Wir wissen es nicht, die Knochenbrecher auch nicht, denn sie bewachten zuverlässig das Einzelzimmer, und Maria interessierte sich nur für Carl Orff. Lächelnd drückte sie die Flüssigkeit durch die Kanüle und setzte den grünen Mechanismus in Gang. Rückwärts und im Schnelldurchlauf begann der Pate alle seine Notenblätter durchzuspielen. Pianissimo und virtuos, bis seine Lider wie ein Klavierdeckel herunterfielen. Im Einzelzimmer des Paten verbrachte dafür der Pizzabäcker gutbewacht von den Knochenbrechern eine geruhsame Nacht und verreckte erst kurz vor dem Morgengrauen an einem billigen Blutgerinnsel. Maria stieß auf dem Flur mit dem Krankenpfleger zusammen, verabschiedete sich von ihm, schaltete den Walkman aus und verließ das Krankenhaus Richtung "Teufelseck". Frierend und hungrig stand zurückgelassen in der Vase die entblätterte Rose. Sie war die einzige Pflanze auf der Welt, die Gedanken lesen konnte, denn sie ernährte sich davon und die gedankenlose Stille des Krankensaales stieß sie in eine tiefe Depression. Langsam schnitt sich die Rose die Pulsadern auf und ihr auslaufendes Blut färbte das Wasser rot.
Das restliche Bier in seinem Glas verschaukelte sich und Leonardo überprüfte die blassen Bläschen auf ihre Vollzähligkeit. Durch die tiefgelegte Membran einer Drei-Wege-Box rappte sich eine inhaftierte Gangsta-Stimme ihren Weg in das weiße, aber freie Kneipenlicht. Lustlos verteidigte Leonardo seinen ungestörten Tresenplatz gegen die immer lästiger werdende Stimme und mit einer lässigen Handbewegung forderte er sie auf weiterzuziehen. Beleidigt wanderte die Stimme weiter, drehte eine Saalrunde und handelte sich auf dem Rückweg in einer fetten Zigarettenwolke einen ausgewachsenen Lungenkrebs ein. Drei Sekunden später erstarb die Stimme an Ort und Stelle, und die CD war zu Ende.
Drei Schritte des Kellners und ein leichter Knopfdruck auf die Anlage verhalfen, sehr zum Mißfallen Leonardos, dem Sänger zur Reinkarnation. Der letzte Bierschluck schäumte blubbernd durch Leonardos Hals. Mit dem Handrücken wischte er sich den Mund trocken und gestand dem Kellner, der hinter dem Tresen die Gläser spülte: "Dieser Abend heute ... Ach, ich weiß es auch nicht!" "Probleme? Wie wäre es mit denen da?" fragte der Kellner und wies grinsend mit dem Kopf zu dem Tisch hin, an dem die drei einzigen Frauen dieses Etablissements saßen. Demonstrativ und mit Reizgas deodoriert. Leonardo schüttelte den Kopf, winkte ab und schob dem Kellner sein leeres Glas zu. Dieser tauchte es ins Wasser und sagte. "Komm, nimm noch ein Bier. Wenn du Glück hast und noch ein bißchen wartest - so langsam, wie du trinkst, dürfte das kein Problem sein - kommt noch ... Hey, du hast Glück! Maria kommt!" "Wer ist Maria?" wollte Leonardo wissen. Die Zunge des Kellners schraubte sich um ihre eigene Achse und schnalzte mit einem Rückwärtssalto in seinen Mund zurück. "Maria? Maria ist wie ...", der Kellner rang verzweifelt mit den Worten. "Sie ist ... ist ein ... ein Gebirgssee. Ja, ein fest zugefrorener Gebirgssee und du siehst, wie unter der klaren Eisscholle ein Flammenwerfer tanzt. Unter dem Eis brennt eine Schicht ab, doch oben läßt der Frost augenblicklich eine neue nachwachsen." Er zupfte sich ein Haar aus der Nase.
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