Zu jener Zeit waren Frauen weitgehend an den Herd und damit auch untrennbar ans Ehebett gebunden. An den Stall, an die Felder, die es zu bewirtschaften, an die zahlreichen Fruchtbäume, die es im Herbst zu entlasten galt. Selbst in den Städten waren den Frauen nur wenige Freiheiten vergönnt, und es gab eine zumeist gar übergriffige soziale Kontrolle, etwa, wenn ein Nachbar beobachtete, dass sich die Gattin eines Hausbewohners zu lange mit dem Postboten unterhielt. Dann fühlte er sich befugt, dies umgehend dem vermeintlich gehörnten Ehemann mitzuteilen. Dieser wiederum reagierte sich allzu oft am nackten Hintern der Gemahlin ab und fügte ihr blaue Flecken hinzu.
Silke, aus sehr gutem Hause, war eine Ausnahme. Sie nannte sich Charakterforscherin und gab sich damit eine Berufsbezeichnung, die völlig unbekannt war. Weibliche Detektive und Agenten waren damals, wenn auch in hoher Zahl vertreten, undenkbar. Eine Charakterforscherin erst recht. Silke trug ihr Haupt aber sehr hoch, und wenngleich sie über ein warmes Herz verfügte: Sie konnte kalt und abweisend sein, wenn jemand sich ihr in den Weg stellte.
Dann wurde ihr die Kunde zugetragen, dass es gerade in traditionsbehafteten, abgelegenen Schweizer Dörfern Vieles zu erforschen gab, etwa zum Einsatz von Hebammen, denen aufgrund ihres verantwortungsvollen Berufs viel Macht zugestanden wurde, manchmal etwas gar zu viel. Was Silke aber wesentlich mehr interessierte, war, wie die Männer in diesen abgelegenen Enklaven mit ihren Frauen umgingen, denn tief in ihrem Innern war es ihr klar, dass es, falls sich die Gesellschaft als Ganzes jemals weiterentwickeln sollte, nur die Frauen sein konnten, die die Menschheit voranbrachten. Nur sie gebaren schließlich Soldaten, Bauern und Handwerker, nur sie wussten, wie eine Familie im Innersten funktionierte.
Und so begab es sich, dass Silke sich auf den Weg machte. Sie ließ eine luxuriös ausgestattete, wenngleich von außen bescheiden anmutende Kutsche herrichten, vor die Alena, ihre Lieblingsstute, gespannt wurde. Vor dem großen Kristallspiegel machte sie sich zurecht. Silke war eine ausnehmend hübsche Frau, und unter ihrem weißen Hut zwängten sich widerspenstige dunkle Locken in ihre Stirn. Silke trug am Tag ihrer Abreise ein dunkelblaues, hochgeschlossenes Kleid und braune Stiefeletten. Sie signalisierte damit das Äußere einer Frau des gehobenen Mittelstandes, verbarg aber gleichzeitig den großen Reichtum ihrer Eltern. Gegen den Willen ihrer Angehörigen machte sich Silke, die Charakterforscherin, allein auf den Weg, erst planlos, dann ließ sie sich durch Bauern, die ihre Äcker bewirtschafteten, durch den einen oder andern Gastwirt oder durch deren Mägde den Weg weisen, den Weg, der sie letztlich in ein abgelegenes Bündner Dorf führte, tief im Herzen einer Schweiz, die damals noch intensiv nach ihrer Identität suchte, die sie bis heute nicht gefunden hat.
Silke zuliebe
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Silke zuliebe
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schöne Geschichte
schreibt alak87@gmx.de