch einen in die Lederhosn nei.“ Sie lachte, diesmal nicht traurig, aber doch immer noch verhalten. „Nein, keine Filmgeschichtchen, keine Schlüpfer..., Schlüpfrigkeiten. Nichts, wobei sich der brave Bubi entsetzt die Ohren zuhalten müsste. Ich erzähle dir die Geschichte vom Vogel-Grafner. Ja, die will ich jetzt erzählen, die ist einmalig. Du erinnerst dich, ich habe ihn heute Nachmittag schon erwähnt, der mit Willi den Fiat gekauft hat, das Faktotum, den früheren Taxiunternehmer, der bis vor einem Jahr für uns gearbeitet hat, André Grafner, den Ex-Chef von Grafner-Reisen? Willst du wissen, warum wir ihn seit kurzem Vogel-Grafner nennen? Also pass auf. Grafner fuhr immer mit seinem VW-Bully herum, das hatte ich dir ja schon erzählt, mit seinem schönen gelb-roten VW-Bus. Besorgungen machen, Leute chauffieren, in die Stadt, zur Bahn, um zu erledigen, was eben in so einem Hotel alles anfällt. Er hatte immer noch genug zu tun, obwohl sich unser Betrieb bereits dem Scheintod näherte. Vor etwas mehr als einem Jahr, ich weiß noch den Tag, weil ich da zum ersten Mal ein neues Kleid anhatte und mir vor lauter Lachen ein ganzes Glas Rotwein auf das Kleid geschüttet habe, obwohl die Geschichte eigentlich gar nicht zum Lachen war, für den André jedenfalls. Ein ganzes Glas Rotwein, das ich in der Hand hielt, auf ein neues, weißes Kleid. Das vergisst man nicht, aber auch den Grund dieser tragischen Komödie werde ich nie vergessen.“

„So gegen Abend hielt ein Auto vor dem Hotel und ein Mann kam aufgeregt in die Rezeption gerannt. Er habe in seinem Wagen einen verletzten Menschen sitzen, der hier herwollte, aber jetzt nicht mehr aussteigen könne und ob wir ihn übernähmen. Wer saß im Auto? André Grafner, totenbleich, aufgelöst, jammernd. Wir hievten ihn mit vereinten Kräften heraus, brachten ihn in die Halle und legten ihn auf das breite Ledersofa am Kamin. Es stellte sich später heraus, dass sein linkes Knie zerschmettert war. Oder war es das rechte? Egal, jedenfalls passierte das Malheur bei einem höchst seltsamen Autounfall, den er uns haarklein erzählte, nach ein paar Cognacs und trotz seiner Schmerzen, während wir auf das Sanitätsauto warteten. Und ich doofe Kuh habe dann, als ich die Geschichte gehört hatte, so unbändig gelacht, dass in meinem Rotweinglas ein Tornado entfacht wurde. André wollte Holz für den Kamin in der Halle holen. Er fuhr, wie schon so oft, die Bergstraße hoch, bog in einen Waldweg ab und erreichte nach einem halben Kilometer eine Lichtung, auf der die großen Holzscheite gestapelt waren, die er abholen sollte. Schon beim Hineinfahren in den Wald, sagte er, seien ihm ungewöhnlich viele Vögel aufgefallen. Vögel, die herumflogen und krächzten und auf Bäumen saßen, auf Ästen, auf gefällten Baumstämmen, auf dem Boden. Überall flogen und saßen und hüpften diese Viecher in großer Zahl. Er meinte, es waren Krähen, aber solche, wie es sie hier normalerweise nicht gibt, Wanderkrähen meinte er, Wanderkrähen aus Sibirien, Wanderratten der Lüfte. Jedenfalls machten sie ein Riesenspektakel, als er anfing, die Holzscheite in den Bully zu laden. Erst kamen einige wenige auf ihn zugeflogen, machten Scheinangriffe und krakeelten, wie er noch nie Vögel krakeelen gehört habe. Dann kamen immer mehr und die Lage wurde so langsam bedrohlich. Als ihn eine angriff und ihm die Mütze vom Kopf fegen wollte, habe er hastig die Heckklappe zugeschlagen und begonnen, sich auf den Fahrersitz zu verziehen. Dabei, bei diesem kurzen Weg von wenigen Metern, um den Bully herum, hätten sich diese gottverdammten Viecher regelrecht auf ihn gestürzt und ihn angegriffen und angeschissen, als ob sie ihn hindern wollten, abzuhauen. Er sei um sein Leben gerannt und sei heilfroh gewesen, als er in Sicherheit war, als er auf dem Fahrersitz saß und die Tür zu war. Es sei, wie, wie in diesem Vogelfilm gewesen, diesem berühmten von dem, wie hieß er noch gleich, diesem Hitschhock, genau so. Er sei natürlich ganz aufgeregt gewesen, habe Angst gehabt, richtig Angst und keine Ahnung, warum die so aggressiv waren und ausgerechnet ihn angegriffen hätten, diese Todesvögel. Er hätte ihnen doch nichts getan, rein gar nichts. Nichts wie weg, habe er sich dann gesagt und den Motor angelassen. Aber kaum hätten diese schwarzen Teufel, diese Miniaasgeier das Motorengeräusch gehört, hätten sie sich auf seinen VW-Bus gestürzt. Sie hätten mit ihren spitzen, harten Schnäbeln auf die Karosserie eingehackt und die Scheiben vollgeschissen, vor allem die Windschutzscheibe, als ob sie ihn durch die Scheibe gesehen hätten und angreifen wollten. Es sei gespenstisch gewesen, genau wie bei diesem Hitschhok. Wie heißt er? Hitchcock, sagte ich und André, fuhr fort, also wie bei diesem Hitchcock. Wenn er hingefallen wäre, behauptete André, auf seiner kurzen Flucht um den VW-Bus herum, hätten sie ihn bestimmt kalt gemacht und aufgefressen, diese Hyänen der Lüfte. Nicht mal die Knochen hätten die übrig gelassen. Bevor er losfahren konnte, habe er die Scheibenwischer einschalten müssen, um überhaupt etwas zu sehen, aber dummerweise sei kein Wasser mehr in der Waschanlage gewesen und so sei die Scheibe von den Wischblättern verschmiert worden, aber total. Er sei trotzdem losgefahren, weil er nicht gewagt habe, auszusteigen und die Scheibe zu reinigen und auch nicht abwarten wollte, bis diese Brut sich verzogen hätte, das hätte ja noch Stunden dauern können oder Tage. Er wollte nur weg, nichts wie weg und den Elendsviechern entkommen. Er fuhr, obwohl er durch die Frontscheibe fast nichts mehr gesehen habe, Blindflug sozusagen, besser gesagt Blindfahrt auf dem Waldweg. Und dann sei die Scheiße passiert. Er sei aus Angst viel zu schnell gefahren und als er auf die Landstraße einbiegen wollte, sei er von dem Waldweg abgekommen und mit Karacho im Straßengraben gelandet und blöderweise sei genau da ein Baum gestanden und er sei mit Karacho auf den Baum geprallt. Und weil der VW-Bus ja keinen Motor vorne habe, keine, wie sagt man, keine Knutschzone, Quatsch, Knautschzone natürlich, habe der Baum die Fahrerkabine eingedrückt und ihm sein Knie kaputt gemacht. Na ja, der Rest sei ja bekannt. Ein Autofahrer habe das Auto im Straßengraben gesehen und angehalten und ihn mitgenommen. Zum Glück sei er nicht eingeklemmt gewesen, in seinem Cockpit und zum Glück hätten diese Scheißviecher ihre Lichtung nicht verlassen und hätten seine Rettung auch nicht behindert.“

 

„Ich habe mir die Situation mit den Vögeln und dem kleinen, dicken, runden Grafner, der um sein Leben rannte, bildlich vorgestellt, obwohl mir klar war, dass André vermutlich wie immer maßlos übertrieben hatte. Er war einer, der immer dramatisierte und Gespenster an den Horizont malte. Ob die Vögel ihn tatsächlich angegriffen haben, so wild und direkt, wie er es dargestellt hatte, sei dahingestellt. Dass sie ihm die Frontscheibe verschissen haben und er in den Graben gefahren war mit diesem üblen Ausgang, war aber unbestritten. Er lag ja vor uns, der arme André, auf dem großen Sofa in der Halle, ganz bleich und aufgeregt und er hatte Schmerzen, auch keine Frage. Aber was die Vögel tatsächlich von ihm wollten? Ich habe mir jedenfalls noch etwas ganz anderes vorgestellt. Du musst wissen, der Grafner hat für solche Arbeiten immer seine alte, rote Lederjacke angezogen, sozusagen seine Uniform von früher, auf dem Rücken stand „Grafner-Reisen“ und auf dem Kopf trug er die passende Mütze, auch aus Leder, auch weinrot, wie der Bully und genauso zerknautscht wie die Jacke. Ich habe mir auf einmal vorgestellt, dass der dicke, runde Grafner wie ein roher Riesenklops ausgesehen hat, wie eine Kugel aus Hackepeter, wie Tatar und dass die armen, hungrigen Krähen in ihm einen willkommenen Snack gesehen haben, einen Hamburger ohne Kluntschbrötchen, von dem sie sich ihren Anteil picken wollten. Vielleicht waren die Vögel noch wegen der Nachwirkungen des Sozialismus in der ehemaligen Sowjetunion so ausgehungert oder sie kamen direkt aus Nordkorea, wo es ja angeblich gar nichts gibt, egal, Grafner erschien ihnen jedenfalls besonders appetitlich. Diese Vorstellung war der Grund, dass ich zu lachen anfing, so was von lachen und als ich mir dann weiter vorstellte, dass André ein Torero sei, der Don Escamillo aus Carmen, meiner Lieblingsoper, und die Krähen die Stiere, viele Stiere, die sich auf ihn stürzen, weil das Rot der Jacke und der Mütze sie reizte, hätte ich mich kugeln und kringeln können. Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht! André, der dicke André als Torero und die Krähen als Stiere, dieser Gedanke war umwerfend komisch und ich musste immer noch mehr lachen und noch mehr. Ich konnte mich nicht mehr halten vor Lachen, ich habe am ganzen Körper gebebt und da ist dann der Tornado entstanden und mein unschuldiges, weißes Kleid war plötzlich nicht mehr unschuldig, nicht mehr Immaculata. Der riesige rote Fleck hat mich ernüchtert und auf einmal war mir mein Gelächter so was von peinlich, du kannst es dir gar nicht vorstellen, wie peinlich das für mich war. Ich lache und der arme Mann liegt mit zerschmettertem Knie auf dem Sofa. Ich habe mich bei André vielmals entschuldigt und ihm später ein paar Flaschen Wein geschenkt. Aber er war in dem Moment gar nicht sauer gewesen, als er die Story erzählte und ich so lachte, nur Schmerzen hatte er gehabt und deswegen habe er nicht mitgelacht, wie er mir später sagte. Dass man über so ein blödes Missgeschick lachen könne, das könne er schon verstehen, da solle ich mir nichts draus machen. Als endlich der Sanka kam, hier dauert alles immer viel länger als in der Stadt, wurde Grafner ins Krankenhaus gebracht und operiert. Aber es gab Komplikationen, sein Knie blieb steif und er braucht ein neues Kniegelenk und bis er das hat, wird es noch länger dauern. Bis dahin, Autofahren adé! Hoteljob, adé! Und wenn er wieder fahren kann, gibt es kein „Grand Hotel“ mehr. Aber, und das ist das Tröstliche an der Geschichte, er ist auf dem Weg der Besserung, der Vogel-Grafner und er wird nun mit diesem Spitznamen leben müssen.

 

Anas schwere Zunge war beim Erzählen der Tragikkomödie immer leichter geworden und ihre Stimmung immer besser und sie lachte, ein bisschen so, wie sie wohl damals auch gelacht hatte. Sie fing sich aber rasch wieder und meinte, „Jetzt erzähl ich dir nur noch etwas von Antonio, unserem Starkoch, das ist aber meine letzte Geschichte, versprochen. Der Antonio, der hat vielleicht ein bescheuertes Hobby, eins, das richtig arm machen kann“. Sie nahm die Karaffe mit dem Rotwein und goss sich das letzte Schlückchen in ihr Glas. „Ach, jetzt habe ich alles für mich genommen. Aber komm, wir teilen. Brüderlich. Brüderlein fein. Schwesterlich. Schwesterlein klein. Immer rein!“ Sie setzte sich wieder neben ihn und führte das halbvolle Glas an seinen Mund. „Hier, mein Lieberle, komm trink mit mir. Trink und denk an Ana, an die traurige Ana, die trotzdem lachen muss.“ Sie hob das Glas und neigte es ungeschickt, so dass ein Teil des Weins an seinem halb geöffneten Mund vorbei und das Kinn hinab rann, auf seinen Hemdkragen, auf den Pullover. Sogar bis auf die Hose rann der rote Saft. „Tschuldigung! Entschuldigen Sie, mein Herr, dies kleine Missgeschick. Betienung!“ schrie sie in gespieltem Entsetzen. „Betienung, eine neue Serviette pittte, aber etwas plötzlich, wenn ich pittten darf.“ Die erneute Ungeschicklichkeit mit Rotwein tat ihr offensichtlich gar nicht leid, sie lachte und hob ihre Hand, um über seinen Mund zu wischen, doch dann war auf einmal ihr Gesicht ganz nahe an seinem Gesicht und dann geschah etwas Unerwartetes. „Wenn wir keine Serviette haben, muss es auch so gehen“, flüsterte sie und streckte ihre Zunge heraus und leckte ihm die Tropfen vom Mundwinkel und vom Kinn und versuchte dann sogar, seinen Hemdkragen mit ihrer Zunge zu reinigen. Er war leicht pikiert, straffte seinen Oberkörper, zog sich in einen Panzer zurück. Sie merkte seine Abwehr, ließ von ihm ab und lehnte sich wieder zurück. Plötzlich schien ihr klar geworden zu sein, was sie da gemacht hatte und dass es wohl nicht so ganz schicklich war, einem Fremden, einem Gast das Gesicht abzulecken, wie ein Hund, wie so ein Beagel mit den treudoofen Augen und den Schlabberzungen. Pfui Deibel! Rief sie in gespielter Entrüstung und die Ernüchterung schien zurückgekehrt zu sein. Wieder und wieder sagte sie, genauso leise, genauso verklemmt, wie im Weinkeller: „Entschuldigung.“ Aber er hatte das Gefühl, dass sie das gar nicht ernst meinte und dass sie ihre Zungenarbeit in keiner Weise bereute und ein wenig ärgerte er sich, dass er so saublöd reagiert hatte, so pingelig, so ete-petete, aber der kurze Moment der Annäherung war nun vorbei, der Zauber verflogen und auch der Rotwein war nicht mehr da, nicht einmal mehr Flecken, zumindest keine sichtbaren.

 

Vielleicht hatte diese Begebenheit sie irritiert oder möglicherweise auf eine Idee gebracht, denn statt mit der Antoniogeschichte zu beginnen, löste sie sich von seiner Seite auf dem schmalen Sofa und ging schnellen Schritts zu der Stereoanlage, die in dem Wandregal hinter der Theke eingebaut war. Während sie in einem Stapel CDs eine bestimmte suchte, meinte sie, dass Antonio noch warten könne, er würde ja nicht weglaufen, der echte nicht, der sich jetzt gerade bestimmt voller Unruhe in seinem schmalen Bett wälzen würde und auch die Geschichte nicht. Sie hatte die richtige CD gefunden und schob sie in den Schlitz des Recorders. Musik füllte den Raum. Peter Maffay ging über sieben Brücken, dann fragte Roland Kaiser wie lang er noch widerstehen könne, bevor er manchmal den unerlaubten Weg zu Ende ging. “Wie du merkst, haben wir nicht nur antike Musiktruhen und Wagnerplatten. Die da oben ist einfach eine Masche meines Onkels, reine Nostalgie. Er hängt an dem Monstrum. Sie erinnert ihn an die besten Zeiten seines Lebens, an die Anfänge des Hotels, die Blütenträume, die alle in Erfüllung zu gehen schienen. Forget it! Was hältst du von einem Tänzchen? Dann kann ich den ganzen Mist, der gerade so auf mich zukommt, besser vergessen. Um es gleich zu sagen, diese Musik ist nicht unbedingt mein Fall, zu viel seichte Schlager, banale Barmusik, aber zum Träumen und zum Vergessen ganz gut. Mit Musik ist es wie mit dem Lesen. Beide kosten Zeit, wenn man etwas davon haben will. Man muss sich konzentrieren und man sollte diese kostbare Zeit nicht mit Mist verplempern, dafür hat man zu wenig davon im Leben, von der Zeit, nicht vom Mist. Aber was quatsche ich dich so philosophisch an, manchmal will man eben Mist, manchmal ist ein bonbonbuntes, eckelig süßes Softeis besser als teurer, salziger Kaviar. Komm wir tanzen und träumen bei Popscheiße und Schmachtfetzen.“ Sie lachte ihn an, ihre Augen strahlten wie die eines frisch verliebten Teenagers, der in der Tanzstunde völlig unerwartet von seinem heimlichen Schwarm aufgefordert wird. Auch er fühlte sich plötzlich als Teenager. Seine Knie waren ungewohnt weich, als er aufstand und seinen rechten Arm dezent um ihre Taille legte und ihre Hand in seiner Linken hielt, in gebührendem Abstand, so als wollte er Distanz schaffen. Er war in der Tat von Anas Vorschlag zu tanzen, überrascht worden und es war ihm fast ein wenig unangenehm, denn er war kein guter Tänzer, er konnte weder den Takt richtig halten noch gut führen, ein lausiger Gigolo. Und so war es auch jetzt. Er stakste herum, Ana führte, Ana war gut und er merkte, dass sie gern tanzte. Er hatte schon lange nicht mehr getanzt und auch früher, als er noch jünger und dynamischer war und auf der Suche nach dem anderen Geschlecht, tanzte er nur, um mit Mädchen in Kontakt zu kommen, um zu schäkern und zu flirten. Für ihn war das Tanzen allein nie Lustgewinn, nie Selbstzweck, selbst in der Tanzstunde hatten ihn die Bewegung, die Eleganz und Harmonie, der Einklang mit der Musik nicht so recht begeistert, das alles war ihm schon damals ziemlich egal gewesen und so war es geblieben. Tanzen, um das Tanzen willens, nein. Tanzen, um anzubaggern und dann abzuschleppen, ja. Jetzt also tanzen, nach langer Zeit zum ersten Mal wieder, um wessen willen? Er ließ mit sich tanzen. Er dreht sich folgsam bei den langsamen Walzern und erinnerte sich an den „Wie-ge-schritt“ beim Tango und das Geknutsche bei den Rumbas. Aber Ana ließ sich durch seine Stocksteife nicht beirren. Sie führte ihn über das abgeschabte Parkett und er folgte ihr während Major Toms Raumschiff „völlig losgelöst von der Erde schwebte, völlig schwerelos“, gefolgt von Inga Humpes Ohrwurm: „denn die Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, die macht viel Spaß, viel mehr Spaß als irgendwas.“ Da hatte sie mal recht, die Inga, dachte er.

 

Nach einigen Schlagern aus längst vergangenen Hitparaden, Schlagerparaden, wie man damals sagte, die Ana über sich ergehen ließ, fast schon erduldete, meinte sie unvermittelt, dass sie dieses Geseiche und Geschleime und Gesäusele einfach nicht mehr aushalten könne und ging erneut zur Stereoanlage. Sie verließen das Tal der Tränen und der Schnulzen, nicht jedoch ihren innigen Tanzstil. Und als die Beatles verkündeten, „All you need is love, love, love is all you need“ und Ibrahim Ferrer erst „Quiereme mucho“ und dann „Besame mucho“ sang und Antony Quinn sein „I love you“ knarrzte, blieben sie endlich fast stehen, bewegten sich nur noch minimal, minimal dance zu minimal music. Sie waren also schon fast bei der Stehparty angekommen, dachte er, und danach kommt nur noch der one-night-stand, aber dazu passte seine distanzierte Haltung, linke Hand um die Taille, rechter Arm steif weit weg vom Körper, natürlich überhaupt nicht. Auch Ana schien das zu empfinden und wollte mehr Nähe, wollte mehr spüren. Sie ließ seine rechte Hand los, umklammerte mit beiden Armen seinen Oberkörper, legte die Hände auf seine Schultern und lehnte ihren Kopf halb an seinen Hals, halb an seine Brust, dort wo sie eben, der unterschiedlichen Körpergrößen halber, hingelangte. In dieser Position blieb sie nun und er musste, ob er wollte oder nicht, dasselbe tun und dass er wollte, war natürlich klar, nur hätte er das nicht von sich aus gemacht. Aber so war ihm die Entscheidung abgenommen und er umfasste sie ebenfalls mit beiden Armen. Mutig geworden durch ihre rasche Annäherung, wanderten seine Hände zunächst auf ihrem Rücken umher, nervös und unstet, ein wenig verunsichert angesichts dieser direkten Konfrontation, dieses Frontalangriffs. Sie tasteten sich an dem Saum des Rückenausschnitts ihres Kleides entlang, entdeckten den Reißverschluss, der in die Tiefe führte, fahndeten nach den Trägern und dem Verschluss ihres Büstenhalters unter dem Stoff des Kleidchens und kamen schließlich, erschrocken über ihre Tollkühnheit, auf Anas Taille zur Ruhe, dort, wo diese in die ein wenig ausladenden Hüften über geht. Weiter hinab, auf die runden Pobacken, wagten sie sich nicht, obwohl er es an sich gerne hatte, seine Hände beim langsamen Schwof auf den sanft wackelnden, leicht vibrierenden, bei der Berührung erschauernden Hinterbacken seiner Tanzpartnerin ruhen zu lassen. Aber bei Ana traute er es sich einfach nicht, noch nicht, obwohl nur knapp eine Handbreit zu überwinden gewesen wäre und Ana, so wie sie sich verhielt, ganz bestimmt nichts dagegen gehabt hätte. Aber er war zu verklemmt, zu schüchtern, zu stocksteif, um sich weiter vorzuarbeiten und in der Tiefe seine grapschende Forschung fortzusetzen. Außerdem war er durch das, was sich ihm weiter oben bot, abgelenkt. Oben befanden sich ihre Haare nun direkt vor seiner Nase. Sie kitzelten ihn ein wenig und er roch an ihnen, nicht nur das Parfüm, das ihn schon den ganzen Abend verwirrt hatte, die Limetten-Maiglöckchen-Note, er roch auch den schwereren Duft des Shampoos, das sie verwendet hatte. Er überlegte, was das für ein Duft sein könnte, aber er kam nicht drauf und das irritierte ihn. Schließlich fragte er sie. Sie war überrascht, ob ihn das wirklich interessiere, sie habe noch nie erlebt, dass Männer sich für Düfte interessierten. „Warte mal, ich muss selbst erst überlegen. Ja, doch, es ist ein Shampoo mit Tabac-Duft, das steht jedenfalls auf der Flasche, aber frag mich nicht, was Tabac-Duft eigentlich ist. Ich finde es süß, dass es dir gefällt.“ Aber er roch noch mehr als nur das aufregende Parfüm und den unbekannten Tabac-Duft. Der Geruch dieser Frau erregte ihn mehr als das Abtasten, das Anschmiegen, das Sich-an-ihn-pressen. Es konnte nicht nur an dem sinnlichen, die Sinne betörenden Parfüm liegen. Vielleicht war ihm gar nicht so recht bewusst, was er da noch wahrnahm, was ihn so ablenkte, dass seine Hände im unteren Bereich ganz still geworden waren. Vielleicht empfing er nur im Unterbewusstsein die leisen Lockungen, die er mit seinem Atem einsog, die stummen Rufe, die Duftstoffe, die eine Frau aussendet, die Pheromone, die zwei Menschen zusammenführen und die einfach vorhanden sein müssen, damit die Chemie stimmt, wie man so sagt. Diese Frage nach der Chemie stellte er sich, als er die Duftmischung in sich aufnahm, die Ana verströmte. Es war wie ein Nebel, der ihn in einem Zwischenreich des Wissens und des Unbewussten umfing und einhüllte. Er fragte sich, ob die Chemie für beide tatsächlich stimmen würde, ob man das nach so kurzer Zeit schon sagen könne oder ob sich da nicht eine Falle auftat, in die er gerade hineinstolperte, wie ein blinder Auerhahn im Liebeswahn. Eine Pheromonfalle, die Dutzende, ja Hunderte von Eichenspannern oder Birkenspinnern verwirrt, anzieht, festhält, aushungern lässt, sterben lässt. Einerseits war er durchaus bereit, sich mit Freuden den versteckten Lockungen Anas und ihren stummen Rufen hinzugeben, die ihn betörten und geradezu magnetisch anzogen. Andererseits war er sich völlig unschlüssig, wie weit er gehen könnte und wollte, denn, wie gesagt, er war schlicht und einfach verklemmt und hatte keine Ahnung, wohin ihn der Weg führen würde, wenn er weiter auf ihm wandelte und zudem hielt ihn eine gewisse Furcht ab, die er auch in seinem Alter immer noch verspürte, wenn es intim werden sollte.

 

Ana dagegen war nicht verklemmt und fürchtete sich anscheinend überhaupt nicht. Sie suchte nach mehr Körperkontakt. Sie drückte sich während der minimalen Tanzbewegungen immer stärker an ihn. Oben geriet seine Nase noch tiefer in die Tabac-Haare, sein Mund war schon völlig ausgetrocknet und er atmete heftiger, als es das Tempo des Tanzes allein rechtfertigte. Etwas tiefer rieb sich ihr fester Busen im Takt ihres Atems und der Tanzschritte an seiner Brust, ein höchst angenehmer Druck. Noch weiter unten lagen seine inzwischen feucht gewordenen Schweißhände immer noch auf ihrer Taille, jedoch nicht mehr so teilnahmslos. Sie hatten ihre Suche wieder aufgenommen und verstärkt durch die Bewegungen ihres Beckens, das gewollt oder ungewollt, im Takte der langsamen Musik immer häufiger an seines stieß, hatten sie den Weg auf die Rundungen der Pobacken gefunden und drückten und pressten diese in demselben langsamen, stetigen Rhythmus, den Antony, Ibrahim oder John vorgaben. Und noch weiter unten zwängten sich Anas Beine permanent zwischen seine, an sein, sie berührten sich, dicht an dicht, nebeneinander, zwischeneinander, wie die intensive Berührung eines Pärchens nur sein kann, dass sich immer noch ein wenig dreht, immer noch ein wenig im Raum bewegt und die absolute Stehparty doch noch nicht erreicht hat.

 

Bei so viel Nähe und Druck und Intimität manifestierte sich logischerweise das sicht- und fühlbare Zeichen seines erregten Zustands. Die zweite, heftige Auferstehung des Fleisches fand nun an diesem seltsamen Abend statt und bereitete ihm Probleme. Denn er war sich absolut unschlüssig, ob er weiterhin seinen Unterleib dieser permanenten Erregung aussetzen sollte.  Ana musste seinen Zustand durch den Stoff ihres dünnen Cocktailkleidchens zweifelsohne bemerken. Die Sache war ihm irgendwie peinlich und er überlegte, ob lieber eine Handbreit Distanz einhalten sollte oder den höchst intimen Tanz abbrechen und sich auf sein Sofa zurückziehen sollte. Während er wegen unten zweifelte, schlich sich oben ein Gedanke in sein Hirn, ein Gedanke, vor dem er regelrecht Angst bekam. War er dabei, sich in Ana zu verlieben? In diese Frau, die so völlig anders war als alle anderen, die er bisher in seinem Leben kennen gelernt hatte? Wollte er sie auf die klassische Weise erobern oder sollte er sich doch lieber bremsen und sich von dieser Venusfliegenfalle fernhalten? Er kannte sie doch gar nicht, diese Ana. Ein Abend in einer Bar, reicht das, um sich zu verlieben? Sicher reicht das, aber war er nun verliebt oder nur geil? Er grübelte und kam zu dem Schluss, erst einmal lieber auf Distanz zu bleiben. Cool bleiben, die Lage unter Kontrolle halten, ja das war besser. Lieber nicht anmerken lassen, dass er dabei war, sich von dieser Ana gefangen nehmen zu lassen. Lieber die Gefühle und auch seine physische Erregung vor ihr verbergen. Lieber weiter den Stockfisch spielen. Das war vernünftiger, dann gab es keine Enttäuschung am nächsten Tag, wenn ohnehin das Techtelmechtel und die Beziehung zu Ende sein würde. Vernunft in allen Lebenslagen, das war doch immer seine Stärke. Andererseits, er sinnierte immer noch, statt endlich zu handeln, warum sollte man vernünftig sein?  Warum diese Situation nicht ausnützen, die Gelegenheit ergreifen, auskosten, was sich ihm da so bot? Die will doch, diese Ana. Warum sollte er ihr nicht geben, was sie will. Warum sollte sie seine Erregung eigentlich nicht spüren? Warum sollte er nicht jetzt und hier in der Bar das tun, was diese Ana ganz offensichtlich wollte? Sie einfach flachlegen. Sie nehmen. Sie begatten. Ficken. Hier auf dem Parkett, why not? Dann übernimmt wieder die Vernunft in seinem Hirn das Kommando. So ein Quatsch, was denkst du nur! Er merkte zwar immer deutlicher, wie auch er nach ihr verlangte, nach dieser seltsamen, ausgehungerten Frau. Aber noch war seine Verklemmung stärker, seine Angst vor der Unbekannten war größer als sein Verlangen und diese verdammte, rationale, allen Spaß abtötende Vernunft hatte ihn wieder voll im Griff. Doch eines stellte er verwundert fest, dass ihm zum ersten Mal seit langer Zeit, Tanzen richtig Spaß machte.

Es war eine schizophrene Situation. Sie wollte, er wollte und trotzdem, nachdem er kurz schwach zu werden drohte, ging er wieder auf Abstand, anstatt sie weiter zu bedrängen, löste er sich von ihr, wenn auch nur ein wenig. Ihm war klar, dass die bisherigen spielerischen Andeutungen, mit denen er seine Bereitschaft gezeigt hatte, so langsam durch handfeste Aktionen abgelöst werden müssten, wenn er weiter kommen wollte in dieser Nacht. Aber anstatt sie nun einfach weiter an sich zu drücken, sie vielleicht zu küssen oder ihr in das kleine Ohr zu flüstern, wie schön sie sei, wie schön es mit ihr sei oder dass er sie gernhabe und dass er auch gerne hätte, was sie ebenfalls gerne hätte oder ihr auf irgend eine andere Weise zu verstehen zu geben, dass er genau dasselbe wollte, also statt Fakten zu schaffen und die Sache in die Hand zu nehmen und voran zu bringen, tat er – nichts und bereute es prompt. Denn Ana tat etwas, etwas Unerwartetes. Sie beendete den Tanz ganz profan, ganz prosaisch. War sie enttäuscht? Hatte sie gemerkt, dass er sich zurückgezogen hatte? Hatte sie zu viel investiert und nicht genügend zurückbekommen? War sie frustriert, weil er so verklemmt, so altmodisch zurückhaltend war oder war sie gar selbst eine altmodische Tante, die erobert werden wollte, die immer noch glaubte, die Initiative für ein Mehr müsste letztlich von dem Mann ausgehen, während es in Wirklichkeit doch die Weiber sind, die die Dinge vorantreiben? Wie dem auch sei, der Tanz war beendet und beide kehrten recht plötzlich aus ihrer Verträumtheit in die Realität zurück. Die Körper lösten sich voneinander und während sie den Kamin ansteuerten, war er schon dabei, sich zu ärgern, was war für ein unentschlossener Depp er war, was für ein Arschloch, was für ein Versager. Doch der entscheidende Augenblick war vorbei, the distinct moment verweht. Sie setzten sich wieder auf die Stühle, getrennt durch das niedrige Tischchen. Ana kramte aus ihrer kleinen, roten Handtasche einen Klappspiegel, einen Lippenstift und ein Taschentuch hervor. Dann begann sie, ihr Aussehen zu kontrollieren, verzog den Mund ein wenig, runzelte die Stirn, wischte hier etwas weg, fuhr die Form der Lippen nach und presste sie danach zusammen, stellte mit kritischem Blick fest, dass Puder und Mascara wohl noch in Ordnung waren. Zum Schluss öffnete sie die Haarspange, ordnete die Haare ganz ohne Kamm, nur mit den Fingern und klemmte dieses irgendwie altmodisch wirkende Silberding neu ein. Ein letzter Blick in das Spiegelchen, dann klappt sie es zu und nachdem alles wieder in dem Täschchen verstaut war, kam sie, entspannt, gelöst, anscheinend kein bisschen verärgert oder enttäuscht und immer noch hellwach auf Antonio zurück und begann ihre vorgeblich letzte Erzählung.

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