Das, was Leonardo in dieser Stadt zu einem unverwechselbaren Menschen machte, waren nicht seine mystischen Gesichtszüge, die in den Cafés seines Viertels, wenn er den Raum betrat, bei den lässig hinter einem Glas Soave verschanzten Frauen jene Unruhe auslöste, wie sie ein Matrose erlebt, der, im Mastkorb stehend, das allzu sanfte Spiel der Wellen beobachtet.
Auch war es nicht der dunkle Blick, mit dem er sich dann zu einer dieser Frauen setzte, um sich als Komponist vorzustellen. Trainiert, bewährt und leicht baßhaft, bis sich bei jener Frau die tausend kleinen Härchen in eine melodiöse Schwingung versetzten. Und schon gar nicht die Routine, mit der er sie am nächsten Morgen nach einem "War schön, aber wir sehen uns nie wieder" -Kaffee nach Hause schickte, sondern seine Faulheit, die er mit einer bemerkenswerten Konsequenz lebte. So übte er zum Beispiel schon lange nicht mehr auf dem Bechstein, den ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tode schenkte, als er ihr versicherte hatte, ein großer Pianist zu werden, und es verstaubte nur nicht, weil seine nächtlichen Liebschaften, wenn sie auf dem Rücken des Flügels wie eine aufgeklappte Partitur lagen, sich wunderbar von ihm durchswingen ließen. Nachmittags betrachtete er dann aus sicherer Entfernung von seinem Hochbett aus das gute Stück und träumte von umjubelten Konzerten vor einem ausschließlich weiblichen Publikum. An diesem Nachmittag jedoch schlich Leonardo stundenlang durch seine Wohnung. Die an Tbc erkrankte Palme neben dem Flügel verbeugte sich vor dem total zugekoksten Fenster, die Rußflecken waren nicht zu übersehen, und hustete stumm um mehr Licht.
Die benachbarte Standuhr, ein uraltes Erbstück und daher sehr gewissenhaft, sammelte mit ihren großen Zeigern die Sekunden auf, die Leonardo achtlos verwarf und verarbeitete sie in ihrem Räderwerk zu feinem Papier. Diese Blätter beschrieb eifrig ein kleiner Tintenfisch, der am unteren Pendelende festgesaugt hin und her schwang. Zeile für Zeile notierte er jede Bewegung, jeden Laut in diesem Raum und selbst das verhustete Gebet der Zimmerpalme entging ihm nicht, denn er beherrschte die Kunst des Lippenlesens. Manchmal knirschte der Regulator leicht mit den Zähnen, wenn statt einer Sekunde ein Sandkorn ins Getriebe fiel und der stechende Schmerz ließ ihn vergessen, daß Eduard, der Holzwurm, an seinem Gehäuse knabberte. Eduard, der Holzwurm, rächte sich für die zahllosen Gerüchte, die die Standuhr über ihn in die Welt setzte. Angeblich lebte er in wilder Ehe mit einer verwitweten Fliege, die sich blau schminkte und in jede Ecke kroch. Was komplett gelogen war, denn dieses Flittchen namens Lucie zeigte ihm jedesmal die kalte Schulter, wenn er sich ihr zu nähern versuchte.
Doch eines Tages würde sie ihn schon umsummen und mit Tränen in den Augen ihm ein "Verzeih mir!" entgegen hauchen. Zufrieden biß Eduard, der Holzwurm, ein Stück schmackhaften Holzes ab. Während er es genüßlich kaute, schob er seinen Kopf aus dem Fuß der Standuhr und beobachtete die seit geraumer Zeit unverändert ablaufende Szenerie. Leonardo pflegte zunächst die ersten Takte der 5. Sinfonie von Beethoven kurz mit den Fingern der rechten Hand auf das Piano zu trommeln, dann mit der Linken auf seine Lippen, begleitet von einem flachen Pfiff. Es folgte einen kurzes Aufstöhnen, worauf sich seine Beine in Bewegung setzten. An der Tür knipste Leonardo dann den Lichtschalter immer wieder ein und aus, bis er sich mit der Hand durch die Haare fuhr und am Regulator vorbei zum Fenster wanderte. Lucie, die Fliege, steckte den in einer Regenrinne hockenden Raben die Zunge heraus und malte tanzend auf das Fensterglas unsichtbare Zeichen, deren Sinn Leonardo vergeblich zu entschlüsseln suchte. Nach Minuten ergebnislosen Grübelns schritt er zum Klavier und damit zum Anfang seiner zyklischen Odyssee zurück.
Die Standuhr atmete tief durch. Soeben war die letzte Seite dieses Nachmittages vollständig beschrieben und abgelegt, der Papierstapel des letzten Bandes in der chronologisch richtigen Reihenfolge geordnet, abgeheftet, gefalzt und verleimt. In ihrem Uhrenkasten türmten sich die Bücher übereinander und sie beabsichtigte, jeden Band mit einem Glockenschlag anzukündigen. Gong, Gong, Gong, Gong ...
Entnervt rannte Leonardo zur Uhr und hielt das Pendel an. Beleidigt verstummte der Regulator und Leonardos Magen knurrte die fehlenden Schläge in die Stille des Raumes hinein. Auf der Suche nach etwas Eßbarem schlurfte Leonardo in die Küche. Ernüchtert betrachtete er den kläglichen Rest seiner Vorräte, der aus einer alten Scheibe Toast bestand. Das Toastbrot und die einsetzende Dämmerung sangen gerade im Duett ein melancholisches Lied über den herbstlichen Mantel des Vergessens, der Blatt für Blatt über die Straßen fegte und sich zu seiner letzten Ruhe auf selbigem Toastbrot als Schimmelpilzteppich niederlegte. Leonardo nahm die Scheibe in die Hand, betrachtete ärgerlich den grün-bläulichen Belag und erinnerte sich, daß es zum Einkaufen mittlerweile zu spät war. Seine innere Stimme formte den Satz "Ach, es ist doch zum Kotzen!" und er begann eine lange und komplizierte Gedankenkette zu assoziieren, die in dem Begriff "Pizza" endete.
Leonardo legte die Brotscheibe zur Seite, zückte sein Portemonnaie und ergriff den Telefonhörer. Während er die Nummer des Pizzaservice wählte, bestaunte er die unendlichen Weiten seines leeren Geldbeutels. Am anderen Ende der Leitung begann eine Stimme durch den Hörer zu brüllen: "Pizza-World Caprizio! Guten Tag und ... äh ... einen Augenblick bitte!" Leonardo vernahm im Hintergrund mehrere Pistolenschüsse, wimmernde "Er hat mir in die Knie geschossen!" Schreie und die Worte "Du Sauhund du, da hast du’s! Erst fressen und saufen, bis dir der Bauch platzt, aber dann die Zeche prellen ... Tragt ihn in mein Büro. Ich kümmere mich gleich um ihn." Die Stimme wandte sich wieder Leonardo zu und ein fettiges "Was kann ich für Sie tun?" drang schmatzend an sein Ohr. "Nichts!" antwortete dieser und legte auf. Leonardo ordnete eine strenge Razzia durch alle Jacken- und Hosentaschen, durch alle Schränke, Schubladen, Schachteln und Ritzen an. Irgendwo mußte noch Geld sein. Er fand aufgrund dieser gründlichen Hausdurchsuchung:
1. einen notdürftig reparierten Fahradschlauch seines Rennrades wieder, welches ihm leider vor kurzem gestohlen worden war;
2. entdeckte er das Grabmal der unbekannten Geliebten in einer alten Keksdose. In der blechernen Herberge lagerte ein dutzend Leichen ein. Zwölf mumifizierte Abschiedsbriefe gewisser Gott-weiß-wer-sie-alle-waren und in dem kürzesten Brief legte ihm eine auf vier engbeschriebenen Schreibmaschinenseiten logisch dar, warum sie ihn haßt, warum er sich haßt, warum sie miteinander fertig waren und warum sie nichts mehr von ihm wollte, warum er sich nicht meldet und daß sie von ihm eine Antwort erwartete;
3. meldete sich eine lange und schmerzlich vermißte nagelneue Unterhose zurück,
Und 4. stöberte er das Werksverzeichnis all seiner Kompositionen auf. Korrekterweise muß erwähnt werden, daß sein Oeuvre nur aus dieser Liste bestand, denn die Kompositionen warteten noch darauf, von ihm niedergeschrieben zu werden. Der letzte Eintrag in seinem Werksverzeichnis war ein Vierteljahr alt und lautete in gewissenhaft notierten Druckbuchstaben "Rhapsodie in grünem Moll".
Leonardos Fingerspitzen ertasteten einen Zettel, der mit einer Büroklammer an sein Verzeichnis geheftet war und dessen Existenz sein Kopf vergeblich zu leugnen suchte. Es war eine Quittung. Nein, weniger eine Quittung, mehr eine Vereinbarung. Ein Vertrag. Ein Vertrag mit seiner Mafiosität, dem Paten, über die "Rhapsodie in grünem Moll". Verbunden mit einem Vorschuß, den Leonardo verlangt hatte. Ein Bohemienleben will finanziert sein. Der Abgabetermin des Auftragswerkes - Leonardo rief sich das heutige Datum in Erinnerung - war morgen. Morgen war Sonntag und Sonntag hieß morgen. Sonntag hieß Klingelgeläut, hieß Tür öffnen und Stammeln. Stammeln hieß keine Rhapsodie und verbrauchter Vorschuß. Keine Rhapsodie hieß auf die Knie gehen. Verbrauchter Vorschuß hieß "Gnade, Gnade ..." rufen. Gnade hieß reflexartiges Stirnrunzeln des Paten und Stirnrunzeln hieß das Kommando für seine beiden sonnenbebrillten Knochenbrecher.Leonardo sprang auf. Morgen ist morgen und heute ist heute. Er rannte zu seinem Flügel, meißelte mit seinen Fingern in die Tastatur eine schwarze Elfe und brach ihr versehentlich das weiße Bein ab. Nervös und umständlich leimte er die Taste wieder an. Aus dem trocknenden Kleber entwich langsam die nach Resignation riechende Feuchtigkeit. Es war zwecklos. Gewissenhaft betrachtete Leonardo seine Finger und gestand ihnen bitter sein Versagen ein. Nein, er korrigierte sich. Nicht Versagen, sondern Faulheit. "Ähm" räusperte sich Leonardos Magen und erinnerte ihn daran, daß er Hunger hatte. In die Küche zurückgekehrt, kratzte er mit einem Messer den Schimmelpilz und seine Fluchtgedanken von dem Brotstück herunter. "Nein, Flucht ist sinnlos", dachte er. "Wohin auch ohne Geld?" und schob das Brot, auf dem noch genügend Schimmelpilze hockten, in seinen Mund.
Eine recht seltene Art Schimmelpilz, den eine Gruppe missionierender Nonnen aus den Tiefen des indischen Urwaldes mitgebracht und einer reuigen Sünderin bei der Beichte vererbt hatte. Diese bedankte sich, denn sie war Stewardeß auf der Linie Bombay-Paris, bei einem Kunden mit dem Schimmelpilz. Danach tauchte der Schimmelpilz erst einmal ab, denn der Kunde wurde mit mehreren Haftbefehlen gesucht und verwischte seine Spur sehr sorgfältig. Um so überraschender tauchte der Schimmelpilz urplötzlich und genauso hinterrücks bei Leonardo wieder auf. Nun klebten die Schimmelpilze an seiner Magenwand und meditierten ein schützendes Mantra gegen die Verdauungssäfte. Leonardo schluckte den letzten Bissen hinunter und schob seine Hände in die Hosentaschen. Halt, was war das? Seine rechte Hand angelte einen zusammengefalteten Schein heraus, der klägliche Rest seines Vorschusses. Ausreichend jedoch, die Henkersnacht alkoholisiert und in Sünde zu verbringen. Er zog sich die wiedergefundene Unterhose an - sicher ist sicher -, schmiß sich in seine schwere Lederjacke und bot dem Abendwind die Stirn.
Das Gravitationszentrum der Stationswache bildete eine Flasche Whiskey, die, auf dem Tisch stehend, den Krankenpfleger in eine spiralförmige Umlaufbahn zwang. Der Mittelpunkt seines kontrollierten Absturzes funkte ihm kontinuierlich zu. "Maria, der grüne Engel kommt... Maria, der grüne Engel kommt..." Der Krankenpfleger schraubte die Flasche auf und nahm einen tiefen Schluck. "Uuuuuaaaaah." Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund trocken, kratzte sich den Warzenwald auf seinem Kinn und presste die Flasche an sein Ohr. "Maria, der grüne Engel kommt... Maria, der grüne Engel kommt....", rief sie. Leiser jedoch und ein wenig freundlicher. Der Krankenpfleger lächelte zufrieden. Er verschraubte die Flasche, verwahrte sie sicher unter seinem Kittel und verließ das Stationszimmer für einen kleinen Rundgang.
"Weißt du, Caprizio ...", sagte der Pate und sein Jackett karierte sich auf verbrecherische Art und Weise. Er holte tief Luft und griff statt fis nach f, "Chopin ist für mich ganz einfach ... Zum Beispiel diese Stelle hier ...", der Pate verspielte sich mafios gleich um eine ganze Septime und das Klavier schlug verstimmt die Saite an. "Ich bin völlig unmusikalisch", entschuldigte sich der Pizzabäcker Caprizio und seine Hände zitterten leicht. "Du willst mir also erzählen, daß du zu dumm bist, die Schönheit von Chopin zu hören?", fragte bedauernd der Pate und mit einer eisgrau verfärbten Stimme fauchte er: "Aber du hälst dich für klug genug, mich bescheißen zu wollen!" Das Telefon auf dem Klavier erwachte und leierte schlaftrunken Mozarts kleine Nachtmusik herunter. Der Pate griff nach dem Hörer.
"Ja... ah Herr Doktor Montorelli... Ja, ich habe den Katalog bekommen. .... Nein, ich will keinen Bauchschuß. Ich will eine Streifwunde an der linken Schläfe und sie muß überzeugend aussehen. ... Herr Montorelli, ich bitte Sie. In zwei Wochen ist Familientreffen. Ich habe keine Lust, mir in der Sauna wieder die stolz präsentierten Brandnarben, Messerschnitte und Lungendurchschüsse ansehen zu müssen, während mein Körper makellos vor sich hinschwitzt ... Nun, ich finde, der Preis ist zu hoch für einen Streifschuß! ... Was? Zwanzig Prozent Rabatt bei täuschend echtem Bauch- und Streifschuß!? Was soll ich mit einem Bauchschuß, Herr Doktor? Also wenn schon, dann dreißig Prozent! ... siebenundzwanzig ... Mein letztes Angebot ... Na gut, ja ... ich bin einverstanden. Vierundzwanzig Prozent für Bauch und Schläfe nächste Woche. ... Und Sie glauben wirklich, ich kann eine Woche später schon ... Besten Dank, Herr Doktor ... Ja, ja ich denke daran ... auf jeden Fall ... und grüßen Sie Ihre Frau von mir ... Bis bald."
Der Pate legte auf und spielte auf dem Klavier hingebungsvoll Chopins Stück "e-Moll Largo" aus den 24 Préludes. Zumindest stand es so auf dem Notenblatt. "Wo waren wir stehengeblieben?", fragte er den Pizzabäcker. "Ach, ja! Richtig! Du wolltest mir gerade erzählen, wo der fällige Betrag abgeblieben ist. Wo hast du ihn versteckt? Glaubst du, ich finde es nicht heraus? Bist du wirklich so dumm?" "Nein, nein", versicherte der Pizzabäcker Caprizio und seine Arme wickelten sich um seinen fetten Leib wie eine Boa constrictor um ihren Schlangentänzer. "Die Geschäfte, sie laufen ..." "Erzähl´ mir nichts von schlechten Geschäften. Dein Laden befindet sich in bester Lage." Der Pate suchte verzweifelt die Taste, die sich seiner Meinung nach zwischen e und f befinden mußte. "Aber ich habe es dir schon einmal gesagt. Du sollst Pizzas verkaufen und aufhören, hübschen jungen Männern die Knie zu zerschießen, um sie in deinem Büro ...", er gab die Suche auf, blätterte die Seite einfach um und begann den Kampf mit D-Dur und Allegro molto. Das Klavier stöhnte auf, denn seine zartbesaiteten Nerven lagen blank. "Du hast Glück!" fuhr der Pate fort, "Großes Glück! Ich habe heute gute Laune. Nächste Woche wird mich Doktor Montorelli mit zwei gutaussehenden Narben verschönern. Damit ich endlich ..." und er fing unvermittelt an zu brüllen.
"Weißt du eigentlich, wie demütigend es ist, mir jedesmal die Wunden von diesen Drogendealern, Zuhältern und Glücksspielganoven zeigen zu lassen? Diesem kulturlosen Haufen, der Chopin für ein französisches Damenparfüm hält. Weißt du das? ..." und seine Hände metzelten aufgebracht die Melodie nieder. Der Pizzabäcker schüttelte den Kopf und sagte:
"Ich bin völlig unmusikalisch." "Unmusikalisch, unmusikalisch! ... Versteht mich denn keiner?" stöhnte der Pate auf und schlug seinen Kopf, den Rhythmus der Melodie ignorierend, gegen das Piano. Benommen dröhnte dessen Resonanzboden und es befürchtete, sich eine umfassende Saitenverstimmung zugezogen zu haben. Der Pate saß zusammengekrümmt auf seinem Hocker und stützte sich den Kopf mit den Fäusten. Das Klavier und der Pizzabäcker genossen gemeinsam diesen Moment der Stille.
Doch!" sagte der Pate und seine Augen füllten sich mit der wäßrigen Melancholie des Sehnsüchtigen. "Doch ...", wiederholte er und seine Stimme wurde leiser, "es gibt jemanden." Und fast flüsternd fügte er hinzu "Maria!" Und er sprach ihren Namen aus wie ein großes, schweres Flügeltor, das sich weit hinein in den Frühling öffnet. Der Pate streichelte das Klavier, begann langsam weiterzuspielen und sein inneres Auge formte Marias Gestalt.
Maria, diese perfekt durchkomponierte, ja geradezu sinfonische Dichtung. Maria, die in ihrem grünen Kleid täglich unten auf der Straße an seinem Haus vorbeilief. Nein, nicht lief, sondern schwebte, wie ein grüner Engel. Eingehüllt in eine ruhelose Streich-Quartett-Wolke, die aus ihrem Walkman duftete. Marie, die ... "Ich bin jetzt siebzig Jahre alt!" murmelte das Klavier und befand sich damit im besten Instrumentenalter.
"Ich habe in dieser Zeit alles erdenkliche erlebt. Faulheit, Achtlosigkeit, wechselnde Besitzer und ungezählte Rotweinflecke. Ich habe jeden überlebt. Zickige Schüler und bebrillte Klavierlehrerinnen mit zu tiefen Dekolletés. Ich habe klaglos die zweijährige Nachbarschaft eines Synthesizers ertragen, eines arroganten Kunststoffetwas, das seinen mickrigen Klang elektronisch verstärkte und mir täglich erzählte, wie unglaublich polyphon es sei. Aber das hier stellt alles in den Schatten. Was will ich denn vom Leben? Einen Schüler, der ordentlich übt, mich einmal die Woche entstaubt und alle paar Jahre stimmen läßt. Verlange ich denn zuviel? Muß ich mich derart malträtieren lassen. Dieser Kerl besitzt einfach kein Taktgefühl." Der Pizzabäcker hielt sich seine unmusikalischen Ohren zu. Der Körper des Paten straffte sich und er sah den Bäcker an. Dieser lächelte ängstlich und seine Hände entfernten sich schleunigst von den Ohren. Demonstrativ kratzte er sich den Hals und ordnete seine Haare. "Glück hast du! Großes Glück!" wiederholte der Pate. "Morgen, ja morgen gehe ich zu Leonardo - einem Komponisten - und ..." Der Pate beendete den Satz mit einer stolzen Kunstpause. "Anders herum." begann er von neuem. "Vor einem Vierteljahr gab ich bei Leonardo die "Rhapsodie in grünem Moll" in Auftrag. Ich kann dir sagen, die Herren Künstler sind nicht gerade billig und ohne Vorschuß krümmen die keinen Finger. Aber für Maria ... Für Maria ist mir nichts zu teuer ... Ich werde mir die Partitur geben lassen und den grünen Engel, also Maria, besuchen und dann ..." Die vergoldeten Haare des Paten jubelten und intonierten den Hochzeitsmarsch. Das Piano begehrte dagegen auf und leistete mit seinen Tasten heldenhaften Widerstand.
"Und dann?" fragte verständnislos der Pizzabäcker. "Und dann, und dann, und dann?... Besitzt du denn keinerlei Vorstellung von der weiblichen Psyche? Hast du kein bißchen Phantasie? Sind dir Frauen dermaßen egal? Kannst du nur Knaben die Knie zerschießen?" echauffierte sich der Pate und schlug mit der flachen Hand die rebellischen Tasten nieder. Das Klavier schmiedete die ersten Mordpläne und schätzte das Strafmaß unter Berücksichtigung mildernder Umstände ab. Der Pizzabäcker grinste unsicher und hielt den Mund.
"Es ist doch ganz einfach", erklärte der Pate. "Ich bin der Pate, leite den organisierten Fahrraddiebstahl in dieser Stadt und sorge mich um die vielen fleißigen Pizzabäcker. Ich bin der Pate und lege einer Frau -Maria- eine Komposition zu Füßen, die nur für sie geschrieben wurde." "Wenn dieser Komponist nun aber nicht...?", erlaubte sich der Pizzabäcker einzuwenden und der Pate starrte ihn mit großen Augen an. "Du meinst, wenn mir seine Komposition nicht gefällt. Wenn er mir billigen Schund unterjubeln will und glaubt, mich bescheißen zu können, wie du es glaubst, mich bescheißen zu können?" Der Bäcker antwortete vorsichtshalber nicht und der Pate zog einen Revolver hervor. "Das ist recht einfach." Er visierte auf der Kommode die unbezahlbare Mingvase an. "Schon gut. Alles in Ordnung", sagte befriedigt der Pate. "Ihr könnt wieder rausgehen, aber gebt ihm vorher noch Schaufel und Besen!" Die Knochenbrecher verließen das Zimmer. "Du gehst jetzt nach Hause", wandte sich befehlend der Pate an den Pizzabäcker, "und gibst mir morgen das Geld. Ich werde dich besuchen, sobald ich bei Leonardo war. Alles klar?" Der Angesprochene nickte mit dem Kopf, fegte die Scherben zusammen und schlich aus dem Zimmer. Im Fahrstuhl wischte sich der Pizzabäcker die bleiche Kreide aus dem verschwitzten Gesicht und wurde auf der Straße von einer Horde krückenbewehrter junger Männer gelyncht, die ihn mit verbundenen Knien vor dem Haus empfingen.
Das Klavier aber stürzte sich, die "Marseillaise" singend auf den im Zimmer verbliebenen Paten. Es zerbiß seine Schläfe und trampelte so lange auf den am Boden Liegenden ein, bis es, vom Kugelhagel der Knochenbrecher tödlich getroffen, zusammenbrach. Die Knochenbrecher befreiten ihren Chef aus den Trümmern und sein entzahnter Mund fluchte: "Mmmhä mmähhm mehämm", was gleichlautend und wörtlich übersetzt bedeutete: "Ihr Vollidioten habt mir in den Bauch geschossen!"
Die umnachtete Neonreklame schrie: "Zahl Bar", "Zahl Bar" ... Und unentwegt zerschnitt sie die Dunkelheit in rot oszillierende geistesgestörte Streifen. Leonardo stand unschlüssig vor dem Café, blickte grübelnd durch die große Fensterscheibe und sah, wie ihn zwölf in hoffnungsvollem Blau geschminkte Augenpaare hereinwinkten. Der Wirt winkte auch. Mit der Hand und drei unbezahlten Rechnungen. Leonardo grüßte zurück und lief weiter. Das "Teufelseck" gleich hinter dem Krankenhaus, dachte er, bliebe noch übrig. Mißmutig wackelte sein Kopf hin und her. Der Sympathiewert lag bei einem "Nun-ja-zur-Not", geschmälert noch durch den permanenten Männerüberschuß im Teufelseck. Dafür, redete sich Leonardo ein und wählte die Abkürzung durch den Hof des Krankenhauses, kein Klavier, keine offenen Rechnungen - seine Finger in der M
nteltasche hielten den letzten Schein fest umklammert - und summa summarum die Konkurrenz als solche nicht ernstzunehmen. Leonardo überquerte den Innenhof des Krankenhauses.
Schwerer alter Backsteinduft kroch ächzend durch die Weidensträucher
es Hofes und färbte die letzten Blätter gelb. "Hööörsd du äääs?" lallte eine dunkle Gestalt Leonardo von der Seite an. "Was?" fragte er verdutzt zurück, während sich ihm die Gestalt näherte. Ein weißbekittelter Mann mit verwarztem Kinn und einer hochprozentigen Flasche. Vermutlich ein Krankenpfleger. "Tehn Toot. Tehn krünän Ängäl." schniefte der Mann. "Ja, also ... Wenn Sie mich so fragen ...", antwortete Leonardo ratlos. "Nümm een Schlug, tän höäst tus nich mär! Dis Stöhn un Röcheln. Tehn krünän Ängäl." Der Mann hielt Leonardo die Flasche hin. Die Worte Stöhnen, Röcheln und Grün erinnerten Leonardo an die "Rhapsodie in grünem Moll", an den Paten und seine Knochenbrecher. Wortlos nahm er die Flasche und trank solange, bis der Whiskey den Paten und diese verdammte Rhapsodie aufgelöst und aus seinen Gedanken gespült hatte.
Die blutarm gekalkten Wände des Krankenhauses träumten heimlich von Zigaretten, Schnaps und drallen Krankenschwestern und auf dem pockenvernarbten Fußboden schenkten sich drei Silberfische nichts, denn sie zockten einen verdammt harten Poker. Der kleinste der Drei warf eine silberne Schuppe in die Mitte, nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte: "Ich erhöhe!" Der Mittlere prüfte sein Blatt genau, denn er kannte die Gerissenheit des Kleinen. Ein Erdbeben riß die Silberfische aus ihrem Spiel. "Was ist das?" schrie der Kleine und der Mittlere registrierte befriedigt, daß dieser Nerven zeigte. "Der grüne Engel kommt. Laßt uns abhauen!" sagte er. Die beiden warfen ihre Karten weg und stoben auseinander. Gestützt auf seinen Krückstock erhob sich der Zurückgelassene und verschwand humpelnd und lauthals fluchend in einer Ritze, denn er hielt einen "Full House" in der Hand. Sekunden später schritt Maria über die Oase des Lasters hinweg und teilte dem Krankenpfleger telegraphisch, mit Hilfe ihrer Pfennigabsätze, die die Nachricht auf die versteinerten Fliesen morsten, ihre Ankunft mit. Ihre Hände dirigierten dabei Carl Orffs "Carmina burana", und die Falten ihres grünen Kleides sangen gemeinsam mit dem Chor das "Fortuna Imperatix Mundi". Pünktlich zum Finale von "O Fortuna", das sich in Marias Kopfhörern abspielte, erreichte sie den Schlafsaal.
Der Krankenpfleger kratzte sich seinen Warzenwald, verbarg seine Flasche hinter dem Rücken und hielt ihr die Tür auf. Maria betrat den Saal und legte ihre Tasche auf einem Tisch ab. Der Krankenpfleger betrachtete die melodische Kehrseite des grünen Engels und sah, wie sie ein Spritzenbesteck und ein Glasgefäß hervorholte. Er leerte die Whiskeyflasche hinterrücks, murmelte "Tär krünä Ängäl wird euch alle ärlößen!" und verließ den Schlafsaal in Richtung OP.
Eine telepathisch veranlagte Rose stand, umgeben von Mondveilchen, in einer Blumenvase vor Maria auf dem Tisch. Diese streuten ihr Licht durch die langen dunkelblonden Locken, die sich über den Tisch beugten, um das mit einer grünen Flüssigkeit gefüllte Gefäß prüfen zu können. Ein in einem zeitlosen Schwarz gehaltener Totenkopf und die goldumrandete Aufschrift "Offizieller Lieferant der Rentenkasse" verliehen dem sauber bedruckten Etikett der Ampulle eine elegante Note. Maria nickte zufrieden und zog mit der grünen Lösung ihre Spritze auf. Am Kopfhörerkabel hangelte sich, "Omnia sol temperat" singend, der Solosopran empor und verhedderte sich in einer Haarsträhne, die dem grünen Engel ins Gesicht fiel. Entspannt richtete sich Maria unter dem Einfluss der Musik auf. Sie strich sich die Locke hinters Ohr, und die Rose blätterte neugierig in Marias Gedanken. " ... wieder viele heute, doch es dürfte ...", die Rose schlug eine andere Seite auf, " ... ich sollte noch im "Teufelseck" ..." Gleichgültig verwarf die Rose auch diese Stelle und suchte in Marias Bewusstsein, der Musik folgend, weiter. " ...Warum komponiert heute niemand mehr ..." Die Rose horchte interessiert auf. " ...mich wecken mit einer Melodie, nur für ..." Maria brach die Rose, die in ihrer inneren Welt zu blühen begann, ab und stellte sie in die Vase zurück. Kreischend bohrte sich die Nadel durch die Haut des Patienten und vergebens hielt sich die Rose ihre Ohren zu. Röchelnd kämpfte die ans Bett gefesselte Seele gegen die grüne Flut, bis ihr Wille zum Widerstand verebbte und sie selig ertrank. Die Rose raufte sich stumm ihre Blüte. Gepeinigt riß sie sich ein Blütenblatt heraus. Dann ein zweites, ein drittes. Im schrillen Rhythmus des Taktstockes, den Maria tödlich zu Orffs "Amor Volt andicke" schwang, sank Blatt um Blatt verwelkt zu Boden.
Der Krankenpfleger schob auf einer Bahre den gipsverpackten Paten in den Saal und legte ihn in das letzte freie Bett. Er klebte auf den zahnlos und blutig protestierenden Schlund des Paten ein Pflaster mit den Worten: "Äs is meine Aufgabe, hick, jede Wundä ßu värsorgn!" Der grüne Engel trat an das Bett des Paten. Der Krankenpfleger reichte ihr das Krankenblatt und sagte: "Hick, där is Pissabäcka. Där Dok... der Dok... hick, der Arsd meint, vollständich Vollinwalid oder er schdürbd noch in diese Nacht an änem Blud... hick, -gerinsäl." Maria setzte sich neben die eingegipste Gestalt und setzte die Nadel an. Der Krankenpfleger drehte sich um und ging in den OP zurück.
"Mmmh mmmmh.... Mmmh." Der Pate wälzte sich grunzend in seinem weißen Korsett hin und her. "Mmmh mmmmh.... Mmmh." Das hieß soviel wie: "Maria, ich bin der Pate und privatversichert. Mir steht ein Einzelzimmer zu! Diese besoffene Kreatur hat mich verwechselt. Ich bin nicht der Pizzabäcker." Es konnte natürlich auch bedeuten: "Maria, ich liebe dich. Was soll die Spritze mit dem grünen Zeug! Hilfe! Wo sind meine Knochenbrecher? Wofür bezahle ich euch? Maria! Nein!" Das, vielleicht auch etwas anderes, mochte der Sinn seines sinnlosen Gestammels sein.
Wir wissen es nicht, die Knochenbrecher auch nicht, denn sie bewachten zuverlässig das Einzelzimmer, und Maria interessierte sich nur für Carl Orff. Lächelnd drückte sie die Flüssigkeit durch die Kanüle und setzte den grünen Mechanismus in Gang. Rückwärts und im Schnelldurchlauf begann der Pate alle seine Notenblätter durchzuspielen. Pianissimo und virtuos, bis seine Lider wie ein Klavierdeckel herunterfielen. Im Einzelzimmer des Paten verbrachte dafür der Pizzabäcker gutbewacht von den Knochenbrechern eine geruhsame Nacht und verreckte erst kurz vor dem Morgengrauen an einem billigen Blutgerinnsel. Maria stieß auf dem Flur mit dem Krankenpfleger zusammen, verabschiedete sich von ihm, schaltete den Walkman aus und verließ das Krankenhaus Richtung "Teufelseck". Frierend und hungrig stand zurückgelassen in der Vase die entblätterte Rose. Sie war die einzige Pflanze auf der Welt, die Gedanken lesen konnte, denn sie ernährte sich davon und die gedankenlose Stille des Krankensaales stieß sie in eine tiefe Depression. Langsam schnitt sich die Rose die Pulsadern auf und ihr auslaufendes Blut färbte das Wasser rot.
Das restliche Bier in seinem Glas verschaukelte sich und Leonardo überprüfte die blassen Bläschen auf ihre Vollzähligkeit. Durch die tiefgelegte Membran einer Drei-Wege-Box rappte sich eine inhaftierte Gangsta-Stimme ihren Weg in das weiße, aber freie Kneipenlicht. Lustlos verteidigte Leonardo seinen ungestörten Tresenplatz gegen die immer lästiger werdende Stimme und mit einer lässigen Handbewegung forderte er sie auf weiterzuziehen. Beleidigt wanderte die Stimme weiter, drehte eine Saalrunde und handelte sich auf dem Rückweg in einer fetten Zigarettenwolke einen ausgewachsenen Lungenkrebs ein. Drei Sekunden später erstarb die Stimme an Ort und Stelle, und die CD war zu Ende.
Drei Schritte des Kellners und ein leichter Knopfdruck auf die Anlage verhalfen, sehr zum Mißfallen Leonardos, dem Sänger zur Reinkarnation. Der letzte Bierschluck schäumte blubbernd durch Leonardos Hals. Mit dem Handrücken wischte er sich den Mund trocken und gestand dem Kellner, der hinter dem Tresen die Gläser spülte: "Dieser Abend heute ... Ach, ich weiß es auch nicht!" "Probleme? Wie wäre es mit denen da?" fragte der Kellner und wies grinsend mit dem Kopf zu dem Tisch hin, an dem die drei einzigen Frauen dieses Etablissements saßen. Demonstrativ und mit Reizgas deodoriert. Leonardo schüttelte den Kopf, winkte ab und schob dem Kellner sein leeres Glas zu. Dieser tauchte es ins Wasser und sagte. "Komm, nimm noch ein Bier. Wenn du Glück hast und noch ein bißchen wartest - so langsam, wie du trinkst, dürfte das kein Problem sein - kommt noch ... Hey, du hast Glück! Maria kommt!" "Wer ist Maria?" wollte Leonardo wissen. Die Zunge des Kellners schraubte sich um ihre eigene Achse und schnalzte mit einem Rückwärtssalto in seinen Mund zurück. "Maria? Maria ist wie ...", der Kellner rang verzweifelt mit den Worten. "Sie ist ... ist ein ... ein Gebirgssee. Ja, ein fest zugefrorener Gebirgssee und du siehst, wie unter der klaren Eisscholle ein Flammenwerfer tanzt. Unter dem Eis brennt eine Schicht ab, doch oben läßt der Frost augenblicklich eine neue nachwachsen." Er zupfte sich ein Haar aus der Nase.
"Mit anderen Worten. Keine Chance, mein Lieber!" und wischte sich das Haar an seiner Schürze ab. "Es gibt immer einen, der den Eisbrecher spielt!" widersprach Leonardo gelassen und nahm sein neues Bier in Empfang. "Du etwa? Vergiß es! Wenn du es schaffen solltest, heute abend und hier, geht deine, ach was sag´ ich, geht eure Rechnung auf mich!"
Leonardo akzeptierte die Bedingungen und prostete dem Kellner zu. Maria trat ein. Der Spiegel hinter dem Tresen reflektierte das ungeölte Quietschen der sich schließenden Eingangstür. Wie eine fiebrige Kompaßnadel drehte ein Dutzend männlicher Köpfe sich magnet
sch dem Pol der relativen Unzugänglichkeit entgegen. Mit Mühe unterdrückte Leonardo bei sich selbigen Reflex und verfolgte nur aus den Augenwinkeln das rückwärtige Treiben im Spiegel. Zwölf hechelnde Blicke sprangen an Marias Kleid empor und rutschten wie an einer vereisten Granitwand wieder ab. Zwölf schwanzwedelnde Gedanken liebkosten Marias Locken und verbrannten jämmerlich in einem Flammenwald. Zwölf Seelen, die den grünen Engel auf Knien als ihre Göttin priesen, küßten unterwürfig Marias Schuhe. Zwölfmal verlosch ein Selbstbe
ußtsei
wie die fallengelassene Zigarette, die sie mit ihrem spitzen Absatz achtlos zerdrückte. Der grüne Engel ging zum Tresen, stellte sich neben Leonardo, wahrte einen angemessenen Abstand von einem Meter siebenundachtzig und bestellte einen Drink. Eisgekühlt und mit einer breiten Zitronenschulter baute sich der Tequila vor Maria auf.
Der Kellner wartete ab, bis Maria ihn ausgetrunken hatte, goß nach und räumte das Feld. Nicht ohne Leonardo verstohlen zuzuzwinkern, was soviel bedeutete wie: "Ich laß euch jetzt allein, dreh eine Runde, kümmere mich um die anderen Gäste, säubere die Aschenbecher und stech ein neues Faß an. Deine Chance!" Wortlos standen Leonardo und Maria nebeneinander, und die Drei-Wege-Box wartete verstummt auf den nächsten Titel, der von einem Wackelkontakt aufgehalten wurde. Die Stille blähte sich auf wie ein Luftballon. Doch Leonardo schwieg. Ein verdammt schwieriger Moment. Einen Meter siebenundachtzig entfernt forderten zwei ausgewachsene sündige Momente unter Marias Kleid dazu auf, angesprochen zu werden, und Leonardo mußte sie ignorieren. Ein Wort nur, ein Blick oder eine unruhige Geste reichten einer Frau wie Maria zum Triumph aus. Sie war den Kniefall gewohnt, sie forderte ihn und wurde nie enttäuscht. Bis jetzt.
Der Luftballon erreichte Deckenhöhe und Leonardo riß sich zusammen. Langsam, ganz langsam wechselte die Nervosität die Fronten. Mit jeder Sekunde, in der Leonardo an Sicherheit gewann, steigerte sich Marias Ungeduld. Sie änderte ihre Taktik und musterte Leonardo im Profil. Nicht übertrieben, aber doch spürbar.
Er kostete diesen Moment genüßlich aus und schwieg beharrlich. Wie eine Degenspitze richtete Maria ihren Blick auf Leonardos Hals. Offensiv und die Kapitulation fordernd. Fehlanzeige! Wütend gab Maria auf und öffnete ihre Handtasche. Hektisch kramte sie nach der Zigarettenschachtel und dachte: "Was ist das für ein Schnösel? Ist der Kerl schwul, steht er nicht auf Frauen? ... Kann ich mir andererseits aber nicht vorstellen. Diesen Eindruck macht er mir nicht. ... Ist etwas mit mir nicht in Ordnung?" Maria prüfte unauffällig ihr makelloses Äußeres in einem kleinen Handtaschenspiegel.
"Oh, Gott, wie sehe ich nur aus!" Sie schniefte leise und fand die Zigaretten. Die Zeit sei reif, um die Trumpfkarte zu ziehen, befand Leonardo. Ohne Maria direkt anzuschauen, war ihm eine CD in ihrer Handtasche aufgefallen. Die Schrift auf der Hülle brauchte er nicht zu entziffern. Das Cover kannte er nur zu gut. "In einer wohlsortierten Klassiksammlung darf Beethoven nicht fehlen!" beglückwünschte sich Leonardo und bereitete den Angriff vor. Der Kellner beendete seine Rundreise und verscheuchte hinter dem Tresen mit dem Geschirrhandtuch den Wackelkontakt aus der Musikanlage. Die angestaute Musik brach durch die Box wie ein tosender Wasserfall.
"Mach sofort die Musik leiser!" fuhr der grüne Engel den Kellner an, der den Befehl augenblicklich befolgte. Maria steckte sich eine Zigarette in den Mund und suchte nach ihren Streichhölzern. Vor ihrem Gesicht glomm Leonardos Feuerzeug auf. Überrascht schaute sie ihm ins Gesicht und zündete sich die Zigarette an. Bevor sich Maria mit einer spitzen Bemerkung in der Art wie:"Sie sind ja ein richtiger Kavalier." revanchieren konnte, sprach Leonardo Maria zuvorkommend an. "Könnten Sie den Kellner liebenswürdigerweise zu einem sofortigen Musikwechsel überreden? Sie scheinen hier einigen Einfluß zu besitzen." "So, habe ich hier einigen Einfluß? Kerl, ich werde dich zerschmettern!" dachte Maria und mit der unschuldigen Stimme des Henkers fragte sie laut. "Was würden sie denn vorschlagen?" Über die Lippen des grünen Engels kroch ein skeptisches "Was-kannst-du-Lederjacken-Typ-schon-hören"-Lächeln. "Rachmaninov zum Beispiel oder ... Beethoven. Ja, Beethoven wäre ausgezeichnet." erwiderte Leonardo scheinheilig.
"Beethoven?" echote sie verblüfft. "Ja, Beethoven." wiederholte er.
"Sein Klavierkonzert Nr.5 in Es-Dur ist geradezu unglaublich. Es gibt da eine Stelle im zweiten Satz. Wenn dort der Pianist sanft über die Tasten gleitet, höre ich die Töne nicht mit meinen Ohren, es ist vielmehr ein Empfinden mit ... mit ... mit der Wirbelsäule. Es klingt vielleicht komisch, aber ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben könnte!" "Sie meinen die Stelle, wo im Hintergrund die Hörner leise erklingen?" erkundigte sich Maria und suchte in ihrer Tasche
ach der CD. "Warten Sie, ich habe zufälligerweise eine Aufnahme mit." "Wirklich?" Leonardo spielte vergnügt und gekonnt den Erstaunten. "Hier ist sie!" Triumphierend schwenkte sie die CD, und ihre Augen spiegelten den Glanz der silbernen Scheibe wider. Leonardo nahm Maria die Hülle aus der Hand, und der Kellner legte die CD ein.
"Das gibt es doch gar nicht! Es ist meine Lieblingsaufnahme. Mein Gott, das ist verrückt. Ich stehe hier und denke an nichts Böses und Sie tragen meine Lieblings-CD mit sich herum. Ist das nicht unglaublich?!" Begeistert schaute Leonardo in die Runde und sein schauspielerisches Talent überzeugte ihn fast selbst von seinen Worten. So weit hergeholt war es nun ja auch wieder nicht. Maria und Leonardo rutschten bis auf den vorgeschriebenen Abstand, von dreißig Zentimetern, der verbindlichen DIN- und Europa-Norm für sich kennenlernende Tresen-Paare, zusammen. Ein Unterschreiten zöge zu diesem Zeitpunkt die sofortige Disqualifikation nach sich.
"Sie scheinen ja eine Menge von Musik zu verstehen! Von Klassischer, um es genauer zu formulieren", interessierte sich der grüne Engel.
"Das bringt mein Beruf zwangsläufig so mit sich", bescheiden senkte er den Kopf. Das Bermuda-Dreieck, ein mysteriöser Ort, zeichnete sich unterhalb Marias Taille auf ihrem Kleid ab. "Sie arbeiten doch nicht etwa in der Musikbranche? Sind Sie vielleicht ein Schallplattenhändler?" Spöttisch verbarg Maria ihre Aufgeregtheit. "Nein!" antwortete Leonardo schlicht. "Nein, ich bin nur Komponist!"
Wie ein Feuerwerk explodierten die Locken des grünen Engels, zerlöcherten Beethovens Klavierkonzert, das sich wie ein Kuppeldach über dem Paar spannte, und regneten abgebrannt auf Marias Schultern zurück. Die grauen Zellen in ihrem Kopf färbten sich rosarot, tanzten Ringelreihen, riefen "Schicksal, Schicksal!" und lösten damit in einer hochspezialisierten Gehirnregion Großalarm aus. Eine kleine, aber gut ausgebildete Spezialeinheit der Abteilung KKB, die Abkürzung für "kühlen Kopf bewahren", bildete einen Krisenstab und übernahm die Amtsgeschäfte.
"Ach, erzählen Sie mir doch nichts. Sie fügen doch bestimmt nur wahllos Töne aneinander und geben das als moderne Musik aus. Sie Komponist, Sie! Das kann doch jeder", wehrte Maria ab. "Halten Sie mich etwa für einen Atonalen?" echauffierte sich Leonardo. "Die Sorte schwarzgekleideter Stümper, die ohne den Anflug von Inspiration ihre Machwerke mathematisch zusammenschrauben. Diese Schönberg-Epigonen. Ich meine, der frühe Schönberg in seiner romantischen Phase, ja, das war doch etwas völlig anderes. Das war wirkliche Musik, aus der Gefühle sprachen."
Maria lauschte hingerissen Leonardos wütendem Protest und unter seinem leichten Bass luden sich ihre Nackenhaare elektrisch auf. Am anderen Ende der Kneipe beugte eine chronisch in sich verhedderte Gestalt den Kopf über ihr Glas, und etwas Bier tropfte durch die Zahnlücke wieder dahin zurück. "Laß die Kunststücke! Das ist widerlich!" schnauzte Eisen-Freddy seinen Kumpan an. "Wenn hi
r einer widerlich sein darf, dann ich. Ist das klar?" Seine Zahnlückigkeit nickte, sah zum Tresen hinüber und sagte:
"Ich verstehe das nicht. Ich verstehe es einfach nicht!" "Was verstehst du nicht, du Dummkopf?" erkundigte sich Freddy und massierte sein Eisen. "Die beiden quatschen unentwegt miteinander und mittlerweile berühren sich ihre Nasen fast. Und er küsst sie nicht. Er küsst sie einfach nicht. Siehst du es? Also, ich hätte schon längst ..."
"Was hättest du schon längst?" fragte freundlich Freddy und drohte mit dem Eisen. "Na du weißt schon ..." versuchte sich der Kleine aus der Affäre zu ziehen und seine Zahnlücke lächelte verunsichert.
"Nein, ich weiß es nicht, und du sagst sofort, was du schon hättest oder ich knall dir mein Eisen in die Fresse!" bellte Freddy. Der Kleine spürte die Zwickmühle, in der er klemmte, körperlich. Im "Teufelseck" besaß die alleinigen Rechte an allen Schimpfwörtern und Vulgarismen Eisen-Freddy. Er hatte viel Geld dafür an den Wirt bezahlt und die entsprechende Liste hing neben den Geschäftsbedingungen öffentlich aus. Entweder er antwortete und riskierte eine Tracht Prügel, oder er schwieg und kassierte die Prügel garantiert. "Na, wird’s bald?!" Freddy bog den Arm weit ausholend nach hinten.
"Na, ich hätte ... ich hätte sie schon längst mit nach Hause genommen." wimmerte der Kleine. "Und? Und was hättest du dann? Komm schon, sag es schon!" Freddys Oberkörper spannte sich. "Na, ich hätte sie schon lange ... schon lange ... durchge... durchgefickt!" Es war heraus. Das Eisen in Freddys Hand schnellte nach vorne und der Unterkiefer des Kleinen zerschellte unter der Wucht des Aufpralls in tausend Puzzleteile. Der Kleine kroch auf dem Boden herum, klaubte die Splitter zusammen und sah, wie Leonardo die Kneipe verließ. In der rechten Hand hielt er Maria fest und in seiner Linken stimmte fröhlich eine Flasche Champagner nächtliche Chansons an.
Eng umschlungen und im Tangoschritt alberten Leonardo und Maria die Treppe hoch. Vor seiner Tür presste er sie noch dichter an sich und flüsterte ihr ins Ohr: "Verehrteste, wir stehen vor der Türschwelle meines bescheidenen Heimes. Darf ich Sie um den Schwellenkuß bitten?" "Vielleicht?!" Maria schlang ihre Arme um seinen Hals, und Leonardos Mund berührte ihre Lippen. Er schmeckte das Aroma ihres Lippenstiftes Marke "frisch gefallener Schnee", und verwirrt drifteten seine Augen durch eine schwarze Orientierungslosigkeit, denn soeben hatte sich das Treppenlicht diskret ausgeschaltet. Während der grüne Engel das Licht wieder einschaltete, öffnete Leonardo die Tür. Maria schlüpfte als erste hindurch und betrat das große Zimmer. Leonardo Schloss die Tür, legte seine Jacke ab und hörte Maria jubeln.
"Ein Flügel! Ein richtiger Komponistenflügel!" wahllos schlug sie ein paar Tasten an.
"Um Gottes Willen," stöhnte er, "jetzt fängt sie mir mit dem Komponistenmist an." Eilig folgte Leonardo ihr in das Zimmer, stellte sich hinter sie und sagte: "Lass das!"
Maria drehte sich um.
"Entschuldige! Ich verstehe, den Flügel darf nur der Meister berühren. Spiel mir etwas vor!" bat sie. "Eine von deinen Kompositionen?!" "Das geht leider nicht!" wiegelte Leonardo ab.
"Warum nicht?" schmollte der grüne Engel und flatterte bettelnd mit den Augenlidern. "Es ist viel zu spät. Im Haus schläft schon alles, und so ein Flügel ist verdammt laut. Wir können eine CD hören, wenn du willst."
Leonardo schaltete die Musikanlage ein, und Franz Schuberts Forellenquintett schwamm leise durch das Zimmer. Zusammengefaltet saß Maria auf dem Flügel. Leonardo knabberte sich an ihrem Arm hoch bis zum Hals. Lustlos ließ Maria ihn gewähren. "Ich habe eine bessere Idee," lenkte Leonardo ein, "morgen früh, werde ich dir etwas vorspielen. Meine letzte Komposition. Das neueste vom Neuen. Sie ist so neu, dass ich sie noch gar nicht geschrieben habe. Sie wird heißen ...", Leonardo verrenkte seinen Kopf, als überlege er angespannt. "Sie wird heißen: "Rhapsodie in grünem Moll". Deine Rhapsodie." Er biß Maria leicht in den Hals.
"Meine Inspiration wirst du sein, und dich will ich erklingen lassen." "Eine Komposition nur für mich?" fragte hoffnungsvoll Maria, und dampfend lockerten sich in ihrem Blut die Bremsen des Adrenalinzuges, der, in Bewegung gesetzt, die letzten "Nein!" schreienden Widerstandsnester erbarmungslos überrollte. Maria knöpfte sich ihr ampelgrünes Kleid auf, und ihre Brüste sprengten sich den Weg wie zwei explodierende Airbags frei, die Leonardos zügellosen Aufprall abfederten Außerstande zu antworten, formte Leonardo mit seinen Händen aus der Brust einen gewölbten Resonanzkörper und okkupierte den musischen Mittelpunkt mit der Zunge. Die empfindsame Spitze schwoll unter der hungrigen Phantasie an und wuchs in seinen Mund empor. Mit den Worten:
"Saug jede Note aus mir heraus, Liebster!" sank Marias Rücken auf den Flügel und schwamm gemeinsam mit Schuberts Forellen hin und her. Seine Angel auswerfend, zog Leonardo den Champagner an Land und das Piano grätschte unter der Sektdusche leicht besoffen seine Beine. Obszön rekelte sich der Sekt auf Maria und seine Perlen tätowierten Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung" auf ihren Leib. Beginnend bei den Zehen, robbte Leonardos Mund ihren Körper entlang und inhalierte die aufgeschäumte Haut ein. Er trank Marias Bauchnabel leer. Ein überlaufendes Faß ohne Boden und er klemmte sich leider, bei dem Versuch seine Hose loszuwerden, die Finger im sektiererisch verklebten Reißverschluss ein. Maria schob seinen Kopf zwischen ihre Beine und rieb sich an Leonardos Zunge. Deutlich hörte er Marias flehenden Schoß fragen:
"Spürst du die Musik auf meinen Lippen?" und in seinen Mund floss die "Frühlingssinfonie" wie einsetzendes Schmelzwasser. Der grüne Engel befreite Leonardos Taktstock aus seiner Verpackung, und er dirigierte das Stück zu Ende. Bis in das Morgengrauen schob Leonardo seine Sammlung Scheibe für Scheibe in den CD-Player hinein. Ein bedeutender Höhepunkt der klassischen Musikwelt erklang nach dem anderen. Wieder und immer wieder und jedes Meisterwerk übertönte das Vorherige. Er übernahm die Stelle des Solo-Flötisten in Vivaldis Concerto op. 10 Nr. 3 in D-Dur und peitschend trieb er Maria durch Aram Chatschaturjans "Säbeltanz". Bei Wagner bockte der Flügel und abgeworfen beendeten sie den Walkürenritt unter dem Piano. Die auf der Scheibe Brot verbliebenen Schimmelpilze saßen unverdaut in Leonardos Magen und infolge der heftigen Bewegungen erregt, stiegen sie in die Blutbahn ein. Mit dieser fuhren sie bis in Leonardos Kopf und begannen unter dem Eindruck der Musik, seine Nervenstränge auf das Sensibelste zu verknüpfen. Die Schimmelpilze woben aus seinen Synapsen ein neues und hochkompliziertes neuronales Netz. So wie es Genies nach zwanzig Jahren harten Trainings zu eigen ist. Im beginnenden Schlußchor Beethovens 9. Sinfonie schlug Maria staccatoartig mit den Füßen den Staub aus dem Teppich und schrie: "Ich kann nicht mehr, sonst sterbe ich! Oh, mein Gott, ich sterbe!"
Leonardos Kraft reichte noch für die letzten Takte, und im aufbäumenden Finale knallte sein Kopf mit voller Wucht gegen das Piano. Bewußtlos brach er unter dem guten Stück auf Maria zusammen.
Die Schimmelpilze klatschten sich in die Hände und riefen: "Geschafft!" Natürlich sagten sie das in einer der zahllosen Sprachen des indischen Urwaldes. Alarmierte Agenten der Immunabwehr legten ihnen unbarmherzig die Handschellen an und führten sie ab. Leonardo erwachte. Seine Hand ertastete eine Beule, während er mit seinem großen Zeh auf die Unterseite des Flügels einen mehrstimmigen Satzgesang schrieb. Einfach nur so. Einfach nur so und fehlerfrei. Fehlerfrei und genial. "Whow!" sagte er und bezog die nächtliche Maria mit ein. Er drehte seinen Kopf zur Seite und sah in Marias verrutschtes Gesicht. Eingefroren hockten die Pupillen in ihren verglühten Augen, und Leonardo begriff, was zu begreifen er sich weigerte.
"Komm Mädchen, wach auf!" schüttelte er sie. "Maria, das ist nicht nett." Doch der grüne Engel erwachte nicht. Nackt, wie er war, stolperte Leonardo zum Telefon und rief im Krankenhaus an. Ein besoffener Krankenpfleger nahm am anderen Ende ab und versprach, sich darum zu kümmern. Leonardo kleidete sich an, legte Maria auf den Flügel, bedeckte sie mit ihrem grünen Kleid, setzte sich auf den Hocker und wartete. Seine Finger drückten leicht ein paar Flügeltasten nieder und eine Tonfolge seufzte:
"Inspiriert dich das?" "Ja!" küssten Leonardos Hände zurück. Geschmeidig zuckte die Elfenbeintastatur zusammen und strahlte das "Saug jede Note aus mir heraus, Liebster!" ab wie ein Nachtspeicherofen. Der Resonanzkörper des Flügels erwachte und stimmte die "Rhapsodie in grünem Moll" an. Lucie, die Fliege, heulte ergriffen, und ihre Tränen wuschen das Fenster sauber. Der blaue Herbstsonntag trat erfreut in das Zimmer ein und, die kranke Palme aß sein Sonnenlicht. Die Rhapsodie klopfte gegen die Standuhr, setzte das Pendel wieder in Gang und glich die verlorene Zeit ab.
Heftiges Türklingeln riß Leonardo aus seinem melodiösen Rausch. Benommen öffnete er die Wohnungstür. Ein weißbekittelter Krankenpfleger, gefolgt von einem Unbekannten in feinem Zwirn, trat in seine Wohnung, warf sich den grünen Engel über die Schulter und verschwand. Der Unbekannte schüttelte Leonardo die Hand und sagte.
"Mein Name ist Idecca! E. M. Idecca! Entschuldigen Sie, dass ich so einfach bei Ihnen klingelte. Heute ist Sonntag, außerdem noch Vormittag, und wir haben keinen Termin vereinbart. Jedoch hörte ich, als ich die Straße entlang lief, wie Sie in Ihrer Wohnung Klavier spielten. Ich kenne dieses Stück nicht, obwohl ich Musikproduzent bin. Verraten Sie mir bitte, wie das Stück heißt und wer der Komponist ist! Es ist genial! Reinstes Hitpotential!"
"Mein Gott, nichts besonderes." antwortete Leonardo. "Eine kleine Gelegenheitskomposition der letzten Nacht meinerseits."Der Musikproduzent nahm die unter seinem linken Arm eingeklemmte Zeitung, die laut in das Zimmer schrie: "Der Pate! Tot! Ist die Mafia am Ende?" legte sie als Schreibunterlage auf den Flügel und garnierte sie mit einem Plattenvertrag. "Warum nicht?" dachte Leonardo und unterschrieb. Der Musikproduzent klemmte sich den Vertrag unter den linken und Leonardo unter den rechten Arm, denn im Showgeschäft ist Zeit Geld, und eilte in sein Tonstudio. Eduard, der Holzwurm, und Lucie, die Fliege, zurückgelassen in der Wohnung, heirateten noch am selben Tag und führten ein sinnerfülltes Eheleben. Jeden Sonntag schalteten sie das Radio ein und lauschten andächtig den umjubelten Konzerten, die Leonardo gab. Live, in Stereo und vor einem ausschließlich weiblichen Publikum.
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