Senf

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Frank Brückner

Schon seit vier Stunden strich Keller durch den Supermarkt. In
seinem Einkaufswagen befanden sich zwei Frankfurter Würstchen von der Wursttheke und eine Packung Kondome. Er wußte, daß irgendetwas nicht stimmte, daß er wohlmöglich noch etwas vergessen hatte, aber er konnte sich nicht erinnern, was es war. Keller war ein hartnäckiger Bursche. Er blieb, schob eisern seinen Wagen durch die Regalgassen und versuchte sich zu erinnern. Kunden kamen und gingen. Die Pfütze klebrig-süßen Federweißers, die entstanden war als eine hektische Taz-Journalistin gegen die geblümte Stofftasche eines Ost-Rentners prallte, war längst aufgewischt. Und auch die Aufregung um den lispelnden Ladendieb hatte sich gelegt.
Keller bemerkte den seltsamen Blick der ferkelförmigen Wurstfachverkäuferin, immer wenn er um die Süßigkeitenecke bog. Er nahm sich eine Alternativroute vor. Für eine weitere Viertelstunde würde er sicher sein, unbehelligt nachdenken können, was ihm denn noch fehle. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Die zwei Würstchen und die Packung mit den Präservativen zogen seinen Blick an. Hatte er eine, nunja, fleischliche Verabredung, heute, am Abend? Dieses Wortspiel gefiel ihm. Er hörte sich kichern und blickte um sich. Eine weiße Kittelspitze verschwand hinter dem Mehlstapel. Seine Handflächen waren plötzlich schweißnaß geworden. Er wischte sie an seiner olivgrünen Breitcordhose ab. Vielleicht würde ihm alles wieder einfallen, wenn er noch eine Runde drehte. Seine Armbanduhr zeigte auf zwölf vor Acht. Der Ladenschluß näherte sich unaufhaltsam. Die Wursttheke war leer. Vor dem Zeitschriftenstand blieb er stehen. Ein Magazin mit einer großbrüstigen Brünetten als Titel bannte seinen Blick. Keller wußte nicht, wie lange er so gestanden und gestarrt hatte, doch irgendwann bemerkte er diesen Geruch. Es roch nach 4711 und Schweinefleisch. Er drehte sich um und hinter ihm stand die ferkelförmige Dame von der Wurst. Rötlich schimmernd wippten ihre Kunstlocken über dem prallen, schmutzig-weißen Kittel. "Hallo, ich heiße Margitta, kann ich Ihnen behilflich sein?", sprach ihr barocker Mund, einen Kopf über ihm. "Nein, ich. Also, haha, ich danke recht schön...", Keller wußte, es war Zeit zu gehen. Aber wohin? Vor ihm stand das riesige Wurstferkel und hinter ihm die Brünette auf Papier. "Sie sind vom Gesundheitsamt, stimmt´s?" Er spürte ihren gewaltigen, warmen Körper langsam auf sich zu kommen. "Gesundheits- ach, haha, woher denn, haha. Seh´ ich etwa aus wie einer vom- also, naja...!" Kellers Hände wurden feucht. "Ich, äh, ich suche lediglich etwas, haha!" Er bemerkte, daß sie unter ihrem Kittel nackt war. Er sah es an den Schatten von Brustwarzen und Schamhaar. "Ich glaube, ich muß jetzt, naja, Sie wissen schon, haha, nach Hause, haha, und Sie, ich meine dieses Geschäft, wird doch bald schließen ..." Ein flüchtiger Blick auf seine Uhr gelang ihm. Es war bereits halb Neun. "Hoppala, haha, jetzt halte ich Sie vom Feierabend ab, haha. Tut mir ehrlich leid, haha..." "Macht nichts, ich leite diesen Laden und habe schon abgeschlossen. Wir beiden sind die letzten hier." "Oh, achso, und ich dachte schon, haha..." Er nestelte an der Griffleiste seines Einkaufswagens. Sogar die Bettelpunks, draußen vor der Scheibe hatten Feierabend gemacht. Keller blickte nun zum ersten Mal in ihre stahlblauen Augen. Sie sah sehr ernst aus. "Und warum schleichen Sie den halben Tag durch unsere Gänge und an meiner Wurst vorbei?" "Ich weiß nicht, also, ich, haha, ich kann mich nicht mehr erinnern, also ich habe vergessen, was ich noch einkaufen wollte..." Er kam sich reichlich dämlich vor. "Na, dann wollen wir doch mal sehen, was wir schon in unserem Wagen haben, nicht wahr?!" Sie nahm die zwei Frankfurter Würstchen in die Hand. "Euch kenn ich doch?!" Ihr Körper verdunstete warme Wolken verdauten Fleisches durch das Kölnisch Wasser. Mit tief gebeugtem Kopf sah sie auf die Kondome herab. "Was haben wir denn da?", flötete sie triumphierend. "Naja, also, haha, wie soll ich sagen, haha, da muß mir wohl jemand einen Streich gespielt haben, haha..." "Also, wenn Sie mich fragen, sieht das ganz nach einer, nunja, fleischlichen Verabredung aus!" Sie blickte ihn tief und forschend an. Keller wurde bleich. Sie hatte seine geheimsten Worte verwandt! Wortgleich. Für Sekunden stand er stocksteif da, dann warf er sich auf das Ferkel und küsste es wie wild. Sie fielen in den Zeitungsstand, der Einkaufswagen kippte um. Im Nu waren sie nackt und wälzten sich auf zwanzig Brünetten und einigen alten Tageszeitungen. Er leckte ihr den Wurstgeruch und das 4711 vom Leib und sie küsste seinen bitter schmeckenden Mund. Dann tastete sie nach den Kondomen, riß die Packung auf und streifte ihm bald mit ihren Wurstfingern erstaunlich gewandt das Gummi über. Nun er war in ihr. Nie hätte er sich vorstellen können irgendwann einmal mit einer ferkelförmigen Dame aus dem Wurstfach derart auf dem Boden seines Supermarktes zu landen. Keller nahm sich dringend vor, ihr später eines seiner beiden Frankfurter Würstchen anzubieten. Nach einer halben Stunde ließ sie keuchend ab von ihm. Auf ihrem rosig glänzenden Rücken klebten, in Farbe und Druckerschwärze, spiegelverkehrt zwei Brünette. "Und ich dachte schon, Sie wären vom Gesundheitsamt und wollten sich über meine Wurst beschweren, haha..." "Ich, haha, nein, also wirklich nicht. Aber ich muß jetzt wirklich gehen!" "Ja, Sie haben recht." Als sie wieder angezogen waren reichte sie ihm eine Zeitschrift mit der Brünetten auf dem Titelbild. "Ich muß hier noch kurz aufräumen." Also dann..." Er gab ihr die Hand und ging in die Dunkelheit hinaus. An der Ecke kam ihm das Würstchen wieder in den Sinn. Er schlenderte zurück, doch die Tür war bereits verschlossen, die Lichter ausgeschaltet. Keller nahm ein Würstchen aus dem dünnen Plastikbeutelchen, hing es an den Türgriff und schrieb mit Kugelschreiber auf den Kassenzettel: "Für Margitta". Dann machte er sich endgültig auf den Heimweg.
Zuhause tunkte er das übriggebliebene Frankfurter Würstchen tief in den extrascharfen Löwensenf, legte die Beine auf seinen Schreibtisch und blätterte genießerisch in der Zeitschrift mit der üppigen Brünetten auf dem Titelbild.

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