Michael hatte lange nicht mehr so ein Unwetter erlebt. Er hatte bis spät gearbeitet und schon auf dem Weg zur Bahn regnete es kräftig. Unterwegs wurde die Bahn immer wieder von kräftigen Böen getroffen und obwohl man im Inneren warm und trocken saß, ließen die Naturgewalten, die an dem Wagon rüttelten, vermuten, was da draußen auf ihn wartete. Aber so wirklich ahnte er nicht, was da auf ihn zukam.
Als Michael an seiner Haltestelle ausstieg, traf ihn der eiskalte, kräftige Wind und hastig zog er sich den Reißverschluss seiner Jacke bis unter das Kinn hoch. Als er jedoch den Bahnhof verließ, geschah etwas, was er so noch nie erlebt hatte. Er bog aus dem Windschatten des Gebäudes raus auf den Gehweg vor dem Bahnhof… und war in dem Moment nass. Nicht irgendwie ein wenig nass. Er war nass bis auf die Unterhose. Es war, als ob jemand nur auf ihn gewartet und eine Badewanne voll mit Wasser über ihn ausgeschüttet hatte. Er war schlagartig nass. Triefend nass.
Michael japste vor Überraschung und Kälte nach Luft und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Er kämpfte sich gegen den Wind durch die Dunkelheit. Die Straßen und Gehwege waren wie leergefegt. Niemand, der einigermaßen bei Verstand war, war unterwegs. Selbst Autos waren nicht zu sehen. Immer wieder musste er regelrecht gegen die Böen ankämpfen, die gefühlt immer von vorn kamen… egal, wie oft er die Richtung auf seinem Heimweg auch ändern musste.
Noch nie hatte er so lange benötigt, um vom Bahnhof zu dem Mehrfamilienhaus zu kommen, in dem er wohnte. In dem Haus gab es vier Wohnungen. Die unteren beiden Wohnungen wurden im Prinzip von einer Familie bewohnt. In der einen Wohnung lebte eine italienische Familie, bestehend aus den Eltern und zwei minderjährigen Mädchen. Die andere Wohnung wurde von deren erwachsenen Sohn mit seiner Frau und einem Baby bewohnt. Michael wusste jedoch, dass die gesamte Familie vor etwas mehr als einer Woche zu einer Familienfeier in der Nähe von Siena nach Italien gefahren war und wohl erst in einer Woche wieder hier sein werden. Die Wohnung direkt neben seiner Wohnung ist erst vor ein paar Wochen von einer jungen Frau bezogen worden. Er hatte sie nur einmal kurz aus dem Fenster gesehen und außer das sie blond war und ehr als curvy – wie es ja neudeutsch heißt – einzustufen war, wusste er nichts von ihr. Irgendwie waren sie sich noch nicht persönlich begegnet.
Michael war 54 und seit 5 Jahren geschieden. Leider hatte er keine Kinder, obwohl er gerne welche gehabt hätte. Er war groß und sah nicht mal schlecht aus, aber wie viele Männer in seinem Alter hatte er einen leichten Bauchansatz. Er hatte mal dunkles Haar gehabt, welche jetzt jedoch schon zu einem großen Teil durch graue Haare ersetzt wurde. Dennoch war sein Haar immer noch voll und immer gut frisiert. Er legte einen gewissen Wert darauf, dass er gepflegt aussah.
Jetzt jedoch lief ihm das Wasser aus dem Haar in den Nacken und unter seine Jacke. Aber das war eigentlich egal, weil er sowieso nass und kalt war. Er stand vor der Haustür zum Treppenhaus und wollte nur noch raus aus den nassen Sachen. Eine warme Dusche und eine Tasse Tee würden ihn schon wieder zu den Lebenden zurückbringen.
Michael griff in seine Jackentasche und… nichts. Er griff in die andere Tasche und… wieder nichts. Immer panischer klopfte er alle möglichen Taschen ab, aber leider ohne Erfolg. Sein Haustürschlüssel war nicht zu finden. Einzig sein Smartphone zog er aus der Außentasche seiner Jacke. Ebenfalls tropfend vor Nässe.
Michael fluchte vor sich hin. Er überlegte fieberhaft, wo er seinen Schlüssel haben könnte und schon nach kurzer Zeit fiel ihm ein, dass er ihn – warum auch immer – am Morgen auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Er war ihm rausgefallen, als er sein Handy aus der Jacke nahm. Statt ihn jedoch gleich wieder einzustecken, hatte er ihn auf den Tisch gelegt.
Michael schimpfte sich selbst einen Idioten und überlegte, was er denn nun machen konnte.
Tim, ein guter Kumpel von ihm, hatte einen Ersatzschlüssel. Er wusste jedoch, dass Tim diese Woche Spätschicht hatte und wohl erst weit nach Mitternacht zuhause sein wird.
Die Martinos waren nicht zuhause und als er sich die Fenster seiner unbekannten Nachbarin ansah, wusste er, dass auch sie nicht zuhause war. Außerdem… was könnte sie schon tun?
Michael entschied sich dafür Tim anzurufen. Vielleicht konnte der früher nach Hause kommen und ihm den Schlüssel bringen. Michael nahm sein Handy und versuchte es zu entsperren. Jedoch gelang ihm das nicht. Er vermutete, dass die Wassermassen auch seinem Smartphone zugesetzt haben. Es war wie verhext. Erst die unfreiwillige Dusche in voller Montur, dann der fehlende Schlüssel und nur das Handy… was konnte denn noch alles schief gehen?
Michael hockte sich so dich wie möglich an die Haustür, damit ihm wenigstens das kleine Vordach ein wenig Schutz vor dem Regen geben konnte, vergrub sein Gesicht in seinen auf den Knien verschränkten Armen und überlegte, was er als beste Option hatte. Als er jedoch plötzlich direkt vor sich einen erschreckten Schrei vernahm, schaute er irritiert auf. Vor ihm stand eine junge Frau und kämpfte mit ihrem Schirm gegen den Wind an. Erschrocken schaute sie zu ihm hinab und versuchte den vom Wind hin und her gerissenen Schirm zwischen sich und Michael zu platzieren.
„Wenn Sie mir etwas antun wollen, werde ich meinen Hund auf Sie hetzen!“ stieß sie mit aufgeregter, aber angenehmer Stimme hervor.
Michael nahm eine Bewegung neben sich wahr und sah, wie ein ebenfalls durchnässter Malteser erst an seinem Bein schnupperte und sich dann kuschelnd direkt neben ihn legte.
„Meinen Sie diesen Hund?“, fragte Michael mit einem leichten Schmunzeln und fing an, den Hund an seinem Kopf zu kraulen.
„Schroeder, du Verräter!“, schimpfte die Frau und musste jedoch ebenfalls schmunzeln.
Michael schaute zu der jungen Frau auf. „Keine Angst mehr, dass ich über Sie herfalle?“, fragte er neugierig.
„Schroeder hat eine viel bessere Menschenkenntnis als ich. Er würde sich nie anfassen lassen, wenn er demjenigen nicht vertraut… und schauen Sie, wie er sich an Sie ankuschelt!“
Die junge Frau hockte sich neben ihren Hund und fing ebenfalls an ihn zu streicheln.
„Warum sitzen Sie hier? Sie haben mich erschreckt!“, fragte sie Michael und schaute ihn an.
Michael erzählte ihr kurz eine Zusammenfassung der abendlichen Ereignisse und als er fertig war, sah er in ihrem Gesicht das Mitgefühl für seine unangenehme Situation.
„Sie sind Herr Bergmann, mein Nachbar!“, stellte die blonde Frau überrascht fest, „Wir sind uns leider noch nicht persönlich begegnet! Mein Name ist Fine, eigentlich Josefine, Hinrichs!“
Ein schönes, offenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Strahlend weiße Zähne blitzten zwischen knallrot geschminkten Lippen hervor und waren selbst in der schwachen Beleuchtung durch die Lampe neben der Haustür nicht zu übersehen.
Beide schauten sich an und mussten lächeln. Es war ein angenehmer Moment. Ein Augenblick der Vertrautheit. Michael spürte, wie ihm, trotz der nassen Kleidung und der Kälte, warm wurde. Beide schauten sich länger an, als es zu erwarten gewesen wäre. Sie hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt und dennoch war da eine Verbindung, die mehr als angenehm war.
Als jedoch plötzlich Michaels Finger beim Streicheln des Hundes über Fines Handrücken streichelte, zuckten beide erschreckt zurück. Einen kurzen Augenblick schauten sich beide in die Augen, bevor sich jeder verlegen wegdrehte.
Fine stand auf und schaute zu Michael hinab.
„Was wollen Sie denn jetzt machen?“, fragte sie mitfühlend.
„Ich habe einen Freund, der einen Ersatzschlüssel hat. Leider hat der heute Spätschicht und wird erst deutlich nach Mitternacht zuhause sein. Ich wollte ihn anrufen, jedoch ist ja mein Handy total abgesoffen.“
„Hier können Sie aber nicht bleiben. Sie holen sich den Tod! Kommen Sie erst einmal zu mir und dann sehen wir weiter!“
Fine holte ihren Schlüssel hervor und öffnete die Haustür. Einladend hielt sie Michael die Tür auf und winkte ihn hinein. Schroeder wetzte an ihm vorbei ins Treppenhaus und stürmte die Treppen hinauf. Fine ging voran und Michael schloss sich ihr an.
Michael stellte fest, dass Fine – trotz ihres doch recht üppigen Körpers – sehr geschmeidig die Treppen hinaufstieg. Schon nach kurzer Zeit ertappte Michael sich selbst, wie er erst ihre Waden betrachtete, dann sein Blick weiter ihre Beine hinauf glitt, um dann letztendlich auf einem großen, aber festen Po hängenzubleiben, der sich unter einer eng sitzenden Jeans abzeichnete.
Michael rief sich selbst zur Ordnung und versuchte sich auf die Stufen der Treppe zu konzentrieren. Dennoch wanderte sein Blick immer wieder Fines Beine hoch und blieb kurz auf ihrem Po haften. Michael wunderte sich über sich selbst. Hätte ihn irgendjemand gefragt, ob Fine sein Typ ist, hätte er wahrscheinlich ohne zu zögern nein gesagt. Aber dennoch stieg er hinter ihr die Treppen rauf und sein Blick blieb immer wieder an strammen Waden, kräftigen Schenkeln und einem runden Po hängen.
Oben an der Haustür angekommen öffnete Fine ihre Tür, schnappte sich ein Handtuch, welches gleich hinter der Tür lag, und rubbelte Schroeder ab, bevor er in die Wohnung durfte. Schroeder biss immer wieder in das Handtuch und schüttelte es hin und her.
Als Schroeder in die Wohnung verschwand, drehte Fine sich um und schaute Michael mit einem frechen Grinsen an und sagte: „So…und nun sind Sie dran!“
Dabei wedelte sie demonstrativ mit dem Handtuch, mit dem sie eben noch Schroeter wirklich überall abgerieben hat.
Irritiert riss Michael die Augen auf. Als er jedoch das charmante Auflachen vernahm, wurde ihm klar, dass Fine ihn ein wenig auf den Arm genommen hatte.
Fine lachte ein offenes und herzliches Lachen und machte eine einladende Geste. „Kommen Sie erst einmal rein!“
Michael zog seine nassen Schuhe vor der Tür aus und betrat die hell und freundlich eingerichtete Wohnung.
„Sie sahen ebenso aus, als ob Sie befürchteten, dass ich mit Schroeters Handtuch anfange, Ihnen die Beine und den Bauch abzureiben.“
„Naja, Sie sahen eben auch sehr entschlossen mit dem Handtuch aus. Da konnte man schon das Fürchten bekommen!“, erwiderte Michael mit einem vorsichtigen Lächeln.
„Ach Herr Bergmann, was halten Sie denn von mir?“, antwortete Fine grinsend. „Ich würde doch nicht SchroedersHandtuch nehmen.“ „Um Sie abzurubbeln, würde ich doch nur ein frisches Handtuch verwenden!“, setzte sie noch eins drauf, „ Gehen Sie doch schon mal vor ins Bad, dort vorn. Ich hole eben ein frisches Handtuch!“
Fine deutete auf das Badezimmer und verschwand in die entgegengesetzte Richtung. Michael schaute ihr etwas irritiert nach und begab sich dann in das Badezimmer, welches groß genug war um sowohl Dusche, als auch Badewanne großzügig unterzubringen.
Michael war gerade dabei, seine Jacke auszuziehen, als Fine mit einem großen Handtuch zurückkam und es auf einen Stuhl neben der Dusche legte.
Schroeder
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