Doch eines Tages würde sie ihn schon umsummen und mit Tränen in den Augen ihm ein "Verzeih mir!" entgegen hauchen. Zufrieden biß Eduard, der Holzwurm, ein Stück schmackhaften Holzes ab. Während er es genüßlich kaute, schob er seinen Kopf aus dem Fuß der Standuhr und beobachtete die seit geraumer Zeit unverändert ablaufende Szenerie. Leonardo pflegte zunächst die ersten Takte der 5. Sinfonie von Beethoven kurz mit den Fingern der rechten Hand auf das Piano zu trommeln, dann mit der Linken auf seine Lippen, begleitet von einem flachen Pfiff. Es folgte einen kurzes Aufstöhnen, worauf sich seine Beine in Bewegung setzten. An der Tür knipste Leonardo dann den Lichtschalter immer wieder ein und aus, bis er sich mit der Hand durch die Haare fuhr und am Regulator vorbei zum Fenster wanderte. Lucie, die Fliege, steckte den in einer Regenrinne hockenden Raben die Zunge heraus und malte tanzend auf das Fensterglas unsichtbare Zeichen, deren Sinn Leonardo vergeblich zu entschlüsseln suchte. Nach Minuten ergebnislosen Grübelns schritt er zum Klavier und damit zum Anfang seiner zyklischen Odyssee zurück.
Die Standuhr atmete tief durch. Soeben war die letzte Seite dieses Nachmittages vollständig beschrieben und abgelegt, der Papierstapel des letzten Bandes in der chronologisch richtigen Reihenfolge geordnet, abgeheftet, gefalzt und verleimt. In ihrem Uhrenkasten türmten sich die Bücher übereinander und sie beabsichtigte, jeden Band mit einem Glockenschlag anzukündigen. Gong, Gong, Gong, Gong ...
Entnervt rannte Leonardo zur Uhr und hielt das Pendel an. Beleidigt verstummte der Regulator und Leonardos Magen knurrte die fehlenden Schläge in die Stille des Raumes hinein. Auf der Suche nach etwas Eßbarem schlurfte Leonardo in die Küche. Ernüchtert betrachtete er den kläglichen Rest seiner Vorräte, der aus einer alten Scheibe Toast bestand. Das Toastbrot und die einsetzende Dämmerung sangen gerade im Duett ein melancholisches Lied über den herbstlichen Mantel des Vergessens, der Blatt für Blatt über die Straßen fegte und sich zu seiner letzten Ruhe auf selbigem Toastbrot als Schimmelpilzteppich niederlegte. Leonardo nahm die Scheibe in die Hand, betrachtete ärgerlich den grün-bläulichen Belag und erinnerte sich, daß es zum Einkaufen mittlerweile zu spät war. Seine innere Stimme formte den Satz "Ach, es ist doch zum Kotzen!" und er begann eine lange und komplizierte Gedankenkette zu assoziieren, die in dem Begriff "Pizza" endete.
Leonardo legte die Brotscheibe zur Seite, zückte sein Portemonnaie und ergriff den Telefonhörer. Während er die Nummer des Pizzaservice wählte, bestaunte er die unendlichen Weiten seines leeren Geldbeutels. Am anderen Ende der Leitung begann eine Stimme durch den Hörer zu brüllen: "Pizza-World Caprizio! Guten Tag und ... äh ... einen Augenblick bitte!" Leonardo vernahm im Hintergrund mehrere Pistolenschüsse, wimmernde "Er hat mir in die Knie geschossen!" Schreie und die Worte "Du Sauhund du, da hast du’s! Erst fressen und saufen, bis dir der Bauch platzt, aber dann die Zeche prellen ... Tragt ihn in mein Büro. Ich kümmere mich gleich um ihn." Die Stimme wandte sich wieder Leonardo zu und ein fettiges "Was kann ich für Sie tun?" drang schmatzend an sein Ohr. "Nichts!" antwortete dieser und legte auf. Leonardo ordnete eine strenge Razzia durch alle Jacken- und Hosentaschen, durch alle Schränke, Schubladen, Schachteln und Ritzen an. Irgendwo mußte noch Geld sein. Er fand aufgrund dieser gründlichen Hausdurchsuchung:
Das Schimmelpilz-Sex-Genie
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